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„Lesen gefährdet ihre Dummheit“

„Lesen gefährdet ihre Dummheit“, lautet ein recht junges Sprichwort – doch manche Dinge, wie das phänomenale Ausmaß der Bildungskatastrophe, muss man einfach erlebt haben. Das habe ich.

Als ich im Jahre 2009 meinen Job als Vertretungslehrer an einer Berliner Grundschule antrat, stieg mir beim betreten dieser vielleicht wichtigsten Institution unser freiheitlich demokratischen Gesellschaft zuerst der beißende Gestank alten Urins in die Nase. Der Schmutz knirschte unter meinen Füßen, als ich das baufällige Treppenhaus passierte und schließlich auf zwei Schüler stieß, die mir zum Gruß vor die Füße rotzten. Nach wenigen Tagen in dieser Einrichtung war klar, dass nicht allein die augenscheinliche Inkompetenz der Schulleitung Ursache für den Zustand war, nein: hier funktionierte ungefähr gar nichts. Frustrierte Lehrkräfte trotteten täglich auf ihrem Zahnfleisch in die Klassen – aber nicht etwa um dort Unterricht abzuhalten, sondern um das Schlimmste zu verhindern; um den Kids, die zu allergrößten Teilen aus bildungsfernen Elternhäusern stammten, wenigstens das allernötigste mitzugeben um später einmal ihren Platz in dieser Gesellschaft zu finden. „Herr Möller, Sie können doch rechnen“, wurde ich nach drei Wochen als Assistent der Schulleitung gefragt, „wollen Sie nicht als Mathelehrer bei uns einsteigen?“ Obwohl ich mich jahrelang dagegen gewehrt hatte, in die Fußstapfen meiner Eltern zu treten; obwohl ich Erwachsenenbildung studiert und entsprechend kein Staatsexamen hatte; obwohl mir klar war, was auf mich zukommen würde, ließ ich mich auf das Experiment ein und unterschrieb schon wenige Tage später einen befristeten Arbeitsvertrag als Lehrer.

Was darauf folgte wurde zum Stoff für „Isch geh Schulhof“, meinen tragisch-komischen Erfahrungsbericht, den ich im Anschluss an diese Zeit verfasste. Nur so viel sei hier erwähnt (und das werden viele von Ihnen bestätigen können): meine emotionalen Belastungsgrenzen erweiterten sich so lange, bis ich mich schließlich daran gewöhnt hatte, statt Unterricht eine Mischung aus Schadensbegrenzung und Elendsverwaltung zu betreiben.

Nun gut, mögen Sie sich nun denken – all das ist uns nicht neu. Seit Jahren, Jahrzehnten schlägt sich ein Großteil von ihnen mit der Verschlimmbesserung des Schulwesens herum; viele Verantwortliche haben versucht, die drängenden Probleme der Bildungspolitik zu lösen, die meisten sind gescheitert – und so wird auch mein Beitrag keine Patentrezepte für ein Bildungssystem enthalten, dass auch den weniger Privilegierten Chancen auf ein zufriedenes Leben einräumt. Doch neben dem schallenden Warnruf, als der mein Buch verstanden werden soll, kann ich als Quereinsteiger vielleicht etwas leisten, mit dem viele von Ihnen berufliche Risiken eingehen würden: Ich kann gewaltig auf den Putz hauen! Ich kann meinem Ärger über die Ignoranz der Verantwortlichen freien Lauf lassen, die Bildung gern zum Wahlkampfthema erklären und nach der Wahl die finanziellen Mittel kürzen. Ich kann meiner Wut über die behördliche Borniertheit Ausdruck verleihen, die unser Schulwesen zu einem antiquierten Witz hat verkommen lassen. Als Ex-Brennpunktlehrer und jetziger Autor kann – und muss! – ich lauthals vor der gefährlichen Mischung aus Bildungsarmut und Perspektivlosigkeit warnen, die bei ganzen Kohorten für Frustration, Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft sorgen. Auch verstehe ich es als meine Pflicht, auf den bizarren Umstand hinzuweisen, dass Islamisten und Anti-Muslimisten hartnäckig daran arbeiten, das friedliche und kooperative Miteinander zwischen Menschen verschiedener Kulturkreise zu zerstören. „Türkensau, Schwuchtel, deutsche Schlampe, Judenschwein“: solche Begriffe gehören auf vielen Schulhöfen zum Alltag – das dürfen wir nicht länger tolerieren!

Ebenso muss ich in meiner jetzigen Rolle pikante Fragen stellen: Warum sind die eindeutigen Erkenntnisse der Hirnforschung nicht schon längst in unsere Schulkonzepte eingeflossen? Warum wird die Ausbildung des Schulpersonals nur hinkend an die Realität angepasst – oder gar von ihr entfernt? Warum wird die notwendige Inklusion so stark unterfinanziert, dass sie in der Lage ist, einen nachhaltigen sozialen Flurschaden anzurichten? Warum verharren noch immer so viele Schulen in dem beschränkten System aus 45-Minuten-Rhythmus, Schulnoten und Klassenarbeiten? Längst gibt es die funktionierenden Beispiele nicht mehr nur nördlich der deutschen Grenze, sondern auch mitten unter uns: Lehrer sind zu Lerngastgebern geworden und begleiten Kids auf ihrem Weg, sich diese spannende Welt selbst zu erschließen – unter Berücksichtigung ihrer Vorlieben und Abneigungen, ihrer Stärken und Schwächen und in ihrem Tempo; Schulgebäude werden als „dritter Pädagoge“ eingesetzt; Eltern werden in die Arbeit mit einbezogen, statt – zum Teil berechtigt – als Störvariable zu gelten; in Kooperation mit Politik und Wirtschaft sorgen erfolgreiche Schulleitungen dafür, dass sich alle Beteiligten in den von Ihnen geführten Institutionen wohlfühlen.

Bis dahin ist es zwar ein langer Weg, und scheinbar sind nicht alle Beteiligten bereit, diesen zu beschreiten - doch eines muss uns klar sein: wenn die Bildungskatastrophe nicht zur Sozialkatastrophe werden soll, dann müssen wir pädagogisch und bildungspolitisch endlich in der Realität des 21. Jahrhunderts ankommen.

Der Autor:

  • Philipp Möller, Jahrgang 1980, ist Diplom-Pädagoge und Autor des Sachbuch-Bestsellers „Isch geh Schulhof“, der im Herbst 2012 bei Bastei Lübbe erschien. Er lebt in seiner Heimatstadt Berlin und engagiert sich als Pressereferent der Giordano-Bruno-Stiftung für Humanismus und Aufklärung. Seit 2011 stellt er sein pädagogischen Fähigkeiten auch als Vater unter Beweis.
  • Im Rahmen des Deutschen Humanistentages wird er am 3. Mai in Hamburg einen Vortrag zur Pädagogik des Kindeswohles halten:
    deutscher-humanistentag.de
  • Vom 10. bis 12. Mai nimmt Möller an der kritischen Islamkonferenz in Berlin teil, auf der die Eckpunkte einer transkulturellen Gesellschaft diskutiert werden:
    kritische-islamkonferenz.de
  • Weitere Informationen zum ihm und seinen Aktivitäten finden Sie auf seiner Homepage:
    philippmöller.de