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Der Gesetzentwurf zur Tarifeinheit

Dieses Gespräch führte Daniel Behruzi. Es erschien am 31. Oktober 2014 in der „Jungen Welt“. Auf Bitte der BLZ hat Wolfgang Däubler es vor BLZ-Redaktionsschluss noch einmal durchgesehen und aktualisiert. Vielen Dank an den Autor und die „Junge Welt“.

Am 11. Dezember 2014 hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur sogenannten Tarifeinheit beschlossen. Das Streikrecht soll nach Auffassung der Arbeitsministerin dabei unangetastet bleiben. Wie interpretieren Sie dies?

Im vorgeschlagenen Gesetzestext wird in der Tat das Streikrecht nicht erwähnt.. In der amtlichen Begründung heißt es aber sinngemäß: Wenn in einem Betrieb der Tarifvertrag einer Mehrheitsgewerkschaft gilt und eine Minderheitsgewerkschaft dennoch zum Streik aufruft, ist dieser rechtswidrig, weil »unverhältnismäßig«. Das steht zwar nur an einer relativ versteckten Stelle in der Begründung, es steht aber drin. Insofern ist es nicht richtig, wenn man sagt, das Streikrecht sei nicht berührt.

Öffentlich argumentiert die Ministerin, es sollten lediglich »Anreize und ein Rahmen für eine gütliche Einigung im Falle von Tarifkonflikten in einzelnen Betrieben« geschaffen werden.
Es stimmt schon, dass ein gewisser Anreiz dafür geschaffen wird, sich zusammenzuschließen. Es gibt aber einen grundlegenden Unterschied zwischen Anreizen und Zwängen. Niemand kann zum Beispiel die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) dazu zwingen, zusammenzuarbeiten, wenn sie das nicht wollen. Es gehört nun einmal zur Gewerkschaftsfreiheit, dass man sich Partner aussuchen kann, aber auch, dass man stattdessen sagt: Wir machen es alleine besser. Alles andere ist ein Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit.

Die Pilotenvereinigung Cockpit nennt das Gesetz deshalb »Verfassungsbruch mit Ansage«. Nahles beharrt hingegen darauf, es sei »verfassungsfest«.
Meiner Ansicht nach hat die Vereinigung Cockpit recht, wenn man die Begründung des Gesetzes hinzunimmt. Wenn man nur das Gesetz liest, heißt es dort, dass der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft im Kollisionsfall Vorrang vor dem Vertrag der Minderheitsgewerkschaft hat. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, das gibt es schon heute bei Tarifverträgen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen, bei denen nur eine Vereinbarung zur Geltung kommen kann. Man muss aber bedenken, dass sich eine solche Regelung in ein Gesamtsystem des Tarifvertrags- und Arbeitskampfrechts einfügt. Und hier ist eben die Folge, dass eine Minderheitsgewerkschaft de facto nicht mehr streiken kann, wenn die Mehrheitsgewerkschaft einen Tarifvertrag abgeschlossen hat. Das ist in Deutschland deshalb besonders schlimm, weil der Streik für einen Tarifvertrag hierzulande die einzige unbestritten legale Form des Arbeitskampfs ist. Wenn es eine solche Regelung beispielsweise in Frankreich gäbe, wäre das für die Minderheitsgewerkschaft sehr viel unproblematischer, weil sie trotzdem streiken könnte. Dort kann jedes Arbeitnehmerkollektiv die Arbeit niederlegen. Wenn es hingegen in Deutschland einer Organisation faktisch unmöglich gemacht wird, für einen Tarifvertrag zu streiken, dann wird sie zum Bittsteller, weil sie gar keinen legalen Druck mehr ausüben kann. Daher teile ich die Bedenken, die die Vereinigung Cockpit und andere geäußert haben.

Das heißt, Sie gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz am Ende wieder kassieren wird?
Ich hoffe, dass die Vernunft schon vorher siegt und entweder die Bundesregierung oder das Parlament das Gesetz doch nicht verabschiedet. Wenn sie das – aufgrund der allgemeinen Stimmung gegen die Streiks bei der Bahn und der Lufthansa – trotzdem tun, wird Karlsruhe die Sache kassieren. Davon bin ich überzeugt.

Bis das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung fällt, dauert es oft Jahre. Was gilt in dieser Zeit?
Zunächst einmal werden viele Juristen Aufsätze und Gutachten über das Thema »Tarifeinheit« verfassen. Wenn ein Streik per einstweiliger Verfügung mit dem Argument verboten würde, zum Beispiel die GDL oder die Vereinigung Cockpit seien eine Minderheitsgewerkschaft, wäre sehr schnell die zweite Instanz erreicht. Die Gewerkschaft könnte dann sofort vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, ohne zuvor durch viele Instanzen gehen zu müssen. In Karlsruhe hätte sie die Möglichkeit, eine einstweilige Anordnung zu erwirken. Mit guten Chancen. Denn das Gericht würde gar keine inhaltliche Prüfung vornehmen, sondern lediglich abwägen, wo das größere Übel liegt: in einem Streik, der später für unrechtmäßig erklärt wird, oder in einem rechtmäßigen Streik, der untersagt wird. Letzteres wäre deutlich gravierender. Es ist auch denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht erklärt, die Rechtswidrigkeit des Streikverbots sei offenkundig. Das hätte eine einstweilige Anordnung zugunsten des Grundrechtsträgers, also zugunsten der Gewerkschaft, zur Folge.

Dennoch würde das Gesetz eine gewisse Rechtsunsicherheit schaffen, die manche Gewerkschaften von einem Arbeitskampf abhalten könnte.
Das Gesetz hätte in der Tat eine abschreckende Wirkung gegenüber Gewerkschaften. Es gibt zudem einen paradoxen Effekt, auf den man bisher kaum hingewiesen hat: Die Gesetzesinitiative verschärft die aktuellen Konflikte. Denn wenn die GDL bei der Bahn einen Tarifvertrag auch für die Zugbegleiter erreicht, müsste sie das Gesetz zur »Tarifeinheit« nicht mehr fürchten, weil ihre tarifpolitische Vertretung anerkannt wäre. Das führt dazu, dass die GDL derzeit all ihre Kräfte mobilisiert, um eine solche Anerkennung zu erreichen. Ohne das Gesetzesvorhaben wäre die Auseinandersetzung daher womöglich schon beigelegt. Der Gesetzentwurf gießt also Öl ins Feuer, weil er den Spielraum der GDL für Kompromisse einengt. Wir können uns also auf weitere Streiks einstellen – auch wegen des Agierens der Bundesregierung.

Das gewählte Parlament soll Nahles zufolge die Entscheidung darüber, ob aus dem Gesetz eine Einschränkung des Streikrechts folgt, den Gerichten überlassen. Welche Implikationen hat das für die Gewaltenteilung?
So furchtbar ernst sollte man die Gewaltenteilung nicht nehmen. Sie läuft oft auf eine Fiktion hinaus. Denn faktisch ist es so, dass in der Geschichte der Bundesrepublik fast alle wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen von den Gerichten getroffen wurden – von der Wiederaufrüstung über die Atomwaffenstationierung bis hin zu relativ kleinen Fragen wie dem Sexualkundeunterricht in der Schule. Überspitzt formuliert: Der eigentliche Souverän in unserem Land ist das Bundesverfassungsgericht.

Die Frage der gesetzlich fixierten »Tarifeinheit« ist unter den Rechtsgelehrten stark umstritten. Der Juristentag hat im September nach kontroversen Debatten beschlossen, keine Empfehlungen abzugeben, um die Erarbeitung des Gesetzes »nicht zu stören«. Wie beurteilen Sie das?
Ich musste laut lachen, als ich das gehört habe. Beim Juristentag gab es wohl eine Absprache zwischen den Vertretern der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), dass man es nicht zu einer Abstimmung kommen lässt. Vermutlich, weil man befürchtete, dass die Position für die »Tarifeinheit« keine Mehrheit finden würde.

Ein zentrales Argument für die »Tarifeinheit« – das zum Beispiel der Bahnvorstand immer wieder vorbringt – ist, dass nicht zwei Tarifverträge für dieselbe Beschäftigtengruppe gelten könnten. Ist das so?
Überhaupt nicht. Es gibt genügend Fälle, bei denen in einem Betrieb verschiedene Tarifverträge gelten. Nehmen Sie zum Beispiel den Fall einer Unternehmensübernahme. Da bringen die Beschäftigten des übernommenen Betriebs ihre Tarifverträge mit, die laut Paragraph 613a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ein Jahr lang zwingend weiter gelten. Daneben gelten dann die Tarifverträge des aufnehmenden Betriebs, die oft mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen sind. Es gibt also viele Betriebe, in denen verschiedene Tarifsysteme, auch mit unterschiedlichen Löhnen und Arbeitszeiten, nebeneinander existieren, ohne dass das größere organisatorische Probleme verursachen würde. Ein anderes Beispiel ist die Tarifflucht: Wenn Unternehmen Tarifverträge kündigen, wirken diese für die bis dato Beschäftigten nach. Für Neueingestellte gelten bei Arbeitszeiten und Vergütung dann oftmals deutlich schlechtere Bedingungen. In solchen Fällen haben die Arbeitgeber offenbar kein Problem damit, unterschiedliche Bedingungen in ein und derselben Belegschaft umzusetzen.

Von einem gewerkschaftlichen Standpunkt aus macht das Prinzip »ein Betrieb – ein Tarifvertrag« aber doch durchaus Sinn. Schließlich ist es die historische Aufgabe der Gewerkschaften, die Konkurrenz unter den abhängig Beschäftigten zu begrenzen.
Das ist völlig richtig, aber das ist ein politisches Prinzip. Es ist eine Frage der Überzeugungsarbeit, ob die Tarifeinheit in einzelnen Betrieben zustande kommt oder nicht. Das Grundgesetz geht nun einmal davon aus, dass die Bildung von Gewerkschaften frei ist. Es kann auch mal sein, dass eine Gewerkschaft die Belange einer bestimmten Beschäftigtengruppe vernachlässigt. Um das zu verhindern, steht den Betroffenen potentiell die Möglichkeit offen, eine eigene Organisation zu gründen. Meistens greifen die bestehenden Gewerkschaften solche Bestrebungen aber auf. Gut funktioniert hat das beispielsweise bei den Betriebsfeuerwehren: Dort hat man jetzt ordentliche Tarifverträge abgeschlossen, seither sind die ganzen Gerüchte über die Bildung einer eigenen Feuerwehrgewerkschaft verschwunden. Wo die Einheitsgewerkschaft auf so etwas nicht reagiert, ist es eben anders. Das ist vor allem bei ver.di der Fall. Wenn man Ärzte, Fluglotsen oder die Kollegen im Cockpit tarifpolitisch schlecht vertritt, darf man sich nicht wundern, wenn diese ihre eigenen Organisationen gründen. In der Metallindustrie, der Chemiebranche und anderswo ist das Gespür der Gewerkschaft hingegen so gut, dass sie in der Lage sind, spezifischen Gruppeninteressen Rechnung zu tragen.

Warum ist das bei ver.di zum Teil anders?
Das hat mit der sehr unübersichtlichen Struktur der Dienstleistungsgewerkschaft zu tun. Vor allem aber zeigt sich: Das ganze Problem der »Tarifeinheit« ist im Grunde eines des privatisierten Staatssektors. Die Krankenhäuser, die Bahn und der Flugverkehr waren einmal voll in staatlicher Hand. Nun sind sie privatisiert oder funktionieren zumindest wie privatwirtschaftlich organisierte Bereiche. Nur dort stellt sich die Frage konkurrierender Gewerkschaften. In allen anderen Branchen funktioniert die Tarifautonomie auf Basis der Einheitsgewerkschaft recht gut.

Es ist doch paradox, dass die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, die von der Tarifkonkurrenz am stärksten betroffen ist, eine klar ablehnende Haltung zum Gesetz über »Tarifeinheit« einnimmt, während die Spitzen der Industriegewerkschaften und des DGB das Projekt hinter den Kulissen ganz offensichtlich unterstützen. Wie ist das zu erklären?
Ver.di ist – bei all ihren Fehlern – eine sehr demokratische Gewerkschaft. Ursprünglich war die ver.di-Führung die treibende Kraft hinter dem gemeinsam mit der BDA vorangetriebenen Projekt der »Tarifeinheit«. Diese Haltung haben etliche ablehnende Beschlüsse von Fachbereichen, Bezirken und Landesbezirken korrigiert. Dies ist einer der ganz seltenen Fälle, in dem eine innergewerkschaftliche Basisbewegung gegen den Bundesvorstand einen Politikwechsel durchgesetzt hat. Das geschieht sonst so gut wie nie. Bei der IG Metall und der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) ist die Unterstützung für das Gesetz zur »Tarifeinheit« meines Erachtens Ausdruck einer allzu ernst genommenen Sozialpartnerschaft. Man hat sich mit der BDA 2010 darauf verständigt, gemeinsam für ein solches Gesetz einzutreten. Daran fühlen sich diese Gewerkschaftsvorstände offenbar immer noch gebunden. Es ist eine Art Nibelungentreue gegenüber den Arbeitgebern. Und warum sich die Arbeitgeber selbst so entschieden für die »Tarifeinheit« engagieren, ist klar: Sie sehen, dass es sehr viel schwieriger ist, mit den Spartengewerkschaften zu verhandeln, als mit den oftmals pflegeleichteren DGB-Gewerkschaften.

Warum ist es im Interesse der DGB-Gewerkschaften, das Gesetz abzulehnen und dagegen aktiv zu werden?
Zum einen, weil auch sie selbst in der Minderheitsposition sein können. Zum Beispiel hat der Marburger Bund in Krankenhäusern oft einen sehr hohen Organisationsgrad unter den Ärzten von 80 bis 90 Prozent. In Häusern, in denen ver.di schlecht organisiert ist, kann plötzlich der Marburger Bund die Mehrheitsgewerkschaft sein. Es ist also keineswegs so, dass die DGB-Gewerkschaften die »Tarifeinheit« immer für sich in Anspruch nehmen können. Es gibt daher ein organisatorisches Eigeninteresse, so etwas nicht mitzutragen. Zum anderen ist das Streikrecht ein Menschenrecht, das allen zusteht. Wenn ich damit einverstanden bin, dass das Streikrecht anderer beschränkt wird, werde ich mich irgendwann nicht mehr darüber beklagen können, dass auch mein eigenes Streikrecht eingeschränkt wird. Es gilt, den Anfängen zu wehren – auch dann, wenn man sich von einem solchen Gesetz einen vorübergehenden taktischen Vorteil verspricht. Selbst dann muss man sich dagegen wehren. Das Streikrecht darf nicht mit Zustimmung der Gewerkschaften zur Disposition gestellt werden.

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