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Erdogan macht die Drecksarbeit

Wie groß war neulich noch die Empörung, als einige AfD-Größen ihre Botschaften zum Thema Flucht verbreiteten. Die Grenzen müssten endlich dicht gemacht werden, so Alexander Gauland, und wenn dann schreckliche Bilder von abgewiesenen Flüchtenden über den Fernsehschirm flimmerten, so seien sie eben auszuhalten. Unvergessen auch die, gewissermaßen sekundierende Überlegung von Beatrix von Storch, wonach ein Schießbefehl für die nötige Abschreckung sorgen würde und dabei auch ja keine Feigheit vor dem Feind in Gestalt von Kindern oder Frauen aufkommen dürfe.

Zwar wurde bald routiniert zurückgerudert, doch die Stossrichtung war klar: Ein Ende der vorgeblichen Humanitätsduselei sei angezeigt, und mit jedem Kreuzchen für die AfD komme man ihm näher. Rechte Gemüter konnten sich an den Fantasien von toten Flüchtlingen aufgeilen. Alle anderen, insbesondere Stimmen aus der linksliberalen Presse sowie den Koalitionsparteien nutzten die Gelegenheit, sich in demonstrativem Abscheu von den neuen Schmuddelkindern der Parteienlandschaft zu distanzieren. Die patentierte deutsche Willkommenskultur wollte man sich von solchen Störenfrieden nicht nehmen lassen.

Die neue Willkommenskultur an Europas 'erweiterten' Außengrenzen
Währenddessen zeigt die türkische Republik ihre Version von Willkommenskultur: Die Grenze zu Syrien wurde in den letzten Monaten systematisch abgeschottet, auch wenn die Regierung Erdogan das nicht zugibt, weil es ein offener Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention ist. Zur Durchsetzung gab es zunächst Schläge und Warnschüsse durch die Grenztruppen. Seit März wird, wie Amnesty International mitteilt, auch scharf geschossen. ZEIT-Reporterin Zia Weise berichtet, erst kürzlich sei einem Kind in die Beine geschossen worden. Die blutigen Träume einer Beatrix von Storch von militärischer Härte und nationaler Stärke sind hier zur alltäglichen Realität geworden. Niemand rede sich auf individuelles Versagen untergeordneter Beamte heraus: Umgekehrt wird ein Schuh draus. Die Anweisung kommt von oben. Wer die Flüchtlingsströme unterbrechen will, muss Grenzen dicht machen. Auf syrischer Seite sammeln sich die Verzweifelten, denen jeder Schleichweg recht ist, um in Sicherheit zu gelangen. Schleuser, die davon leben, machen immer neue Übertrittswege ausfindig. Eine Armee antwortet hierauf notwendigerweise mit der Androhung von Gewalt, erst mit Schlagstöcken, dann mit Warnschüssen, und wenn auch dies nicht fruchtet, müssen Exempel statuiert werden. Auch wenn empfindsame Gemüter vielleicht hoffen, dass sich die Opfer des syrischen Bürgerkriegs durch freundliches Zureden bereit finden, weiterhin an der Grenze vor sich hin zu vegetieren. Laut Human Rights Watch sind im Zeitraum von März bis April fünf Menschen an der Grenze erschossen worden, vierzehn weitere verletzt. Das sind natürlich nur die bekannt gewordenen Fälle.

Klammheimliche Erleichterung
Für die Flüchtenden ist das ein Alptraum, aber er liegt in der Logik des Auftrags, den die Türkei (und übrigens auch Griechenland) von Europa bekommen haben. Dementsprechend sieht die Reaktion der EU aus: Sie schweigt dazu. Weil ihr, wie die ZEIT den Fluchtexperten Gerry Simpson von Human Rights Watch zitiert, das Ergebnis passt. Sie hält die schrecklichen Bilder so gelassen aus, dass ein Gauland eigentlich seine Freude daran haben müsste. Zwar gibt es in letzter Zeit verstärkte Nörgeleien an Erdogans Innenpolitik, den Umgang mit Presse und Opposition betreffend – aber das war alles schon bekannt, bevor das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei geschlossen wurde, einschließlich des Bürgerkrieges in den kurdischen Gebieten. Anscheinend hat es die Koalition damals nicht gestört, warum sollte es sie heute stören? Solche kritischen Töne aus dem Munde von Leuten wie CSU-Chef Seehofer, der sich bei anderer Gelegenheit mit Viktor Orban zum Weißwurstessen trifft, sind von vornherein lächerlich. Orbans Härte den Flüchtlingen gegenüber kann dann nicht genug gelobt werden, aber der verkörpert ja auch das christliche Abendland. Allerdings, auch die meisten Stimmen aus dem linksliberalen Spektrum fordern nicht etwa die Rücknahme des Flüchtlingsabkommens – allenfalls wird mit der Verzögerung der Visafreiheit gedroht, was die Gültigkeit des Abkommens unterstellt. Mit der Forderung nach sicheren Korridoren für die Schutzsuchenden aus dem syrischen Bürgerkrieg bleiben die Flüchtlingsräte allein. Auch die liberale Mehrheit scheint so etwas wie klammheimliche Erleichterung zu verspüren, dass ihre Gated Community Europa von einem Grenzwärter bewacht wird, über dessen Manieren sie lästert, auf dessen Dienste sie gleichwohl nicht verzichten will. US-Präsident Roosevelt war da ehrlicher: He's a son of a bitch, but he's our son of a bitch, soll er 1939 über Nicaraguas Diktator Somoza, seinen treuen Verbündeten, gesagt haben.

Was wirklich weh tut
Womit wir wieder beim Thema AfD wären. Eine tragische Ironie liegt über dem Ganzen: Gauland, Petry und andre echt deutschblütige Störche mögen glauben, sie seien ihrer Zeit voraus, in Wirklichkeit hinken sie ihr hinterher. Sie singen, gewissermaßen, der EU-Flüchtlingspolitik nur deren eigene Melodie vor, allerdings nicht in kritischer Absicht, sondern um den Druck für Geflüchtete noch drückender, die Abschreckung noch schrecklicher zu machen. Sie fordern die Verantwortlichen auf, sich zur praktizierten Inhumanität ihrer Flüchtlingspolitik doch auch zu bekennen - vielleicht ist es das, was man ihnen im Regierungslager nicht verzeihen will. Und so zittern, hungern und sterben an der türkischen Grenze Menschen, während in Berlin bei Sonntagsreden die antifaschistische Einheit beschworen wird, unter reger Beteiligung eben jener Parteien, die das Flüchtlingsabkommen mit Erdogan ausgehandelt haben. Die Bilder toter Flüchtlinge lassen sich offenbar ertragen, die Statistiken mit verlorenen Wählerstimmen hingegen tun wirklich weh.

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