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Ideologie in den russischen Schulen

Ein komplexer Sachverhalt

Wenn der älteren Generation der russischen und anderer postsowjetischen Gesellschaften die Frage nach Nostalgie gestellt wird, werden als wichtigste Errungenschaften des realsozialistischen Systems gute Schulbildung und Internationalismus genannt. Den Unterschied des Bildungswesens zu damals kann man auch in Russland im Zusammenhang mit den sich absondernden Nationalismen sehr deutlich beobachten.

Die ersten sogenannten Jelzin-Jahre (1990er) waren von der überwältigenden Hoffnung auf eine schnelle Anpassung an den Westen gekennzeichnet. Die russischen Bürger und Eliten glaubten an die rasche Übernahme des westlichen Staatsmodells samt Wirtschaft, Bildung und Armee. Heute klingt es unvorstellbar, aber der erste russische Vizepräsident, Ruzkoj, befürwortete öffentlich Russlands Mitgliedschaft in der Nato.

Die Enttäuschung über den Westen war umso größer, als dem kleinen Mann und der kleinen Frau klar wurde, dass die Prozesse länger dauern würden und die politischen Wahrnehmungen sowohl in Russland, wie auch in den Nachfolgerstaaten der UdSSR und denen des Westens nicht deckungsgleich waren. Die Enttäuschung durch den Westen schlug sich in dem Glauben nieder, dass nicht der Sozialismus, sondern Russlands Größe und Anderssein vom Westen abgelehnt würden. Die Putin-Jahre begannen mit der modifizierten sowjetischen Hymne und mit verbalen Hinweisen auf die glorreiche Vergangenheit. Als der russischen Bereitschaft, den USA und Westeuropa in den globalen Konflikten behilflich zu sein, keine Resonanz beschieden war, wurden mehr und mehr nationalistische Töne angeschlagen. Heute, nach den Ereignissen in der Ukraine, in Syrien und nach dem Dopingskandal mit der russischen Olympiamannschaft, ist eine merkwürdige ideologische Situation in Russland entstanden. Mit einer Radikalität, die der russischen Gesellschaft nicht fremd ist, wird der Westen (vor allem die US-Amerikaner, aber auch die Deutschen) als ewiger Widersacher betrachtet, der Russland kurzfristig schwächen und langfristig zerstören will.

Ideologische Prämissen im Bildungswesen

Die zahlenmäßig kleine prowestlich-liberale Elite der 1990er Jahre spielt immer noch eine wichtige Rolle in den geisteswissenschaftlichen Forschungen und bei der Erstellung der schulischen Lehrpläne. Diese Leute, im Allgemeinen als Liberale bezeichnet (bzw. angefeindet), sind auch in der Medienlandschaft und in den Ministerien aktiv und sichtbar. Wohl gemerkt, trotz ihrer abnehmenden Basis in der Bevölkerung. Der Großteil der Ideologen ist dagegen entweder großrussisch-nationalistisch, orthodox-religiös oder, wie im Falle der muslimisch geprägten Regionen, islamistisch und nationalistisch (wie beispielsweise in Tschetschenien oder Tatarstan) motiviert. Die wirtschaftliche Realität in Russland zwingt jedoch viele Menschen, ihr Leben außerhalb der dominierenden Ideologien zu gestalten. So entsteht eine paradoxe Situation: Obgleich die offiziellen Medien für eine einheitliche Staatsideologie plädieren, bleibt die Schule relativ entideologisiert. Dabei fallen hier die sowjetisch erzogenen Lehrkräfte, die weder religiös-nationalistische noch prowestliche Tendenzen gut finden, ins Gewicht. Die Schülerinnen und Schüler (freundlich von den Eltern begleitet) aber konsumieren das Wissen als pragmatische Voraussetzung für ihre Karriere, ohne sich dabei ideologisch festzulegen.

Nationales Selbstbewusstsein

Es gibt viele Umfragen unter den Studenten, die zeigen, dass sie sich an die Inhalte der Literatur- und Geschichtsschulbücher nicht mehr erinnern können. Die propagierte „geistige Bindung“ (neurussischer Begriff “duchovnaja skrepa“), die die Russische Orthodoxe Kirche als Bindeglied aller staatlichen Traditionen festmacht, geht an vielen jungen Leute völlig vorbei. Die angeredete Staatsideologie, d.h. die sozialen Kenntnisse und Ideensammlungen, die bestimmten Klassen zugute kommen und die die Kirche in den Mittelpunkt stellen, erweist sich als wenig tauglich für die russische Gesellschaft, die im gewissen Sinne ideologieimmun geworden ist. Infolgedessen sind die Versuche des Staatsapparats, ihre Interessen als gesamtrussisch zu demonstrieren, weitgehend erfolglos.

Dieses Ergebnis ist nachvollziehbar und beweist, wie schwach die gewünschte Bindung (“skrepa“) zwischen der korrumpierten wirtschaftlich-politischen Elite und der Bevölkerung ist. Dies darf aber nicht so interpretiert werden, als ob das russische nationale Selbstbewusstsein ohnmächtig wäre. In den entscheidenden Momenten, wenn Gefahr für die Staatlichkeit besteht, agieren die verfeindeten Schichten vereint gegen die Gefährdung von außen. So war es in den Napoleonischen Kriegen, im Zweiten Weltkrieg und ist es auch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Westen. Es geht lediglich darum, dass die russische Gesellschaft, aus bitterer Erfahrung, keinem übergeordneten ideologischen Rahmen mehr traut.

Kulturelle Konstanten

Abgesehen von einer gewissen Unzuverlässigkeit aller soziologischen Umfragen, kann man die verbreitete Zustimmung der Russen zu Putins Politik (mehr als 80 Prozent), zu ihrer orthodox-christlichen Identität (77 Prozent) und zur Rechtfertigung von Stalins Herrschaft (etwa 50 Prozent) als eine Beipflichtung zum Staat interpretieren. Putin, die Kirche oder Stalin sind nichts anderes als Symbole des Vorhandenseins Russlands. Und das trotz aller ideologischen Injektionen, die gegensätzlicher nicht sein könnten (Religion-Kommunismus-Liberalnationalismus). Hier wächst in der Gesellschaft eine interessante Meinung heran, nämlich die, dass die Geschichte des zaristischen, des sozialistischen und des heutigen Russland über eine Kontinuität verfüge. Und die russischen Schulbücher folgen diesem Bild. Die Oktoberrevolution wird nicht ausschließlich positiv betrachtet, aber ihre Folgen und Repressalien werden nicht akzentuiert. Die Monumente von Iwan dem Schrecklichen wurden genauso errichtet wie die Denkmäler für die Opfer von Stalins Terror. Die Ermordung der polnischen Offiziere in Katyn wird anerkannt. Gleichzeitig wird seit 2005 am 4. November “Der Tag der Einheit des Volkes“ als Nationalfeiertag wieder eingeführt, dessen Anlass die 1612 erfolgte Befreiung Russlands von der polnisch-litauischen Besetzung ist.

Das Wahlfach “Grundlagen der Orthodoxen Kultur und die Säkulare Ethik“ in den russischen Provinzen wird in den Großstädten als “Grundlagen der Weltreligionen“ und in den nationalen Regionen als “Grundlagen der traditionellen Religionen Russlands“ (Christentum, Islam, Buddhismus und Judaismus) bezeichnet. Hier geht es wiederum nicht um eine organisierte Differenzierung, sondern um die verselbstständigten Prozesse der Legitimation des russischen Staates in der historischen Perspektive.

Wunsch nach innerem Frieden

Genauso verhält es sich bei den klassischen Schriftstellern. Dostojewski, der bis zum Ende seines Lebens nicht entscheiden konnte, ob es Gott gibt oder nicht; Tolstoi, der von der Kirche exkommuniziert wurde, und sogar Lermontov, der religionskritisch war, werden in den Unterrichten als kulturelle Christen charakterisiert, ohne ihre Konflikte mit der Kirche groß zu thematisieren.

Solche Kompromisse spiegeln nicht nur den Wunsch nach innerem Frieden wider, sondern auch eine komplexe Schülerschaft. Die föderale Gliederung Russlands beinhaltet auch die ethnisch nicht-russischen Regionen (etwa wie Bundesländer): 22 Teilrepubliken, vier autonome Kreise und ein autonomes Gebiet. Dazu kommt die Tatsache, dass Russland nach den Vereinigten Staaten das zweitgrößte Zielland von Migranten weltweit ist. In vielen Schulen der Großstädte und ihrer Vorstädte sind die einheimischen Kinder in der Minderheit, was eine gewisse ideologische Flexibilität der örtlichen Lehrkräfte und Behörden verlangt. Dabei greifen die Lehrkräfte auf die sowjetischen Erfahrungen zurück, als in den Schulen den Kindern, die bis dahin kein Russisch sprachen, die russische Sprache erfolgreich beigebracht wurde.

Abschließend kann man sagen, dass der ideologische und praktische Rahmen in den Schulen Russlands eher von den vielfältigen Gesellschaftsstrukturen in den Regionen als von dem Staat gesetzt werden. Die seit Jahrhunderten existierende geistige Trennlinie zwischen dem Staat (sprich seinen Eliten) und den Einwohnern ist nicht verschwunden. Diese Konstellation macht das Schulwesen beweglich und verhindert eine einheitliche Staatsideologie auf dem gesamten Staatsgebiet. Der gemeinsame Nenner allerdings bleibt ein großes und starkes Russland und die mächtige Position der russischen Sprache und Literatur.