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Die Unerwünschten und Angepassten

Vor sechs Jahren sprach mich eine Werkschulschülerin an, dass sie mich vertraulich etwas fragen möchte. „Stimmt das“, fragte die aus dem Libanon stammende Schülerin, „dass ein Politiker in Bayern will keine Araber mehr ins Land einreisen lassen und die hier lebenden Araber töten lassen?“

Ob dieser Frage bin ich umso mehr zusammengezuckt, da die Schülerin mit ihrer Familie zu den sogenannten „Langzeit-Geduldeten“ gehörte, das heißt, zu den Ausländern, die ohne Aufenthaltsstatus sind, aber wegen des Krieges in ihrem Heimatland nicht abgeschoben werden dürfen. Dazu kam, dass die Schülerin selbst in Deutschland geboren wurde und körperlich behindert war. „Die Politiker sagen zwar einiges, aber zum Töten wird in Deutschland nicht aufgefordert“ war meine Antwort. Die Schülerin hat mir anvertraut, dass ihr Bekanntenkreis ständig darüber redet und beunruhigt ist.

Es beschäftigte mich eine Weile, bis ich den Zusammenhang verstand. Im Herbst 2010 erklärte der CSU-Chef Horst Seehofer multikulti für tot, sogar „toter als tot“, und ergänzte, dass der Zuzug der Menschen aus dem arabischen Raum gestoppt werden müsse. Man stelle sich vor, unter welchem Eindruck der deutschen Sprache nicht ganz mächtigen Familien aus dem Mittleren Osten standen, als sie dies hörten. Der rhetorische Ausdruck Seehofers verbanden sie mit eigener leidvollen Erfahrung: Wenn Politiker über Tod und Mord reden, fordern sie diese Taten auch.
Die zweite Geschichte spielte in einer MSA-Klasse. Im Englischunterricht übten wir die Begriffe für Wirtschaft, Jobs und Ausbildungen, als ein Sinti-Roma Schüler mich fragte, ob Deutschland wirtschaftlich weltweit vorne stehe. Mein Kommentar, dass die BRD, vielleicht nach der USA und Japan, zu den stärksten Weltwirtschaften gehört, hat die Klasse begeistert. Die Schülerinnen und Schüler, die mir oft über ihre Diskriminierungserfahrungen erzählten, waren allesamt ersichtlich stolz auf das Land ihres Aufenthaltes.

Verunsicherung und Zugehörigkeitsgefühl

Zwischen diesen beiden Gefühlen, Verunsicherung und Zugehörigkeitsgefühl, leben wahrscheinlich viele Kinder aus den Migrantenfamilien. Es ist viel erforscht und geschrieben worden, dass die ersten Generationen der Gastarbeiter bescheiden und schweigsam auf die Position der Mehrheitsgesellschaft reagierten. Sie waren immer noch froh, der Armut in ihren Ländern entkommen zu sein und pflegten den Gedanken, wie übrigens auch die meisten Deutschen, dass sie bald zurückkehren würden. Die nächsten zwei Generationen waren mit der Haltung ihrer Eltern überhaupt nicht einverstanden und reagierten auf jede wahre oder vermutliche Diskriminierung herausfordernd laut. Die Selbstausgrenzung in den Parallelgruppen, inklusive der Zuspitzung ihrer religiösen und ethnischen Herkunft, gehören zu diesem Prozess des Aufbegehrens.
Die große Frage ist, wie die heutigen Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte den demographischen Wandel in West-Europa und gewissermaßen damit verbundenen dauerhaften Rechtsruck in der Politik begegnen werden.
Keine auf Aufständen und unlösbaren Konflikten basierenden Horrorszenarien sind hier angebracht. Auch in den ungünstigsten Konstellationen verfügt das Leben in einem friedlichen und wohlhabenden Land wie Deutschland über einen gewissen Ausgleich, ja über eine Harmonie. Aus diesem Grund werden sich sowohl die „Urdeutschen“ als auch die „Neudeutschen“ mit der Realität arrangieren und ein Nebeneinander finden. Nur: mit dieser Entwicklung fühlt sich ein Teil der einheimischen Bevölkerung von vornherein unwohl, aber er kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Diese Bevölkerungsschichten werden wahrscheinlich mit den rechts-konservativen und rechts-liberalen Tendenzen dauerhaft wachsen, was den Migranten und ihren Nachfahren nicht entgehen dürfte.
Zu den sich zuspitzenden gesellschaftlichen Trennlinien zwischen Jung und Alt, Ost und West, Arm und Reich können wir den zunehmenden Gegensatz zwischen Deutsch und Eingewandert addieren. Zudem wird es irrelevant, ob die Letzteren neu gekommene Flüchtlinge oder die Enkelkinder der seit Jahrzehnten eingebürgerten Zuwanderer sind. Die zersplitterte Gesellschaft kann von den Märkten zwar besser beherrscht werden. Die Märkte brauchen stets nicht die mündigen Bürgerinnen und Bürger, sondern die manipulierbaren Konsumenten. Gleichzeitig werden solche Gefälle historisch gesehen ein Verrat an Prinzipien der bürgerlichen Bewegungen und Revolutionen, die sich auf Freiheit und Gleichheit der Menschen beriefen. Noch gravierender sind der ständige Verfall des Klimas der gegenseitigen Achtung und Verständigung und die schwindende politische Kultur, was letzten Endes zu minderer Lebensqualität im Mitteleuropa führt.

Ehrenvolle Reparaturarbeit

Um diesem vorzubeugen, wären die institutionellen Anpassungen der Staatsorgane an die vielschichtige moderne Realität notwendig. Diese scheinen allerdings im heutigen politischen Diskurs unmöglich. Wenn aber ein Teil der Jugend sich als unerwünschte Generation betrachtet und die politischen Einstellungen sich nach rechts schieben, kann die Schule ein solches gesellschaftliches Auseinanderdriften lediglich erträglicher und humaner machen. Ändern, ohne die obengenannten institutionellen Reformen und ohne den Abbau der ununterbrochen steigenden verbalen und faktischen Polarisierung, kann die Schule es aber nicht. Ihr bleibt eine Reparaturarbeit übrig.
Meines Erachtens sind am erfolgreichsten die Pädagoginnen und Pädagogen, die die Arbeit und Begabungen ihrer Schülerinnen und Schüler wahrnehmen, die Herkunft dabei freimütig übersehend. Sie agieren wie die meisten Pädagogen, die im Großen und Ganzen das Geschlecht der Schüler übersehen und ihre Leistungen nach gerechterem Verfahren bewerten. Außerdem sollte die Schule kein Ort des religiösen Anliegens, sprich von Gebetsräumen und kämpferisch-demonstrativer Bekleidung, werden. Und zwar nicht in Bezug auf eine bestimmte religiöse Gruppe, sondern grundsätzlich als ein neutraler, humanistisch geprägter Ort der Begegnung. Die großen gemeinsamen Projekte, die alle Ethnien und Schichten umfassen und sie zu lokaler Wirtschaft, Kultur und Geschichte sensibilisieren, werden die restliche Reparaturarbeit leisten. Dies wird die Zusammengehörigkeit der Schülerschaft, jenseits ihrer Abstammung, stärken können. Eine bescheidene Aufgabe, dennoch eine ehrenvolle.

Kontakt
Karsten Krüger
Schriftleiter des Bildungsmagaz!ns
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