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Hintergrund: Die Krise der EU

1. Deutschlands Rolle im Euro-Raum

Umverteilung und Schuldenbremse
Wieso sind die Länder und Gemeinden finanziell so klamm, dass sie dauernd vom Sparen reden? Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung, ganz besonders nach der Vereinigung, ist die neoliberale Wirtschaftspolitik, die besagt, dass der Staat sich aus der Wirtschaft (als Unternehmer) zurückziehen soll. Dies wurde durch Privatisierung staatlicher Betriebe und massiven Stellenabbau im öffentlichen Dienst erreicht. Anstelle des Staates, der regulierend in die Wirtschaft eingreift, soll der Markt den wirtschaftlichen Kreislauf regeln.
Die Deregulierung von Normalarbeitsverhältnissen führte zu einem rapiden Wachstum von atypischer/zum Teil nicht sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung (Teilzeit, Leiharbeit, befristete Verträge usw.) Seit der deutschen Einheit ist die Zahl der Vollzeitstellen (aktuell 65% aller Beschäftigten) um 6 Millionen gesunken, parallel hat sich die Zahl der Teilzeitbeschäftigten um 7 Millionen Personen erhöht (zirka 35 % aller Beschäftigten). Weniger als die Hälfte der Teilzeitkräfte ist sozialversichert. (Christian Christen, Volkswirt und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von ATTAC). So hat sich nun in der BRD der größte Niedriglohnsektor in Europa gebildet (A. Oppacher 2010).
Hier geht die Standortdebatte um die hohen Lohnnebenkosten (Sozialabgaben) für die Unternehmen auf und mündet in der schlichten neoliberalen These, dass sinkende Sozialabgaben den Aufbau der Beschäftigung beflügeln würden. Diese Änderungen am Arbeitsmarkt haben aber nicht nur zum Austausch von Vollzeit- in Teilzeitarbeitsplätze geführt, sondern auch das Lohngefüge flächendeckend unter Druck gesetzt. Die Tariflöhne und übertariflichen Leistungen sinken bzw. stagnieren seit Jahren. Seit der Jahrtausendwende ging der Anteil der Lohnabhängigen am Volkseinkommen kontinuierlich nach unten - egal, ob die Wirtschaft schwach war oder kräftig wuchs- während Unternehmen und Kapitaleigentümer ein immer größeres Stück vom Kuchen bekommen.

„Das meiste Vermögen liegt bei privaten Besitzern, die vor 20 Jahren über reichlich 4 Billionen Euro verfügten und deren Reinvermögen sich auf 8,5 Billionen Euro mehr als verdoppelte. Dieses Vermögen ist höchst ungleich verteilt. Den oberen zwei Zehntenl der Bevölkerung gehören 80% davon, dem reichsten Zehntel allein über 60%. Die unteren Schichten haben nichts und weniger als nichts, sie sind wie der Staat verschuldet. Öffentlicher und privater Armut steht also der ungeheure private Reichtum weniger gegenüber.“(Jürgen Leibiger, 2011)
Dieser Trend zur Umverteilung von unten nach oben wirkt sich negativ auf die Finanzierung der staatlichen Ausgaben aus, da die Entwicklung der Bruttoeinkommen eine entscheidende Größe für die staatlichen Einnahmen darstellt. Seitens der Unternehmen stehen wachsende Anteile am Volkseinkommen einer sinkenden Gewinnsteuerlast gegenüber. Die geringere Besteuerung der Gewinne und Vermögen einerseits und Niedriglöhne und Erwerbslosigkeit andererseits führen zur finanziellen Schwächung der öffentlichen Hand und des Sozialstaates.
Anstatt aber die Reicheren stärker zu besteuern, leiht sich der Staat, natürlich gegen Zinsen, von eben diesen Leuten, denen er gerade die Steuern gesenkt hat, das nun fehlende Geld, um sein Haushaltsloch zu stopfen. Das führt dann zu weiteren öffentlichen Kürzungen, um die wachsenden Defizite, mit verursacht durch die wachsende Zinslast, abzubauen. Es gibt also eine Spirale nach unten. Die so genannte Schuldenbremse, die zu einer Senkung der Staatsverschuldung führen soll, ist schon jetzt dabei, den Ländern und Kommunen die finanzielle Grundlage für eine gestaltende Bildungspolitik zu entziehen.
Es sieht trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht nach einer Trendwende aus. Laut Berechnungen von Experten der Commerzbank und der Hans-Böckler-Stiftung (F.R. 11.5.2011) sollen die Tarifeinkommen 2011 um durchschnittlich 1,7% zunehmen, demgegenüber steht aber eine aktuelle Preissteigerungsrate von 2,4%. Der Rückgang der Reallöhne setzt sich also fort und die Gewinne steigen weiter.

Export von Waren und Kapital

Investitionen in der Produktion, also der realen Wirtschaft, müssen sich für die Investoren lohnen. Da die Kaufkraft breiter Bevölkerungskreise seit Jahren sinkt, stagniert in Folge dessen mit der fehlenden Nachfrage auch der Binnenmarkt. Die Investoren suchten für ihre riesigen Geldmengen deshalb nicht in der Produktion, sondern auf den Finanzmärkten nach profitablen Anlagen. Zum größten Teil ging das nach Anlage suchende Geld an Staat, Banken, Unternehmen und Privatleute in den europäischen Peripherieländern: nach Irland verliehen ausländische Banken 731 Milliarden Dollar, nach Griechenland 175 und nach Portugal 235. In Spanien wurden 876 Milliarden Dollar angelegt. Auch nach Osteuropa floss viel Geld, immer auf der Suche nach besseren Profitmöglichkeiten (Andreas Wehr, Griechenland, die Krise und der Euro, S.21). Diese Kredite produzierten vor der Finanzkrise 2007 in diesen Ländern einen beispiellosen Aufschwung. Besonders Deutschland konnte dadurch die Waren, die auf dem deutschen Binnenmarkt nicht abgesetzt werden konnten, in diese Länder exportieren. „Deutschland hat seine derzeitige wirtschaftliche Stärke hauptsächlich durch Lohndruck und Sozialabbau erreicht: Das Ergebnis ist eine Exportorientierung, bei der die schwächeren EU-Staaten mit preiswerten Waren ‚made in Germany’ überschwemmt wurden“.(Prof. Wolfram Elsner, in Gesprächszeit, nordwest radio, 28.6.2011, 9.05 Uhr).
Selbst von neoliberalen Ökonomen wie dem Chef des Münchener ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, kam Kritik an dieser aggressiven Exportorientierung des deutschen Kapitals: „Das deutsche Geschäftsmodell bestand über viele Jahre darin, dem Ausland deutsche Autos, Werkzeugmaschinen und andere Industriegüter auf Kredit zu verkaufen.“ (Zitiert in Andreas Wehr, a.a.O. S.21) Die Ergebnisse kann man heute sehen: In Griechenland und Portugal hat sich der Staat hoch verschuldet. In Irland und in Spanien entstanden riesige Immobilienblasen, die gleich zu Beginn der Finanzkrise (2007) platzten. Es wäre also zu schlussfolgern: Profitiert haben die deutschen exportorientierten Unternehmen und die Finanzinvestoren durch die einkassierten Zinsen für die gewährten Kredite. Doppelt zur Kasse gebeten werden die deutschen Lohnabhängigen durch Lohndumping und Sozialabbau.

2. Die Krise der EU

Die Lissabon-Strategie und ihre Folgen
Auf dem EU-Sondergipfel am 23./24. März 2000 wurde in der Lissabon-Strategie das Ziel der EU formuliert, bis zum Jahr 2010 „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen“ .Davon kann ja im Augenblick nun wahrlich nicht die Rede sein.
Neben Privatisierung und Deregulierung sollte die Währungsunion ein weiterer Schritt zu diesem Ziel sein. Nun ist eine einheitliche Währung eigentlich eine feine Sache. Die vom Devisenmarkt produzierten, oft irrationalen Preisschwankungen werden vermieden. Seit Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrtausends, als das System der festen Wechselkurse mit dem Dollar als Leitwährung (installiert durch die Konferenz in Bretton Woods für die Zeit nach dem 2.Weltkrieg) auseinander gebrochen war, hat die deutsche Regierung immer neue Versuche gestartet, ein stabiles Währungssystem wenigstens der wichtigsten Währungen auf diesem Kontinent herzustellen. Das ist auch einsichtig, denn gerade die deutschen Unternehmen haben das größte Interesse an einem gemeinsamen, großen Binnenmarkt von über 300 Millionen Verbrauchern direkt vor der Haustür. Wenn die Exporteure von Autos oder Maschinen jederzeit mit der Abwertung der Währung des Abnehmerlandes, z.B. des griechischen Drachmen, rechnen müssen, können sie die Preise, den Absatz, den erzielten Gewinn und Investitionen schlecht planen. Ein großer Währungsraum ist volkswirtschaftlich zunächst ein Segen, denn 65% der deutschen Exporte gehen derzeit in die Länder der EU. Allerdings gilt auch, dass die Aufgabe nationaler Währungen Schutzschranken einreißt. In einer Währungsunion setzt sich das kapitalistische Gesetz besser durch, wonach die Starken stärker, die Schwachen dagegen immer schwächer werden. Durch gelegentliche Abwertung der Lira, der Pesete oder der Drachme konnten sich die zum Teil eher schwächeren Unternehmen in Italien, Spanien oder Griechenland vor der hereindrängenden starken Konkurrenz aus Deutschland schützen. Dem hat die gemeinsame Währung Euro planvoll ein Ende bereitet. Man sollte sich also nicht wundern, dass nach 12 Jahren Währungsunion eine immer stärker divergierende Entwicklung zu beobachten ist. Die starken, mächtigen Konzerne, die ihren Sitz meist in Deutschland haben und die ihre Exportstärke durch Lohndumping und Sozialabbau forciert haben, verdrängen die schwächeren auf den heimischen Märkten Spaniens, Portugals und Griechenlands. Am 8.5.2010 schrieb die FAZ: „Mit dem Eintritt Griechenlands 1981 in die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat die Deindustrialisierung des Landes eingesetzt. Sie ist nahezu abgeschlossen.“ Als die Währungsunion entworfen wurde, wusste man oder hätte wissen können, dass sie auf Dauer nur funktionieren kann, wenn ein Ausgleichsmechanismus die Wirkung des marktwirtschaftlichen Konkurrenzprinzips mildert. Auf nationaler Ebene haben wir immerhin (noch) den mehr oder weniger gut funktionierenden Länderfinanzausgleich. Der Staat sorgt durch Umverteilung dafür, dass die schwächeren Regionen nicht komplett ausbluten. Wir haben es hier also mit einer Transferunion zu tun. Eine Transferunion auf europäischer Ebene sollte aber gerade vermieden werden. Die deutschen Unternehmen, damit auch die deutsche Regierung und, nicht zu vergessen, die deutschen Bundesbanker wollten keine Währungsunion, in der der stärkste Partner auch am meisten zahlen müsste. Sie wollten eine billige Währungsunion, die möglichst gar nichts kostet. Sie erfanden deshalb eine karge Union, die nur eine zusätzliche Institution, die Europäische Zentralbank (EZB), aufwies. Der Währungsraum erhielt keine gemeinsamen Steuern, kein gemeinsames Budget, keine gemeinsame Wirtschaftspolitik und schon gar keine Ausgleichsmechanismen, die dem Ausbluten der schwachen Regionen hätte entgegenwirken können. Diese Währungsunion durchlebt schwere Turbulenzen und ist von ihren Zielen meilenweit entfernt, sie steht buchstäblich auf der Kippe.

Die unbrauchbare Krisentherapie

Die Finanzkrise ist ursächlich aus der verschärften Umverteilung des Reichtums von unten nach oben entstanden. Die dadurch entstandenen vagabundierenden, nach profitabler Anlage suchenden Kapitalmassen fanden einen nunmehr völlig deregulierten Kapitalmarkt vor. Seit der gescheiterten EU-Verfassung (wir erinnern uns: Frankreich und Irland konnten per Volksabstimmung erst einmal das Schlimmste verhindern) und dem inhaltsgleichen, seit nunmehr 10 Jahren (ohne lästige Volksabstimmung) durchgesetzten Lissabon-Vertrag wissen wir, dass das wichtigste Grundrecht dieser Staaten- und Wertegemeinschaft die Freiheit des Kapitalverkehrs ist. Sie erlaubt dem Kapital, noch beweglicher zu sein als es ohnehin schon ist. Sie hat dazu geführt, dass der Finanzmarkt in Europa und in der Welt die führende Rolle in der Wirtschaft übernommen hat, so dass vom „Finanzmarkt getriebenen Kapitalismus“ (Jörg Huffschmid) gesprochen werden kann. Das Kapital, das sich so frei auf den Finanzmärkten bewegt, tritt dort ja in Form des Geldes auf. Um beweglich zu sein, um jeden spekulativen, potentiellen Gewinn auch mitnehmen zu können, um sich aus Märkten mit fallenden Preisen schnell verabschieden zu können, bleibt es möglichst in Form des Geldes, des Wertpapiers. Die Notenbanken/Zentralbanken (auch die EZB) haben diese Entwicklung des Finanzmarktes bis zu seiner Aufblähung systematisch begünstigt. Einerseits würgen sie mittels hoher Zinsen die Konjunktur ab, wenn sie meinen, dass durch zu hohe Preis- aber vor allem Lohnsteigerungen die Stabilität des Geldes und des Finanzsektors bedroht sei. Die dadurch hervorgerufene Arbeitslosigkeit sorgt dafür, dass der Lohnanstieg gebremst wird. Da die breite Masse der Menschen damit weniger Geld zur Verfügung hat, bleibt die Nachfrage nach Gebrauchsgütern schwach, was den Preisauftrieb dämpft. Das beschreibt den schon erwähnten stagnierenden Binnenmarkt. Aber, wenn auf der anderen Seite die Preise für Finanztitel (also Aktien, Devisen, u.ä.) steigen, sehen sich die Zentralbanken nicht veranlasst, dagegen etwas zu unternehmen. Sie lassen im Gegenteil die Spekulation gern zu und zeigen sich immer wieder extrem sensibel, um die Investoren ja nicht zu erschrecken. Die Politik der Notenbanken/Zentralbanken ist also von einer systematischen Asymmetrie gekennzeichnet, die die Umverteilung des Reichtums von unten nach oben weiter vorantreibt. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Zentralbanken in den vergangenen Jahrzehnten die Kreditvergabe der Banken praktisch nicht mehr unter Kontrolle gehabt haben. Sie haben es sogar abgelehnt, die Kontrolle zu übernehmen, obwohl sie genau beobachtet haben, dass Kredit- und Geldvolumen und damit der Finanzsektor jedes Jahr um ein Mehrfaches wuchs wie die reale übrige Wirtschaft. Man könnte auch so formulieren: Die Zentralbanker vertreten systematisch die Interessen der großen Geschäfts- und Investmentbanken. Sie stecken mit ihnen unter einer Decke. Sie gehören zu den Hauptschuldigen an dieser Finanzkrise. Hinzu kommt die Rolle der privaten Ratingagenturen, von denen drei Giganten (Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch Ratings) den Markt beherrschen. Die Professoren Hickel und Elsner üben scharfe Kritik an diesen Agenturen, da sie bei ihrem Rating der Kreditwürdigkeit (Bonität) von Banken, börsennotierten Unternehmen in der Privatwirtschaft, aber auch ganzen Staaten quasi hoheitliche Staatsaufgaben übernehmen, die aber wegen ihrer privatwirtschaftlichen und damit am Profit orientierten Ausrichtung „unter dem Heiligenschein der ökonomisch-rationalen Beratung auch Fehlinformationen erzeugen können.“(Hickel, W-K. 23.6.2011) und „durch negative Bewertung der Kreditwürdigkeit ganze Länder in den Abgrund stoßen können, wie beispielsweise Griechenland“(Elsner, nordwest radio, Gesprächszeit 28.6.2011).

3. Der notwendige Schuldenschnitt

Eine Demontage dieser „monopolistischen Informationsmacht“ (Hickel) ist überfällig. Lucas Zeise, Finanzkolumnist der Financial Times Deutschland schreibt: „In dieser Krise der Währungsunion sind die Neoliberalen und die Konservativen, die ja die Politik in den Ländern der EU maßgeblich bestimmen … tief gespalten. Sie wirken ein wenig ratlos. Wir wollen ihnen .. ein paar Tips geben, wie sie aus der schwierigen Lage kommen können. … Die Währungsunion kann nur weiter bestehen, wenn sie durch eine gemeinsame Fiskal- und Wirtschaftspolitik der Euro-Länder eingerahmt wird. Anders gesagt, die Euro-Zone müsste zu einer wirklichen Transferunion ausgebaut werden. Wer da einwendet, die deutschen (sowie niederländischen und finnischen) Wähler, würden einen solchen Kurs nicht tolerieren, sollte es einmal mit einem Programm für höhere Löhne und bessere Sozialleistungen, bezahlt durch höhere Unternehmens- und Vermögenssteuer versuchen. Der Ausgleich innerhalb der EU würde also nicht dadurch geschaffen, dass bei den griechischen und portugiesischen Beschäftigten, Rentnern und Arbeitslosen gekürzt wird, sondern dass hierzulande die Kosten der Unternehmen steigen. Das wäre beim breiten Publikum durchaus populär. Und zweitens: Es bleibt nur eine große Lösung: Ein Schuldenschnitt für alle europäischen Staaten. Wer sollte ein solches Programm politisch durchziehen? Wer kann es? Wer will es?...“