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Eindimensionale Schulpolitik im vielfältigen Leben

Dieser Tage fiel mir das Faltblatt zur neuen Oberschule in die Hände, mit dem Eltern und Schüler/innen zum Besuch dieser neuen Schulform motiviert werden sollen. Natürlich hat mich auch interessiert, was denn mit einem erfolgreichen Abschluss der Oberschule für anschließende Möglichkeiten bestehen und ich sah auf den ersten Blick nur die gymnasiale Oberstufe mit dem klassischen Abitur. Die Sicht änderte sich auch beim zweiten Hinsehen nicht, bis ich nach intensiveren Suchen am äußeren linken Rand einen kleinen Wurmfortsatz sah, der mit der Kennzeichnung Berufliche Bildung versehen war. Nach der ersten Verwunderung wur-de mir klar: Die Verfasser haben hier ein ehrliches Dokument über ihre Sichtweise notwendiger und möglicher Bildungswege vorgelegt. Damit sind wir denn auch beim politischen Kern der aktuellen Bildungsreform.

Als inzwischen älterer Mensch ohne Abitur habe ich aus diesem Anlass noch einmal reflektiert, welche Inhalte denn in den sechziger Jahren nach dem Sputnik-Schock und der konstatierten Bildungskatastrophe den Aufbruch im Bildungswesen markierten. Ziel war die Erhöhung der Bildungsbeteiligung, die durch Chancengleichheit und Förderung der Begabungsreserven er-reicht werden sollte. In diesem Kontext spielte dann die Verbindung von beruflicher und allgemeiner Bildung programmatisch eine herausragende Rolle. Schließlich war damit auch eine Demokratisierung des Bildungswesens impliziert, weil die Bildungsbarrieren sich an den klassischen bildungsbürgerlichen Normierungen vermittelt insbesondere über Sprachcodierung festmachten. Diese sollten genau durch die Öffnung des Bildungssystems mit dem Postulat der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung sowie durch die Differenzierung des zum Abitur führenden Fächerkanons überwunden werden. Insbesondere die sozialdemokratische Partei und später auch die Grünen orientierten sich programmatisch immer an diesen Ansprüchen.

Veränderungen in der Gesellschaft

Nun könnte man meinen, die Gesellschaft hat sich geändert und die genannte programmatische Ausrichtung ist von daher obsolet. In der Tat, die Gesellschaft hat sich geändert. Sie ist differenzierter geworden, weil globale Handelsströme und Mobilität die deutsche Kuscheligkeit der fünfziger und sechziger Jahre wahrnehmbar aufgebrochen haben. Die Entwicklung der Arbeitswelt (früher hätte ich gesagt "der Produktivkräfte") erzwingt andere Biografien mit deutlich mehr Brüchen als in den früheren Jahren, die neue Medienwelt erschließt ein nahezu unbegrenztes Informationsterrain, Zuwanderung führt zu einer Sprachansammlung babylonischen Ausmaßes. Die Produktionsprozesse erfordern heute deutlich andere Qualifikationen. Und schließlich haben wir eine tiefgreifende Wirtschaftskrise, die die tendenzielle soziale Spaltung in unserer Gesellschaft noch verstärkt und damit eine Gefährdungsquelle für die deutsche Demokratie hervorbringt. Nur zur Erinnerung: Die erste Nachkriegswirtschaftkrise Mitte der sechziger Jahre wurde ausgerufen, weil die Arbeitslosigkeit über 2% stieg.
In der pädagogischen Diskussion haben diese Veränderungen immer wieder ihre Spuren hinterlassen. Die Orientierung an Schlüsselqualifikationen speist sich aus der Quelle der rasanten Veränderungen der Arbeitswelt, weil heute niemand sagen kann, welche konkreten Qualifikationen denn in 5 Jahren benötigt werden. Die Stärkung der Eigenverantwortung hat etwas mit stark flexibilisierten Prozessen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft zu tun. Diese führen logischerweise nicht nur zu einer Anpassung der Qualifikationen im Verwertungsbereich, son-dern sie bieten auch die Chance der Verankerung partizipativer und emanzipatorischer Elemente in der Bildung. Wohlgemerkt: Die Anstöße für diese Prozesse kommen abgesehen von einigen pädagogischen Nischenprojekten aus den wirtschaftlichen Prozessen. Die Verbindung von beruflicher und allgemeiner Bildung ist in diesem Zusammenhang durchaus ein wichtiges Projekt zur Koppelung der Bildungsentwicklung an die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung oder anders herum: Mit ihr wird der tendenziellen Entkoppelung des Bildungsbereichs von der gesellschaftlichen Realität entgegen gewirkt.

Eine Vielzahl von Wegen und Möglichkeiten

Was hat das nun alles mit dieser etwas merkwürdigen Grafik in der Oberschulbroschüre zu tun? Ganz einfach: Die Verfasser dieser Grafik blenden schlicht vierzig Jahre gesellschaftlicher Entwicklung aus. Sie definieren einen Königsweg und alle anderen Wege sind irgendwie Anhängsel und Restanten, aber keine systematisch gleichwertigen, um eine angemessene Position in unserer Gesellschaft zu erreichen. Da kann man denn schon postulieren, "eine Schule für alle" zu wollen und eine Bildungsreform verabschieden, die die Bildungswege von etwa 70% der Jugendlichen der SII ausblendet. Da kann man denn schon einmal übersehen, dass etwa 40% aller Hochschulgangsberechtigungen im Lande Bremen über die Bildungswege der beruflichen Schulen erreicht werden. Das berufliche System ist zugegeben kompliziert, weil es eine große Zahl von Wegen und Möglichkeiten bietet und damit Jugendlichen, die nicht königsweggeeignet sind, Optionen eröffnet, die sie ansonsten nicht hätten. In die Systeme der beruflichen Schulen steigen Menschen mit Hauptschulabschluss ein, und sie verlassen sie entweder mit einer Berufsausbildung, und/oder mit einem Realschulabschluss, und/oder mit beidem, oder sie erreichen Ausbildung und Fachabitur, oder nur das Fachabitur, oder das fachgebundene Abitur oder aber das Vollabitur. Andere werden nach einer gescheiterten SI-Karriere an eine Ausbildungseignung herangeführt. Alles ist möglich und alles ist Realität. Das System ist so kompliziert, weil unsere Gesellschaft so kompliziert ist. Wer den Anspruch hat, Chancen zu eröffnen, um den gesellschaftlichen Bedürfnissen sowohl qualifikatorisch als auch politisch gerecht zu werden, muss sich dieser Kompliziertheit stellen und darf sie nicht einfach ausblenden. Er muss diese Vielfalt nutzen, um Jugendlichen mit unterschiedlichen Qualifikationsprofilen und unterschiedlichen biografischen Hintergründen einen qualitativ gleichwertigen aber inhaltlich anderen Weg anzubieten, damit sie materiell und politisch partizipieren können.

Die Einfalt des Königsweges

Die derzeitige Bildungspolitik verharrt in der ideologischen Einfalt des Königsweges. Das kann einfach einer fehlenden Einsicht in die Vielfältigkeit von Qualifikation und Bildung geschuldet sein, es kann aber auch ein politisch gewollter Akt sein, mit dem die Segregation im Bildungswesen verstärkt wird. Schon heute haben Kinder und Jugendliche aus Armutsverhältnissen nur schlechte Chancen in unserem höchst selektiven Bildungssystem, aber in Zeiten der Wirtschaftkrise und des wegen der möglichen in Konkurrenz zu den aufstreben BRIC Mächten sinkenden Stellenwerts Europas sind auch viele bildungsbürgerliche Eltern ängstlich geworden, was die Zukunftschancen ihrer Kinder angeht. Da passt es dann ganz gut, wenn sich auf die guten alten Werte besonnen wird, weil dieses dann im Ergebnis dazu führt, dass in der Konkurrenz um die besten Plätze in der künftigen Gesellschaft große Teile möglicher Mitbewerber ausgegrenzt werden, weil sie eben durch fehlende Differenzierungsfähigkeiten in der deutschen Sprache die Aufnahmeprüfungen für die durchgängigen Gymnasien nicht bestehen werden. Das Bildungsbürgertum rettet seine Inseln und baut diese tendenziell noch aus. Diese undemokratische Wirkung der Bildungsreform ist nicht zufällig, darum ist auch der reale Konsens zwischen den Parteien kein Kompromiss, sondern die Kapitulation der einstigen Bildungsreformer vor dem Monopolanspruch des Bildungsbürgertums.

Natürlich sind die Gymnasien und der sie tragende Elternwunsch eine Realität, der sich Bildungspolitik im Lande Bremen stellen muss. Einfach abschaffen geht nicht - aber einfach akzeptieren und verstärken geht auch nicht. Eine fortschrittliche Bildungspolitik sollte wenigstens gleichwertige Alternativen über die politische Diskussion popularisieren und umsetzen. Ein solcher Weg hätte eine gute Chance, weil er sowohl den arbeitsmarktpolitischen als auch den gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten deutlich gerechter wird. Die aktuelle Bildungsreform ist diesbezüglich durch die Ausblendung der Interessen der Mehrheit der Schülerinnen absolut kontraproduktiv.