Zum Inhalt springen

Das Phänomen Tafeln hält Einzug in Schulbücher

Eines Tages erhielt ich einen Brief, in dem um Zustimmung zum Abdruck einiger meiner Zitate gebeten wurde. Erst auf den zweiten Blick stellte ich fest, dass diese zum Abdruck für das Schulbuch „Mensch & Politik“ (Fach „Sozialkunde“) in Thüringen vorgesehen waren. Hält ein gesellschaftliches Phänomen erst einmal Einzug in ein Schulbuch ab, so ist es tatsächlich in der gesellschaftlichen Mitte angekommen.

Die Autorin Cathrin Schreier fragt in dem Modul “Der neue Sozialstaat?!“, ob der Boom der Lebensmitteltafeln ein Hinweis darauf sei, dass der deutsche Sozialstaat an seine Grenzen gekommen ist. Das ist ganz im Sinne meiner Begleitforschung zu Tafeln. Allerdings hatte ich mich zu früh gefreut. Denn die Autorin reproduziert bei näherem Hinsehen mit hypnotischer Redundanz lediglich die oft zitierte Aussage, dass die Tafelidee „bestechend einfach“ sei und in der Weitergabe des Konsumüberflusses an Bedürftige bestehe. Damit verstärkt sie lediglich politisch erwünschte Argumentationsfiguren: „Die Tafeln helfen so wirtschaftlich benachteiligten Menschen, eine schwierige Zeit zu überbrücken, und geben ihnen dadurch Motivation für die Zukunft – und verhindern gleichzeitig, dass wertvolle Lebensmittel im Müll landen.“ (Schreier 2012: 109). Alle Aussagen dieses Satzes wurden von der Tafelforschung inzwischen ganz oder teilweise widerlegt.

Aber woher soll das die Autorin auch wissen? Die einzige zitierte Quelle ist die offizielle Webseite der Lobbyvertretung der Tafeln, die Seite www.tafel.de des „Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V.“ Dort wurden zehn gut klingende Behauptungen aufgelistet. Und gerade einige dieser, in PR-Lyrik abgefasster Formeln finden sich unhinterfragt im zitierten Schulbuch. Offen bleibt, wie Schülerinnen und Schüler auf diese Art und Weise lernen sollen, eigenständig zu denken. Die Möglichkeit zur Bewertung gesellschaftlicher Realität am Bildungsort Schule besteht in Thüringen anscheinend darin, Schüler gar nicht erst mit abweichenden Meinungen zu belästigen, die sie in ihrer kognitiven Entwicklung nur verwirren könnten.
Im nächsten Absatz versucht die Autorin dann, die Tafeln in den Kontext sozialer Gerechtigkeit zu stellen. Sie zitiert dabei aus einem nicht näher genannten Positionspapier der Diakonie. Als Quelle nutzte sie ein pdf-Dokument, dass auf meiner Webseite www.tafelforum.de veröffentlicht wurde. Hieraus erklärte sich dann die Anfrage der VG Wort. Gut gemeint, aber schlecht gemacht. Warum sie nicht das frei zugängliche Originaldokument zitiert, bleibt mir verborgen.

Verkitschung des Sozialen

Ausgerechnet Thüringen! Einerseits ist es lobenswert, dass das Thema Eingang in ein Schulbuch findet. Andererseits steht die Art der Bearbeitung des Themas in einer Entwicklungslinie, die ich an anderer Stelle bereits kritisiert habe: Die Tafeln inszenieren sich zusammen mit dem Hauptsponsor REWE als „nachhaltig“. Sie werben Spendengelder über die LIDL-Pfandflaschenaktion ein. Oder aber sie animieren Politiker dazu, sich mit öffentlichen Lebensmittelwetten zu profilieren (unterstützt von Transport- und Logistikunternehmen). Erstmals rief der Berliner Oberbür-germeister Klaus Wowereit anlässlich des Bundestafeltreffens 2010 zu einer solchen „Wetten dass...?-Aktion auf. Anlässlich des Tafeltreffens 2012 in Suhl wurde die Wettprominenz noch gesteigert. Der stellvertretende Ministerpräsident des Landes Thüringen wettete, dass seine Bürgerinnen und Bürger bis zum dreitägigen Treffen im Juni 32 Tonnen Lebensmittel spenden würden. Doch mit dem Gottschalk-Prinzip lassen sich keine strukturellen sozialen Probleme lösen.

Spektakel statt Aufklärung

Wenn soziokulturelle Existenzsicherung regelmäßig und öffentlichkeitswirksam Gegenstand spektakulärer Wetten wird, dann zeigt sich, dass mit allen Mitteln versucht wird, verfehlte Sozialpolitik durch Wohltätigkeitswettbewerbe und Kampagnenideen auszugleichen. Doch diese Rechnung wird so nicht aufgehen. Unter dem Strich wird dabei keine gerechte Zukunftsentwicklung herauskommen. Auch nicht durch Werbekampagnen wie die der Frankfurter Tafel, die sich „Ritter der Tafelrunde“ (http://ritter-werden.de) nennt. Hierbei werden „ganz normale“ Bürgerinnen und Bürger (eine Köchin, ein Pilot, ein Automechaniker) vorgestellt, die sich als „Ritter“ (gemeint ist wohl auch: Retter) für die Armen dieser Gesellschaft stilisieren. Der Rückfall in die Vormoderne (in der Armut durch Almosen gelindert, nicht aber gelöst wurde) könnte nicht deutlicher ausfallen.
Dies ist der vorläufige Höhepunkt einer nicht enden wollenden Serien an Public-Relation-Strategien. Sie sind typisch für eine Postdemokratie, in der reale Probleme einfach weginszeniert werden. Statt mit ernsthafter Politik eines der dringendsten Probleme der Zeit – Armut – anzu-gehen, sind wir bei der ideologisch untermalten symbolischen Problembehandlung angelangt. Dieser Lösungsstrategie wird beklatscht und gelobt, weil viele ein Interesse daran haben. Von diesen Interessen findet sich kein Wort im Schulbuch aus Thüringen. Institutionalisierter Kitsch hilft, notwendige Entscheidungen für nachhaltiges Handeln zu vermeiden. Mangelnde Transparenz von Interessen verhindert die Aufklärung über den tatsächlichen Sachstand zu einem Thema.
Dieses Land benötigt jedoch eine aufgeklärte Politik der nachhaltigen Armutsprävention und -bekämpfung anstatt immer neuer Ideen der Popularisierung durch plakative Almosen- und Ritterkampagnen. Und im Bildungssystem sollte es auch darum gehen, nicht-intendierte Effekte kollektiven Handelns (und Unterlassens) wie z.B. die Entstehung von Hartz-IV-Schattenökonomien und Parallelgesellschaften zu disktuieren. Alternative Quellen liefern die dazu notwendigen Informationen. Einige davon sollten auch in einem Schulbuch auftauchen.

Weiterführende Links:

Zum Autor

Stefan Selke, Prof. Dr. phil., lehrt und forscht als Soziologe an der Hochschule Furtwangen University im Lehrgebiet „Gesellschaftlicher Wandel“. Er gründete das Online-Portal www.tafelforum.de und leitet das vom Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg geförderte Forschungsprojekt „Tafel-Monitor”.

Kontakt: ses[at]hs-furtwangen.de

Zur Person: www.stefan-selke.de

Kontakt
Karsten Krüger
Schriftleiter des Bildungsmagaz!ns
Adresse Bahnhofsplatz 22-28
28195 Bremen
Telefon:  0421-33764-39
Mobil:  0173 6831678