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Tarifrunde IG Metall

„In den Hallen haben sich über 80% für die freie Zeit entschieden“

Interview mit Volker Stahmann, Geschäftsführer der IG Metall Bremen, über die Ergebnisse der letzten Tarifrunde

BLZ: Die IG Metall hat früher eine Vorreiterrolle im Kampf um Arbeitszeitverkürzung gespielt. Nach der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche hat sie lange Zeit den Schwerpunkt in den Tarifrunden auf Einkommensverbesserungen gelegt. In der letzten Tarifrunde hat sie nun auch die Arbeitszeit wieder zum Thema gemacht. Was waren die Gründe dafür?

Volker Stahmann: Nach der Umsetzung der 35-Stunden-Woche war das Thema Arbeitszeit tatsächlich bei uns etwas in den Hintergrund getreten. Wir haben dann vor einiger Zeit zwei große Beschäftigten-Befragungen in allen Branchen durchgeführt, die letzte hatte 680000 Rückläufer. Diese Umfragen haben zum Thema Arbeitszeit zwei klare Schwerpunkte gesetzt:

  • Erstens ist es eine Tatsache, dass die 35-Stunden-Woche  ausgehöhlt wird. Die Arbeitszeitmodelle und Vereinbarungen in den Betrieben sind unter der Überschrift „Flexibilität“ so gestaltet, dass die Kolleg*innen länger arbeiten und es oft nicht bezahlt bekommen. Das Stichwort dazu ist „Vertrauensarbeitszeit“.
  • Zweitens gibt es  in großem Umfang Mehrarbeit, sowohl bezahlt als auch unbezahlt. Eine Erkenntnis aus der Befragung war auch, dass die Beschäftigten kein Problem mit der Flexibilität haben. Nur ganz wenige wünschen starre Arbeitszeiten.
    Aber die Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein. Die Belange der Beschäftigten müssen dabei berücksichtigt werden. Und es gab in der Umfrage auch keine Stimmung für eine weitere Wochenarbeitszeit-Verkürzung, weil die Menschen sie für unrealistisch gehalten haben. Diese Forderung wäre für uns in den Betrieben nicht mobilisierungsfähig.

Mit welchen Forderungen seid ihr in die Tarifrunde gegangen?

Wir haben gefordert, dass wir ein Wahlrecht für eine eigenständige Flexibilisierung einführen. Das bedeutet, dass die Beschäftigten zwischen Geld oder freier Zeit wählen können. Und wir haben jetzt in einem zweijährigen Tarifvertrag vereinbart, dass die Tariferhöhung im zweiten Jahr gesammelt und zu einem festen Zeitpunkt ausgezahlt wird. Das führt dazu, dass 2019 jeder Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie 27,5% seines Monatsentgeltes – also das gesamte Jahresvolumen der Tariferhöhung - Ende Juli ausbezahlt bekommt. Wir haben diese Bündelung auf den Juli im Hinblick auf die Wahlmöglichkeit zwischen Geld oder Zeit vereinbart. Wer sich für freie Zeit entscheidet, kann diese wählen, wer sich für das Geld entscheidet, bekommt es mit der Juliabrechnung. Das ist dann ein dritter Monat mit einer Einmalzahlung. Im Vorjahr muss bis Ende Oktober der Anspruch auf freie Zeit angemeldet werden. Die 27,5% Gehalt sind in Zeit umgerechnet sechs Tage. Dazu gibt es zwei Tage „on top“. Das Wahlrecht hat jeder Beschäftigte mit einer Anspruchsberechtigung. Diese ergibt sich bei einer bestimmten Anzahl von Jahren im Schichtdienst, bei kleineren Kindern unter 8 Jahren und bei Pflege.  Das Modell nennt sich T-Zug. Im Unterschied zur Altersteilzeit dürfen mehr als 4% der Beschäftigten eines Betriebes gleichzeitig ihren individuellen Anspruch anmelden.

Während der Tarifrunde wurde in der Presse viel über die Forderung nach einer 28-Stunden-Woche geschrieben. Der Arbeitgeberverband Nordmetall nannte das Anfang März 2018 „eine fast unüberwindbare Hürde.“

Das zweite, was wir in der Tarifrunde gefordert haben, ist die sogenannte Verkürzte Vollzeit. Viele Arbeitnehmer sind in der „Teilzeitfalle“. Wir haben gesagt:

Es muss einen individuellen Anspruch auf Verkürzung geben, mit einem Rückkehrrecht auf Vollzeit.

Die Beschäftigten mit dem gleichen Anspruchsrecht wie beim T-Zug haben die Möglichkeit ihre Arbeitszeit auf bis zu 28 Wochenstunden abzusenken. Dieses Modell funktioniert so, dass die individuelle Vereinbarung je nach Wunsch des Beschäftigten für 6 bis 24 Monate befristet ist. Anschließend ist man wieder auf Vollzeit. Weiter Vereinbarungen, auch mit anderen Zeiträumen (max. 24 Monate) sind praktisch unbegrenzt möglich.

Gibt es einen Lohnausgleich?

Wenn ich in verkürzter Vollzeit arbeite, dann reduziert sich auch entsprechend mein Einkommen.

Was konntet ihr nicht durchsetzen?

Wir wollten das Anspruchsrecht für alle erreichen, das haben wir nicht durchgesetzt. Und wir hatte uns eigentlich mehr als acht Tage Wahlrecht vorgestellt. Bei der Verkürzten Vollzeit haben wir eine „Soziale Komponente" in Höhe von 200,-€ monatlich gefordert, damit konnten wir uns nicht durchsetzen. Auch beim 28-Stunden-Modell ist natürlich der Bedarf vieler Kollegen mit 20-Stunden-Verträgen oder 25-Stunden-Verträge nicht erfasst.

Wie werden die Modelle in den Betrieben angenommen?

Die Anträge mussten ja bis zum 31. Oktober 2018 gestellt werden. Es gibt bei einigen Kollegen Schwierigkeiten mit der Frage, ob sie das Wahlrecht haben oder nicht. Das T-Zug-Modell wird sehr stark angenommen. Bei Daimler in Bremen arbeiten ca. 13000 Beschäftigte, davon ca. 8000-9000 in der Produktion oder in produktionsnahen Bereichen. Und wir haben 4390 Anträge. Diese große Zahl hat auch uns überrascht. Sie zeigt, dass gerade in den taktgebundenen Arbeitsplätzen die Abwesenheit von der Belastung einen riesengroßen Stellenwert hat. In den Hallen haben sich über 80% der Beschäftigten für die freie Zeit entschieden. Die Verkürzte Vollzeit ist dagegen wenig in Anspruch genommen worden. Das hat u.a. einen Grund im Kompromiss des Tarifvertrages: Man kann nicht aus der Teilzeit heraus in die Verkürzte Vollzeit wechseln. Man muss sechs Monate vorher die Absicht ankündigen und muss davor sechs Monate in Vollzeit gearbeitet haben. In der Summe ist das ein Jahr in Vollzeit. Darüber gibt es sehr viel Unmut. Es gibt im Tarifvertrag eine Öffnungsklausel, die es den Betriebsparteien – Unternehmensleitung und Betriebsrat – ermöglicht, das Anspruchsmodell auszudehnen. Aber viele Betriebe beschränken sich auf den Wortlaut des Tarifvertrages.

Zum Schluss noch eine Frage zur Perspektive: Mit dem Einzug von künstlicher Intelligenz in die Produktion wird die Arbeitsproduktivität weiter steigen. Und der Absatzmarkt wird sich nicht entsprechend vergrößern, er ist für deutsche Betriebe schon heute extrem ausgeweitet. Damit wird das Arbeitsvolumen zurückgehen. Und dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Arbeitszeitverkürzung oder Erhöhung der Arbeitslosigkeit.

Das Ergebnis unserer Befragungen ist höchst widersprüchlich. Zum einen gibt es keine Mehrheit für eine Wochenarbeitszeitverkürzung, zum anderen wählen sehr viele die acht freien Tage. Da muss es einen Zusammenhang geben. Wir interpretieren dieses Ergebnis so, dass die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von den Beschäftigten ausgeklammert wird, weil sie sie angesichts der ständigen Ausdehnung der Arbeitszeiten für unmöglich halten. Das hat natürlich auch etwas mit dem gegenwärtigen Arbeitsmarkt zu tun. Die gesellschaftspolitische Debatte um Arbeitszeitverkürzung stellt sich anders, wenn die Chancen auf einen Wechsel des Arbeitsplatzes nicht vorhanden sind. Und wir haben jetzt in den Betrieben überwiegend eine Generation, die den Kampf um die 35-Stunden-Woche nicht miterlebt hat.

Vielen Dank!

Die Fragen stellte Jürgen Burger