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Gewerkschaftsrechte unterm Halbmond

Auf Einladung der GEW und der Friedrich-Ebert-Stiftung war am 26. 9. 2011 eine Delegation der türkischen Bildungsgewerkschaft anlässlich ihrer Rundreise durch die Bundesrepublik auch in Bremen. Unsere KollegInnen nahmen nachmitttags am Kurdischunterricht in der Schule Robinsbalje teil. Auf einer gut besuchten Abendveranstaltung im Gewerkschaftshaus informierten sie uns über die Situation und Arbeit der Gewerkschaften in der Türkei.

Der Eğitim-Sen-Vorsitzende Ünsal Yıldız berichtete, dass im gesamten Bildungsbereich die soziale Ungleichheit immer schneller zunehme, für immer mehr reguläre Bildungsangebote von den Eltern Zahlungen abgefordert würden, dass Intelligenz, Fleiß und gute Noten bei Prüfungen und Aufnahmetests nicht mehr genügten, sondern man das nötige Geld und gute Beziehungen haben müsse. Von einer Chancengleichheit für alle Kinder, insbesondere die armen, könne keine Rede sein.
400.000 ausgebildete LehrerInnen suchten einen Arbeitsplatz, die Regierung habe aber dieses Jahr noch nicht einmal die zugesagten und dringend benötigten 150.000 Lehrkräfte eingestellt.
Vom Staat als Beamte fest eingestellte LehrerInnen verdienten etwa 600 € im Monat; alle anderen LehrerInnen müssten auf unsicheren Arbeitsplätzen Niedriglöhne in Kauf nehmen. Unliebsamen Lehrkräften drohten Zwangsversetzung oder Entlassung. Ihre Situation sei inzwischen so dramatisch geworden, dass sich bis September 2011 schon 25 von ihnen das Leben genommen hätten.
Abdullah Karahan führte aus, ein Streikrecht gebe es für Beamte nicht. Tarifverhandlungen seien ausgeschlossen; man habe nur das Recht auf Gespräche über Löhne. Könnten sich die Gewerkschaften dort nicht einigen, so entscheide ein Richtergremium über die Lohnforderungen, meist im Sinne des Staates. Bei der Wahrnehmung der Rechte, die den Arbeitnehmern vom Staat zugestanden würden, gebe es massive Behinderungen von der Durchsuchung und Schließung gewerkschaftlicher Einrichtungen über den Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und Polizeiknüppeln bis hin zum Mord.
Man lasse sich aber nicht entmutigen und führe den Kampf für die Gewerkschafts- und Menschenrechte fort.

Hasan Olgun freute sich darüber, dass es an bremischen Schulen muttersprachlichen Unterricht für kurdische und türkische Kinder gebe. 2005 habe man die Eğitim Sen bei Androhung ihrer sofortigen Schließung dazu gezwungen, die Forderung nach Kurdischunterricht in staatlichen Schulen aus ihrer Satzung zu streichen. Immer noch folge man in der Türkei der Staatsphilosophie: ein Staat, ein Volk, eine Sprache und missachte man die Rechte der Minderheiten. Schüler, Studierende und Lehrkräfte, die sich dafür einsetzten, würden bedroht, verhaftet oder auch verbannt. So seien allein in Dersim (heute Tunceli) 41 Lehrkräfte zwangsversetzt worden. Dennoch habe kürzlich ein Gewerkschaftskongress erneut das Menschenrecht auf muttersprachlichen Unterricht eingefordert.
H. Olgun wies auf die Traumatisierungen hin, die Kindern zugefügt würden, die plötzlich in der Schule in einer Sprache lernen und sprechen müssten, die sie nicht beherrschten, und die Lehrkräfte erlitten, die gegen ihren Willen und ihre Überzeugung die Kinder nur in der staatlich vorgeschriebenen Sprache Türkisch unterrichten dürften.
Ü. Yıldız wies darauf hin, dass 20 Jahre lang gültige Demonstrationsgesetze von der AKP-Regierung neuerdings so ausgelegt und angewandt würden, dass aus gewerkschaftlicher Arbeit Unterstützung von Terroristen gemacht werde (z. B. in Diyarbakır, Hopa, Şırnak, Urfa und Van) und man Gewerkschafter wegen solcher Vorwürfe vor Gericht schleppe. Der deutliche Protest europäischer Gewerkschaften gegen die zur Zeit in Izmir anhängigen Prozesse habe immerhin dazu geführt, dass die Angeklagten bis zum nächsten Termin auf freiem Fuß seien.
Am 21. 10. 2011 würden in der entscheidenden Sitzung die Urteile gesprochen, so auch gegen die Gewerkschafterin Gülçin İsbert und den Vorsitzenden der KESK, des Dachverbandes der türkischen Bildungsgewerkschaften.
Manfred Brinkmann vom Hauptvorstand der GEW kündigte an, die europäischen Ge-werkschaften würden am 21. 10. 2011 bei der Urteilsverkündung zugegen sein.
Auf eine Frage aus dem Publikum bezüglich staatlicher internatsähnlicher Zentral-schulen wurde dargelegt, es handele sich um Einrichtungen für Kinder aus Dörfern, in denen es keine Schulen (mehr) gebe. Die Kinder seien dort einer strengen, sogar fast militärischen, Erziehung unterworfen und würden im Sinne der türkischen Staatsideologie erzogen. Eğitim-Sen-Mitglieder, welche die Öffentlichkeit über die dortigen Lebensbedingungen und Lernziele informiert hätten, seien bestraft worden.
Zur Frage, ob und wie weit Eğitim Sen parteipolitisch gebunden sei, erklärte Ü. Yıldız, Eğitim Sen sei zwar sozialdemokratischem Denken verpflichtet, aber an keine Partei gebunden, verstehe sich als die Heimat der Arbeitenden und setze sich ein für die Rechte der Minderheiten, für Gerechtigkeit und generell für die Wahrung der Menschenrechte. Politische und militärische Kriege lösten keine Probleme, nur friedliche gewerkschaftliche Arbeit könne die Situation der Bevölkerung verbessern, dafür kämpfe Eğitim Sen trotz aller Widrigkeiten und staatlicher Behinderungen.

Kontakt
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