Vor 35 Jahren habe ich zum ersten Mal Studienanfänger in das Lehramtsstudium für die Primarstufe eingeführt. Ihr Bild von Schule: Unterricht. Damals versuchte ich vor allem, ihren fachdidaktischen Blick zu erweitern: weg von der Fixierung auf eine klein- und gleichschrittige Vermittlung vorgegebener Inhalte hin zu einer sensibleren Wahrnehmung der spezifischen Sichtweisen von Kindern und ihrer individuellen Zugänge zu den Welten der Schrift und der Zahlen.
Für diesen Winter habe ich wieder einen Lehrauftrag für Erstsemester übernommen. In meiner Einführung in die Grundschulpädagogik wird es aber um ganz andere Themen gehen, vor allem um Veränderungen in den Lebenswelten der Kinder und ihre Bedeutung für Schule als zukünftigem Arbeitsplatz der jungen Lehrer/innen. Sie stehen heute vor ganz anderen Anforderungen als vor 30, 50 oder 100 Jahren. Im Grundschulverband, dem Fachverband für Grundschulentwicklung, wird zurzeit intensiv an einem „Standpunkt: Arbeitsplatz Schule“ gearbeitet. Schaut man sich die Entwürfe an, fällt ebenfalls auf, dass das sog. „Kerngeschäft Unterricht“ nur einen vergleichsweise geringen Raum einnimmt. Es dominieren Themen wie Ganztag, Inklusion, Übergänge, Schulentwicklung und Elternarbeit. Grundschule als Lernort und Arbeitsplatz.
Sicher: Auch heute gilt der Unterricht als „Kerngeschäft“ der Grundschule. Schon da haben die Ansprüche an die Profession erheblich zugenommen. Denn von einer Grundschullehrer/in wird heute fachlich mehr verlangt als früher. Man nehme nur das aktuell brisante Thema „Rechtschreibung“ (vgl. die Beiträge in: Brinkmann 2015). In der Fachdidaktik werden die Kolleg/inn/en konfrontiert mit linguistischen Kontroversen über unterschiedliche orthographische Theorien, die jeweils Geltung für den Unterricht beanspruchen. Auf der anderen Seite geht es um deren Aneignung durch die Kinder und konkurrierende Lerntheorien zu deren Erklärung. Neben der Psychologie meldet sich zudem immer lauter die Hirnforschung zu Wort, die sich unter Etiketten wie „Neurodidaktik“ – wenn auch manchmal mit obskuren Ideen – direkt auf Schule bezieht. Aus der Bildungsforschung werden Studien zugunsten bestimmter Methoden ins Feld geführt, deren statistische Kennwerte immer komplexer werden. Professionalität verlangt, sich mit all‘ diesen Theorien, Befunden und Konzeptionen auseinanderzusetzen – und sei es über die Lektüre von Zusammenfassungen. Aber selbst eine kursorische Lektüre der Sekundärliteratur ist anspruchsvoll und beansprucht viel Zeit und Aufmerksamkeit. Rechtschreibung wiederum ist nur ein Feld des Sprachunterrichts – und dieser seinerseits nur eines der meist drei oder vier Fächer, die eine Grundschullehrerin unterrichtet und in denen sie sich auf dem Stand der fachlichen Diskussion halten soll. Hier den Überblick zu behalten ist Voraussetzung, aber auch nur eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Alltagsarbeit.
Die besteht im pädagogischen Umgang mit Kindern. Die heterogenen Lebensbedingungen und Lernvoraussetzungen und zugleich eine höhere pädagogische Sensibilität für die Bedürfnisse des einzelnen Kindes stellen auch in methodischer Hinsicht neue Anforderungen an die Grundschule. Schulanfänger unterscheiden sich in fachbezogenen wie auch in ihren persönlichen und sozialen Voraussetzungen um etwa drei Entwicklungsjahre. Durch Migration und durch die Öffnung der Grundschule für Kinder mit besonderem Förderbedarf erweitert sich dieses Spektrum. Unter dem Anspruch der Inklusion bedeutet das nun nicht, Kinder mit immer unterschiedlicheren Voraussetzungen in ein Einheitscurriculum einzubinden, sondern den Unterricht zu öffnen für unterschiedliche Lernwege (vgl. Brügelmann 2005; Peters/ Widmer-Rockstroh 2014). Das verlangt ein differenziertes methodisches Repertoire der Lehrperson und deren situative Anpassung und es verändert ihre Rolle: hin zur individuellen Lernbeobachtung und Lernbegleitung – im Sinne einer „pädagogischen Leistungskultur“ (vgl. Bartnitzky u. a. 2005ff.).