Zum Inhalt springen

Schwerpunkt Beziehungsarbeit

„Die Ewigmorgigen“

„Die Katastrophe der digitalen Bildung“ und was das mit Beziehung zu tun hat. Interview mit dem Autor Ingo Leipner (Teil 1)

Künstler Ralf Schreiber animiert zur Feinarbeit beim Projekt Sunny Sounds an der Immanuel-Kant-Schule in Bremerhaven | Foto: Susanne Carstensen

Wieso Katastrophe? Unsere Bildungssenatorin zeigt sich lächelnd bei der ipad Übergabe an Schulen?  Ihrer Meinung nach läuft digital alles prima. Um das Fazit mal vorwegzunehmen: Wie kommt es zu diesen diametral unterschiedlichen Bewertungen der Digitalisierung in Schulen bis heute?

Die Bildungspolitik glaubt bis heute in der Digitalisierung einen heiligen Gral gefunden zu haben. Das Digitale wird fast religiös überhöht – und wer heute eine Rede zur Zukunft hält, kommt ohne einen euphorischen Hinweis auf die segensreiche „digitale Revolution“ nicht aus. Wenn sich Menschen zur digitalen Avantgarde zählen, verteidigen sie digitale Systeme mit Zähnen und Klauen. Ich habe in vielen Gesprächen oft das Gefühl, es geht zu wie im Sandkasten, wo kleine Kinder mit Förmchen werfen, sobald ihnen jemand ihr Lieblingsspielzeug wegnehmen will.

Eine Katastrophe ist dabei, wie einseitig Politik und Wirtschaft digitale Themen auf die Agenda setzen, etwa bei dem so genannten Digital-Gipfel der Bundesregierung, den ich selbst in Saarbrücken und Ludwigshafen erlebt habe. Keine kritische Diskussion, keine kritischen Geister, kein Hinterfragen der digitalen Mantren, keinerlei Diskurs, der diese Bezeichnung verdient hätte. Stattdessen ein Hochamt auf die digitale Zukunft, die „alternativlos“ auf uns zurollt. Es ist der bedingungslose Glaube an einen technischen Fortschritt, der wie von selbst alle Probleme der Gesellschaft löst. Menschen mit dieser Haltung lassen sich als „Ewigmorgige“ bezeichnen!

In den Diskussionen kommt es immer wieder zu dem Punkt, wo Studien herhalten für die Untermauerung der eigenen Argumente. Wie kommen wir sinnvoll aus dieser Endlosschleife?

An wissenschaftlichen Erkenntnissen kommen wir nicht vorbei, dafür ist Wissenschaft viel zu wichtig. Aber wir müssen immer fragen: Aus welcher Ecke kommen die Studien? Stehen gewisse Interessen im Hintergrund? Die „Bertelsmann Stiftung“ ist bekannt für ihre vielen Studien zu den digitalen Defiziten an deutschen Schulen. Da muss es erlaubt sein, an den „Bertelsmann Konzern“ zu erinnern, der mit digitaler Bildung global Milliarden-Umsätze erwirtschaften will. Genau den Hintergrund zu prüfen, wäre ein erste Schritt aus der Endlosschleife.

Das Thema dieser Ausgabe unserer Zeitschrift ist „Beziehung“. Wie passt denn digitales Lernen und Beziehung zusammen?

Neulich war ich zu einer Sozialkundestunde einer zehnten Klasse aus Bayern eingeladen, als Teams-Konferenz. Thema: Demokratie und Internet. Die Schüler hatten gute Fragen vorbereitet – und ein IT-Spezialist aus Lübeck antwortete. Das gewonnene Material floss in einer Zeitung ein, die sogar von Schülern selbst layoutet wurde, in einem professionellen Design. Diese aktive Form digitalen Lernens ist klasse! Der IT-Einsatz erfolgt altersgerecht, der Fernunterricht besteht nicht aus Arbeitspaketen oder einer frontalen „Bespaßung“, der Schüler schnell abschalten lässt. Das Internet schafft hier Möglichkeiten, den Horizont zu erweitern – und vor allem mit Menschen in Kontakt zu kommen, die nicht einfach mal so im Unterricht vorbeischauen würden. Und: Das Zeitungsprojekt bringt die Lehrerin und ihre Schüler in einen digitalen Arbeitszusammenhang, der später im Berufsleben selbstverständlich sein wird. So lassen sich auch ohne Präsenz Beziehungen pflegen, die sonst in einem langen Lockdown verkümmern würden.

So spricht der Autor des Buches „Die Lüge der digitalen Bildung“?

Erstaunlich, oder? Denn ich bin der Meinung: Wir müssen nach Altersgruppen unterscheiden, Kindergärten und Grundschulen müssen bildschirmfrei bleiben, aus entwicklungspsychologischen Gründen. Und ab einem Alter zwischen 12 und 14 Jahren ist es entscheidend, ob digitale Medien aktiv oder passiv genutzt werden. Das Sozialkunde-Projekt ist ein schönes Beispiel für den sinnvollen, aktiven Einsatz.

Jetzt muss langsam ein großes Aber kommen, oder?
Welche Rolle spielen die Beziehungen?

Ja, natürlich: Selbst wenn jetzt alle Schulen und Schüler optimal mit Geräten und Software ausgerüstet wären … Diese „schönste aller Digitalwelten“ würde niemals in der Lage sein, eine entscheidende Quelle sprudeln zu lassen: die spezielle Kraft des Menschen, durch Resonanz und Begegnung vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, die immer das soziale Fundament für Lernprozesse bilden. Dazu müssen sich Menschen direkt in die Augen schauen – ohne Technik als Hindernis! So fehlte beim „Homeschooling“ der entscheidende Faktor: ein Lehrer als Mensch, der in Beziehung tritt, um freundlich Wertschätzung zu äußern. Ein Mensch, der seelisch schwingungsfähig ist, weil Beziehungen durch wechselseitige Resonanz lebendig werden. Ein Mensch, der real in seinem emotional-kognitiven Wesen zu spüren ist und nicht auf das Briefmarkenformat eines Videochats reduziert wird. Ein Mensch, der durch klares Feedback Kinder ermutig, ihren Lernprozess fortzusetzen.

Wenn vorher bereits eine gute Beziehung zu Schülern bestand, lässt sich das auch stückweise in die virtuelle Sphäre retten. Wir müssen aber nach Corona genau prüfen, wieviel digitale Infrastruktur wir bewusst zurückbauen, um wieder Resonanz zwischen Menschen möglich zu machen. Digitaler Fernunterricht ist zwar eine nützliche Krücke. Wer aber wieder gehen kann, schmeißt Krücken gerne in den Keller. Und: Corona sollte auf keinen Fall dauerhaft Bildschirme in die Grundschule spülen!

Teil 2 des Interviews folgt in BLZ 02-03-2021

Diplom-Volkswirt Ingo Leipner ist seit 2005 VWL-Dozent an der "Dualen Hochschule baden-Württemberg in Mannheim