Zum Inhalt springen

Soziale Spaltung – gespaltene Demokratie – Juniorwahlen

Die soziale Spaltung in Bremen steigt. Ihr entspricht eine Spaltung bei der Wahlbeteiligung. Nach der Bürgerschaftswahl 2015 war zentrales Thema, dass in den armen Quartieren viel weniger gewählt wurde als in den reichen. Die Forscher der Bertelsmann-Stiftung sprechen von „gespaltener Demokratie“ und Wahlen, die „sozial nicht mehr repräsentativ“ sind. Die Altersgruppe mit der höchsten Armutsquote sind jungen Menschen zwischen 16 und 25. Auch hier gilt das Gleiche: Junge Menschen wählen viel seltener als ältere über 50. Dies ist besorgniserregend, weil junge Menschen habitualisieren könnten, dass die eigene Stimme nichts wert ist. Gelernt werden soll anderes. Im Beutelsbacher Konsens, dem „Grundgesetz“ der politischen Bildung, heißt es „Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.“ Einer dieser Wege ist die Nutzung des Wahlrechts. Unstreitig ist, dass diese Erfahrung allen vermittelt werden muss. Die Frage ist wie? Trockenschwimmen reicht nicht.

Gute Erfahrungen mit der Juniorwahl 2011

Für die Nutzung des Wahlrechts gibt es handlungsorientierten Projekte. In Bremen ist die Juniorwahl ist seit 2002 erprobt. Das Land nimmt im Vergleich einen Spitzenplatz ein. Mit dem Wahlalter 16 Jahre bei der Bürgerschaftswahl 2011 war für alle Schulen die Anmeldung zur Juniorwahl eine Selbstverständlichkeit, die von Erfolg gekrönt war: Gegen den Trend stieg die Beteiligung der Erstwähler und war ihr Anteil bei den ungültigen Stimmen am geringsten. Für den Landeswahlleiter war „dieser Erfolg das Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema Wahlen an den weiterführenden Schulen in Bremen und Bremerhaven. Hier ist vor allem das Projekt `Juniorwahl` zu nennen, (bei der)… rund 580 beteiligte Lehrerinnen und Lehrer das Thema `Demokratie und Wahlen` auf den Stundenplan nahmen… Die Aktivitäten an den Schulen (waren) sicher eine wertvolle Investition in die Zukunft“. Wie sich 2015 zeigen sollte, war dies nicht nachhaltig. Viele Schulen meldeten sich nicht zur Juniorwahl an, etwa 2400 angemeldete Schüler/-innen konnten nicht teilnehmen, weil die Anmeldung nicht umgesetzt wurde. Wie kam es dazu?

Geringe Beteiligung 2015

Die Juniorwahl kostet Geld, eben eine „Investition“: Alle werden mit spezifischen Unterrichtsmaterialien, Stimmzetteln, Wahlunterlagen etc. versorgt. 2011 ging der Aufruf der Behörde im Oktober an die Schulen, 2015 sogar erst im Februar, kurz vor der Wahl. Das war viel zu spät. Klar ist, dass viele nicht mehr eingebunden werden konnten, wenn erst am 08.02. 2015 eine „flächendeckende“ Umsetzung der Juniorwahl „ab 7. Klasse aller Schularten“ empfohlen wurde. Was ist daraus geworden? Die Grünen stellten dazu Fragen. “Die Schulsenatorin lobt zwar die Juniorwahl. Aber um genau draufzuschauen, fehlt dem Ressort dann aber doch die nötige Energie.“, überschreibt die taz einen Bericht zur Senatsantwort. Die ist aber nötig:
„Flächendeckend ab Klasse 7“ haben 10 von 109 Bremer Schulen die Juniorwahl durchgeführt. Darunter sind Förderzentren, Oberschulen, gymnasiale Oberstufen (KSA) und Berufsschulen (Metalltechnik). Die Empfehlung ist also nicht weltfremd. Aus der Senatsantwort und dem Weser-Kurier geht hervor, dass 12.000 Schüler/-innen bei der Juniorwahl „wahlberechtigt“ waren, von denen etwa 11.200 ihre Stimmen abgaben (93%). Aber es gibt insgesamt 56.000 Schüler/-innen ab Klasse 7. Es wurden also nur gut 20% erreicht.

Konsequenzen

Ein Vergleich der Zahlen der zur Juniorwahl angemeldeten mit den Schülerzahlen nach Jahr- und Bildungsgängen legt nahe:
1) Jahrgangsstufen: Manche Schulen melden zur Juniorwahl erst ab Klasse 9 an. Aber im wahlberechtigten Alter waren über 70 Achtklässler. Bei einem Wahlalter 16 ist Klasse 9 zu spät. Es ist sinnvoll, der Empfehlung ab Klasse 7 zu folgen.
2) Beteiligte Fächer: Die Juniorwahl wird fast nur dem Fach Politik zugeordnet, das in der GyO aber nur 50% haben. Angesichts der Schwäche der politischen Bildung über das Fach Politik lässt sich das Problem nur lösen, wenn alle Lehrkräfte hier eine Aufgabe sehen; auch bei der Umsetzung der Juniorwahl. Für alle Fächer gilt die Aufgabe der Erziehung zur „Bereitschaft, politische und soziale Verantwortung zu übernehmen“ (Schulgesetz § 5,2.1) und die Handlungsorientierung  „das als richtig und notwendig Erkannte zu tun“ (§5,3.6).
3) Berufsschulen: An den Berufsschulen gab es bei der Juniorwahl 2044 „Wahlberechtigte“. Bei 25.000 Berufsschüler/-innen sind das nur 8%. Diese Juniorwahlberechtigten dürften die vollschulischen Abteilungen besuchen. Trotz Politik in der Stundentafel, vermute ich, dass von den 17.000 Angehörigen des dualen Systems nur ein minimaler Teil das Bremer Wahlrecht handlungsorientiert kennen lernte. Diese Abstinenz ist gravierend, weil sie vor allem der Altersgruppe 20-25 Jahre angehören. Hier lag die Wahlbeteiligung bei 40%.
Die Gewerkschaften können weder die soziale Spaltung noch Wahlen hinnehmen, die sozial nicht mehr repräsentativ sind, weil die armen und jungen Wähler das Wahlrecht nicht kennen und nutzen. Politische Bildung kann das Problem sicher nicht allein lösen, aber ebenso sicher einen Beitrag zur Lösung leisten. Dem muss sich natürlich die Bremer Politik stellen.

Hans-Wolfram Stein
ehemaliger Lehrer f. Politik und Wirtschaft an GSO u.SZ Walliser Straße, Sozialwissenschaftler