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Inklusion in einem exklusiven Schulsystem?

Bremen an der Spitze – aber wovon? Neuerdings gibt es eine Bildungsstatistik, in der Bremen den Spitzenplatz belegt. Im aktuellen „Datenreport Inklusion“ der Bertelsmann-Stiftung ist zu lesen: „So besucht in den Stadtstaaten mehr als jeder zweite Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf den Gemeinsamen Unterricht. Ganz vorn liegt hier Bremen mit 63,1 Prozent inklusiver Beschulung, gefolgt von Hamburg (54 %), und Berlin (50,6 %). Als einziges Flächenland erreicht Schleswig-Holstein (57,5 %) einen vergleichbar hohen Inklusionsanteil. Den geringsten Inklusionsanteil hat Niedersachsen mit 14,7 Prozent.“ „Gemeinsamer Unterricht“ wird hier als Gradmesser für die Realisierung der Inklusion verwendet. Aber was bedeutet dieses „Gemeinsam“? Wer sitzt mit wem in der Klasse? Die Tabelle im Anhang gibt einen Überblick und zeigt: Ein Drittel aller Bremer SchülerInnen besucht nach dem Ende der Grundschulzeit ein Gymnasium oder eine Privatschule. Der Eindruck, die Oberschule sei in Bremen mit Ausnahme einer relativ kleinen Minderheit die Schule für alle Kinder, ist eine Illusion.

Zwei Säulen – zwei Lernkulturen

2009 haben die Regierungsparteien und die CDU für die nächsten zehn Jahre das Zwei-Säulen-Modell festgeschrieben. Im Schulgesetz wurde explizit verankert, dass es in den zwei Säulen unterschiedliche Lernkulturen gibt: Im Gymnasium homogene Gruppen, die in einem verkürzten Bildungsgang zum Abitur nach 12 Jahren geführt werden, in der Oberschule heterogene Gruppen, in denen binnendifferenziert gearbeitet wird und aus denen heraus unterschiedliche Abschlüsse bis hin zu Abitur nach 13 Jahren erreicht werden können. 2010 folgte dann der Beschluss, die Förderzentren für Lernen, Sprache und Verhalten (LSV) schrittweise aufzulösen und die SchülerInnen, beginnend mit dem 5. Jahrgang, in das allgemeinbildende System zu überführen. In der Realität bedeutete das, sie in die Oberschulen, also in die zweite Säule aufzunehmen. Und das Ganze lief unter der Überschrift „Inklusion“. Aber kann es überhaupt Inklusion in einem selektiven System geben?

Oberschulen unter dem Druck einer doppelten Botschaft

Die GEW befürwortet eine „Schule für Alle“ (also ein System, das sowohl ohne Sonderschule als auch ohne Gymnasium erfolgreich ist). Ein selektives Schulsystem ist dagegen unabhängig vom Einsatz und guten Willen der einzelnen Lehrkraft ein System unterschiedlicher Entwicklungschancen. Es bilden sich aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung unterschiedliche Lernmilieus heraus, und das bleibt nicht ohne Wirkung. Im Bremer Schulgesetz ist das (s.o.) sogar offiziell verankert: Einerseits das Gymnasium, durch die verkürzte Schulzeit unter starken Leistungs- und Anpassungsdruck gesetzt, und daneben die Oberschule mit dem Anspruch, Schule für alle zu sein. In Wirklichkeit repräsentiert diese aber nur einen Teil der Leistungsskala und muss zudem eine Konzentration sozialer und kultureller Probleme auffangen. Aufgrund der stadtweiten „freien Schulwahl“ konkurriert sie mit den Gymnasien um leistungsstarke SchülerInnen. Dabei steht sie unter dem Damoklesschwert, nach dem Ende des zehnjährigen „Schulfriedens“ als nicht konkurrenzfähig eingestuft zu werden. Für die Lehrkräfte in der Oberschule bedeutet das eine ständige doppelte Botschaft: Du sollst mit dem Gymnasium konkurrieren und du sollst eine inklusive Schule gestalten. Und doppelte Botschaften verwirren, sind schwer auszuhalten und lähmen die Produktivität.

Die Grenzen des „Bremer Modells“

Die GEW hat bisher zu wenig deutlich gemacht, dass die in Bremen (und auch in anderen Bundesländern) begonnene Integration der LSV-SchülerInnen in die zweite Säule nicht identisch mit der von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderten Inklusion ist. Diese „Teil-Inklusion“ in den Oberschulen war und bleibt problematisch und wird umso schwieriger, je mehr leistungsstarke SchülerInnen dem Prozess durch das Gymnasium entzogen werden. Vor übertriebenen Erwartungen an die Ergebnisse ist zu warnen. Wenn dies nicht der Öffentlichkeit bewusst wird, dann werden beim Auftreten größerer Probleme entweder die Oberschulen für die unbefriedigenden Ergebnisse verantwortlich gemacht oder die Inklusion wird generell für undurchführbar erklärt

Die Frage nach dem Ressourcenbedarf

Die Bremer Schulpolitik hat mit der Reduzierung der Inklusion auf die zweite Säule des Systems Strukturen mit zum Teil sehr schwierigen Lernmilieus geschaffen. Sie muss – soll dies nicht in ein Desaster führen - ausreichende Förderkapazitäten bereitstellen, um in den schwierigen Milieus erfolgreich arbeiten zu können.
Vor dem Beschluss, die Förderzentren LSV aufzulösen, hatte die Bremer Bildungsbehörde 2008 bei den Professoren Klemm und Preuß-Lausitz eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, in der zur Frage der Ressourcen Stellung bezogen wurde. Die Autoren hatten den sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich LSV für die Startphase ab 2010 mit 2,9 und für die Ausbauphase ab 2015 mit 3,5 Lehrerwochenstunden für 4,5% aller SchülerInnen geschätzt. Diese Schätzung erfolgte nach den eigenen Worten „pragmatisch, also politisch“ (S. 27). Im internationalen Vergleich stellten die Autoren fest, dass die sonderpädagogischen Förderquoten zwischen 18% (Finnland) und 2% (Italien) differierten. Zur Frage der notwendigen Förderkapazitäten in der zweiten Säule eines Systems, in dem die erste Säule keine LSV-SchülerInnen aufnimmt, äußerten sie sich in der Bremer Studie nicht.

Die festgelegten Standards werden nicht eingehalten

Die Bremer Bildungsbehörde hat 2010 zu Beginn des Prozesses Parameter für die Oberschulen festgelegt, die sich scheinbar an die Schätzung von Klemm/Preuß-Lausitz anlehnten. Den Schulen sollten pro Kind mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich LSV drei Lehrerwochenstunden Sonderpädagogik zugewiesen werden. Die Frequenz in den sog. Inklusionsklassen wurde auf 22 festgelegt, wobei nicht mehr als fünf Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in einer Klasse sein sollten.
Selbst diese Parameter werden heute – im vierten Jahr des Prozesses – in vielen Fällen nicht mehr eingehalten, wie eine Umfrage des Personalrats Schulen kürzlich zeigte: Oft fehlt eine sonderpädagogische Lehrkraft, weil die Stelle aktuell nicht besetzt werden kann oder keine Krankheitsvertretung vorhanden ist, oft wird die Frequenz von 22 überschritten und die Höchstzahl von fünf Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht eingehalten.
Der in der Studie von Klemm/Preuß-Lausitz für notwendig erachtete nächste Schritt, nach der Startphase in einer Ausbauphase (ab 2015) 3,5 Lehrerwochenstunden pro SchülerIn zur Verfügung zu stellen, ist in weite Ferne gerückt.

Der Bedarf ist weit höher

Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, ob der von den Autoren geschätzte Durchschnittswert für die Lernmilieus in der „zweiten Säule“ überhaupt angewendet werden kann. Berücksichtigt man, dass die Gymnasien keine SchülerInnen mit dem Förderbedarf LSV aufnehmen, so liegt – akzeptiert man die Schätzung von Klemm/Preuß-Lausitz - die Quote in den Oberschulen nicht bei 4,5%, sondern bei 6%. Und dies nur unter Berücksichtigung des staatlichen Schulbereichs. Berücksichtigt man zusätzlich, dass auch in den Privatschulen relativ wenige LSV-SchülerInnen sind, so liegt die Quote in den Oberschulen bei ca. 7%.
In einer Oberschule mit einer Jahrgangsbreite von 100 SchülerInnen erfordert eine solche Quote in der Ausbaustufe (also mit 3,5 Stunden pro SchülerIn im nächsten Schuljahr), folgt man Klemm/Preuß-Lausitz, 24 Stunden an sonderpädagogischem Förderbedarf pro Jahrgang. Nimmt man hinzu, dass die SonderpädagogInnen neben der Förderung auch noch zahlreiche diagnostische Aufgaben haben, so ist der tatsächliche Bedarf mit einer ganzen Stelle (27 Stunden) pro Jahrgang nicht zu hoch veranschlagt. (Diese Ausstattung hatte der Gewerkschaftstag der GEW Bremen 2010 anlässlich der Einführung gefordert.) Und in einer Schule im sozialen Brennpunkt wird der Bedarf noch höher liegen.

Die Fehler in der Vorbereitung

Neben diesen Ausstattungsdefiziten wirken sich jetzt die Fehler der Vergangenheit immer stärker aus:

  • Geradezu absurd wirkt es nachträglich, dass die Universität Bremen drei Jahre vor Beginn des Prozesses den Studiengang Behindertenpädagogik geschlossen hat. Er wurde von der Universitätsleitung angesichts der Kürzungsvorgaben des Senats geopfert, ohne dass der Senator für Bildung intervenierte. Heute wird händeringend nach ausgebildeten SonderpädagogInnen gesucht. Dieser Vorgang zeigt das Fehlen jeglicher langfristiger Bildungsplanung.
  • Versuche der nachträglichen Korrektur sind bisher bei Halbheiten stehen geblieben: Das neu eingeführte Studienfach Inklusive Pädagogik gibt es bisher nur für den Primarbereich. Außerdem bleibt abzuwarten, ob die im alten Studiengang Behindertenpädagogik erworbenen hohen diagnostischen Kompetenzen auch in diesem neuen Studienfach erworben werden können.
    Die „Weiterbildung Inklusive Pädagogik“ für Lehrkräfte aus dem allgemeinbildenden System, die die entstandene Lücke ausgleichen sollte, wurde im Streit um die Finanzierung zuerst hinausgeschoben und dann mit so geringen Stundenbefreiungen ausgestattet, dass jetzt nicht alle Plätze belegt sind.
  • Der Hinweis des Landesrechnungshofes, dass im Bildungshaushalt ca. 20 Mio. € jährlich fehlen, um die versprochenen Parameter für Inklusion und Oberschul-Entwicklung einzuhalten, wurde vom Senat ignoriert.
  • Die ganze Art der Einführung des Prozesses war von kurzfristiger politischer Hektik geprägt: Weder wurden die Oberschul-Kollegien in Fortbildungen auf die neuen Aufgaben vorbereitet, noch wurde eine wissenschaftliche Begleitung eingerichtet, was bei dem Umfang der Maßnahme kaum zu glauben ist.


Es ist fünf vor zwölf, wenn nicht schon später

Die Bildungssenatorin, die diese Art der Einführung der „Teil-Inklusion“ zu verantworten hat, ist inzwischen zurückgetreten, die Behördenspitze ist neu besetzt. Einige Korrekturmaßnahmen wurden eingeleitet. So wurde mit der zwischenzeitlich stornierten „Weiterbildung Inklusive Pädagogik“ endlich begonnen. Aber angesichts der aufgelaufenen Probleme reichen diese Korrekturen nicht. Die meisten Oberschulen haben die LSV-SchülerInnen erst im fünften bis siebten Jahrgang integriert, drei weitere Jahre stehen bevor. Und in diesen drei Jahren wird eine ausreichende Anzahl von ausgebildeten SonderpädagogInnen kaum zur Verfügung stehen. Die Lehrkräfte, die in dieser Zeit fast ohne sonderpädagogische Unterstützung Klassen übernehmen, brauchen umfangreiche Stundenentlastungen und drastische Frequenzsenkungen, um sich während der Arbeit fortbilden zu können und den notwendigen binnendifferenzierten Unterricht zu planen und durchzuführen. Außerdem muss die Weiterbildung Inklusive Pädagogik besser mit Stunden ausgestattet und das entsprechende Studienfach für die Oberschule eingerichtet werden.
Aufgrund der Haushaltsbeschlüsse des Senats fehlt aber bisher jeglicher finanzielle Spielraum, um den Mangel zu kompensieren. Soll der Prozess nicht in einem pädagogischen und schulorganisatorischen Chaos enden, muss die Bildungssenatorin die Notbremse ziehen. Sie muss auf Grundlage des Rechnungshofberichtes einen 20-Mio-Nachtragshaushalt zur Realisierung des Inklusionsmodells fordern. Und selbst mit einem solchen jährlichen Nachtragshaushalt wird es extrem schwierig werden, den begonnenen Prozess halbwegs erfolgreich weiter zu führen.

SchülerInnen im 5. Jahrgang, Schuljahr 2013/14 - Stadtgemeinde Bremen

 

 

Absolute Zahl

Anteile in %
Oberschulen275564,5
Gymnasien97422,8
Privatschulen54112,7
Summe4270100


Anmerkung: Betrachtet man allein die öffentlichen
Schulen, so entfallen 73,9% auf die Oberschule und
26,1% auf das Gymnasium