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„Bildungsgipfel“ – Zahlenspielereien in der großen Politik

Herbst 2009 Fast zwei Jahre ist es her, dass die Ministerpräsidenten der Länder gemeinsam mit dem Bund auf einem „Bildungsgipfel“ beschlossen, die Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung bis 2015 auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Dabei sollten die nationalen Bildungsausgaben auf sieben Prozent und die nationalen Forschungsausgaben auf drei Prozent am BIP steigen.

Gleich nach dem „Bildungsgipfel“ begann die Debatte darüber, was mit den „sieben Prozent für Bildung“ eigentlich gemeint sei – sprich: wie hoch sind die Bildungsausgaben eigentlich? Hintergrund sind zwei verschiedene Zahlen, die einerseits auf der nationalen Berichterstattung des Statistischen Bundesamtes und andererseits auf den internationalen Vergleichen der OECD beruhen. So gab das Statistische Bundesamt für 2005 an, Deutschland gebe 6,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung (des BIP) für Bildung aus, während die OECD nur 5,1 Prozent angab. (Beide Zahlen sind richtig, sie entstehen jedoch nach einer anderen Abgrenzung.) Je nachdem, welche Zahlen man verwendet erhält man folglich andere „Lücken“ bis zum „Sieben-Prozent-Ziel“ in der Bildungsfinanzierung.
Ein Vergleich ergab, dass das Bildungsbudget nach OECD-Rechnung um rund ein Drittel (plus 43 Milliarden Euro) gesteigert werden müsste. Nach dem Konzept des Statistischen Bundesamtes wäre hingegen eine Steigerung um nur 11 Prozent (plus 15,6 Milliarden Euro) ausreichend gewesen.

Tabelle 1: Vergleich der Bildungsausgaben nach OECD und Statistischem Bundesamt mit dem „Sieben-Prozent-Ziel“ des „Bildungsgipfels“ (Referenzjahr 2005; BIP: 2.245 Mrd. Euro)

 

Konzept der OECD (2005)

Konzept des Statistischen Bundesamt (2005)

Zielmarke 7,0 Prozent

Differenz des OECD-Konzepts zur Zielmarke

Differenz des Konzepts des Statistischen Bundesamtes zur Zielmarke

Gesamte Bildungs-
ausgaben

5,1 %
114,5 Mrd.

6,3 %
141,6 Mrd.

7,0 %
157,2 Mrd.

+37,3 %
+ 42,7 Mrd. Euro

+11,1 %
+ 15,6 Mrd. Euro


Quelle: Statistisches Bundesamt, Bildungsfinanzbericht 2008, S. 77-79, OECD, Education at a Glance 2008, Page 240.

Für eine wirklich sachorientierte Vorgehensweise, die dringend nötige Reformen und Modernisierungen in Deutschland angehen würde, veranschlagt der Bildungsforscher Roman Jaich (Jaich, Roman: Reicht das Zehn-Prozent-Ziel des Dresdner Bildungsgipfels für eine nachhaltige Reform des Bildungssystems? http://www.boeckler.de/pdf_fof/S-2009-280-5-1.pdf)
in einem Gutachten für die Hans Böckler Stiftung insgesamt einen Ausgabenbedarf von zusätzlichen 40 Milliarden Euro.

Sommer 2009

Auf eine Anfrage im Deutschen Bundestag hatte die Regierung im Januar 2009 angegeben, sie beziehe sich auf die nationalen Zahlen, mithin 6,3 Prozent in 2005. Notwendig wäre also eine Erhöhung von rund 16 Milliarden Euro. Damit war die erste Korrektur des ambitionierten Ziels vollzogen. Nun hatten die Länder und der Bund bis zum nächsten „Bildungsgipfel“ im Herbst 2009 Zeit, sich auf eine Ausgestaltung der Ziele des ersten „Bildungsgipfels“ zu einigen.
Besondere Kreativität bei der Behebung der Finanzmisere im Rahmen der „Qualifizierungsinitiative“ zeigten die Landesfinanzministerinnen und -minister. In einer Projektion der Zentralen Datenstelle der Landesfinanzminister (ZDL) vom Sommer 2009 vermeldeten sie in den internen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern, die zehn Prozent seien eigentlich bereits erreicht. Im Beratungsergebnis der Finanzministerkonferenz vom September 2009 wird deutlich, wie diese erstaunliche Ausgabenvermehrung funktionierte: Die Landesfinanzministerinnen und -minister rechnen mit Geld, das nicht zusätzlich ausgegeben werden muss. Es geht um die Konstruktion bestehender „Ausgaben“, die dem Bildungsbereich neu zugeordnet werden könnten. So verlangen sie die Anrechnung von Steuermindereinnahmen durch Steuervergünstigungen in der Bildungs- und Forschungsfinanzstatistik. In der Hauptsache geht es dabei um ca. 4,4 Milliarden Euro zusätzliche Leistungen aus dem Kindergeld und den Kinderfreibeträgen für Kinder jenseits der Volljährigkeit, die bisher nach Ansicht der Landesfinanzministerinnen und -minister nicht ausreichend angerechnet wurden. Sie empfehlen sogar, darüber nachzudenken, alle Leistungen aus dem Kindergeld und den Kinderfreibeträgen (auch für Kinder unter 18 Jahren) als Bildungsausgaben auszuweisen. Zusätzlich entdeckten sie knapp eine Milliarde Euro steuerliche Mindereinnahmen aus weiteren 38 bunt zusammen gewürfelten Steuervergünstigungen, die sie als Bildungsausgaben deklarieren wollten. So beispielsweise die Steuermindereinnahmen aus dem ermäßigten Umsatzsteuersatz für Bücher (180 Millionen Euro jährlich), die Absetzung von außergewöhnlichen Belastungen für die Berufsausbildung eines auswärtig untergebrachten volljährigen Kindes (140 Millionen Euro jährlich) oder die Absetzung von erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten (300 Millionen Euro jährlich). Dabei seien noch „Probleme“ virulent, wie etwa der Bildungsanteil bei manchen Steuervergünstigungen zu beziffern sei, beispielsweise bei der 85-prozentigen Steuerbefreiung bei der Vererbung von Grundbesitz. Der Bundesminister der Finanzen hatte im September 2009 sein Einvernehmen zu den Vorschlägen der Arbeitsgruppe der Finanzministerkonferenz geäußert.
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP vom September 2009 sorgte jedenfalls nicht für weitere Klarheit. Er verspricht in Bezug zu den Bildungsfinanzen nur eine Erhöhung des Bundesetats für Bildung und Forschung innerhalb der Legislaturperiode um insgesamt zwölf Milliarden Euro, verteilt auf vier Jahre. Zur Erreichung des Zehn-Prozent-Ausgabenziels heißt es im Koalitionsvertrag lediglich: „Wir werden Maßnahmen ergreifen, die es zudem Ländern, Wirtschaft und Privaten erleichtern, ihre jeweiligen Beiträge bis spätestens 2015 ebenfalls auf das 10 Prozent-Niveau anzuheben.“
Damit wurde eine weitere ungeklärte Frage angesprochen: Was in der Öffentlichkeit meist untergegangen ist, ist die Tatsache, dass die diskutierten Bildungsfinanzen von staatlicher und privater Seite gemeinsam aufgebracht werden sollten. Wer wie viel zahlen sollte, war völlig offen. (Bisher werden von den Bildungsfinanzen etwa 75 Prozent vom Staat und 25 Prozent von privaten Haushalten und Unternehmen aufgebracht.)

Winter 2009

Im Dezember 2009 wurden schließlich die Vorschläge der gemeinsamen Strategiegruppe und die Ergebnisse des so genannten zweiten „Bildungsgipfels“ von Bund und Ländern bekannt. Im Großen und Ganzen erfolgte eine Einigung auf die folgenden Punkte:
1. Die Bildungsausgaben der Länder sollen neu berechnet werden. Das bedeutet, dass Ausgaben in anderen Bereichen, die bereits jetzt bestehen, in Zukunft als Bildungsausgaben angerechnet werden können. Dadurch muss kein einziger Cent zusätzlich ausgegeben werden. Schon im Bildungsfinanzbericht 2009 hatte sich angekündigt, dass die Länder gerne auf solche Buchungstricks zurückgreifen würden. In Zukunft sollen beispielsweise Pensionen für Lehrkräfte (bis zu 4,6 Milliarden Euro) und fiktive Unterbringungskosten für Bildungseinrichtungen der Länder (zehn Milliarden Euro) auf die Bildungsbudgets der Länder angerechnet werden können. Durch diese Buchungstricks sinken die notwendigen zusätzlichen Bildungsausgaben für Bund und Länder auf 13 (Schätzung der Länder) bis 16 Milliarden Euro (Schätzung des Bundes).
2. Die Verteilung der zusätzlichen Milliardenbelastungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen, die im Herbst 2008 schon festgelegt worden war (Länder 50 Prozent, Kommunen 16 Prozent, Bund 10 Prozent, „Wirtschaft“ 24 Prozent), wurde noch einmal aufgeschnürt. Der Bund sagte kurz vor dem Scheitern der Verhandlungen eine Übernahme von bis zu 40 Prozent der zusätzlichen Kosten zu. Da er sich nicht unmittelbar an den Bildungskosten der Länder beteiligen darf (Kooperationsverbot seit der Grundgesetzänderung im Zuge der Arbeit der Föderalismuskommissionen), ist noch nicht geklärt, wie er seine 40-prozentige Beteiligung in der Praxis umsetzen soll. Hier wird vor allem über eine Neuaufteilung der Einnahmen durch die Mehrwertsteuer zwischen Bund und Ländern und über neue Bundesprogramme diskutiert. Eine genaue Festlegung der Ausgabenweise wurde auf das nächste Treffen zwischen Bund und Ländern im Juni 2010 vertagt.
3. Wie groß die jeweiligen Finanzierungsanteile sein werden, die durch private bzw. durch öffentliche Bildungsausgaben gedeckt werden sollen, bleibt immer noch völlig unklar. In einer Pressemitteilung des BMBF zu den Vereinbarungen vom Dezember 2009 heißt es sogar: „Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Bund, Länder und Kommunen sowie Wirtschaft und Private im Jahr 2015 mindestens 13 Milliarden Euro zusätzlich investieren.“ Damit ist selbst für den durch Buchungstricks reduzierten Beitrag von 13 Milliarden „im Jahr 2015“ offen, zu welchen Teilen er durch öffentliche und zu welchen er durch private Bildungsausgaben gedeckt werden soll.

Sommer 2010

Der nächste „Bildungsgipfel“ fand am 10. Juni 2010 statt. Das Ergebnis kann in einem Satz zusammengefasst werden, der tags darauf die Medien beherrschte: „Bildungsgipfel gescheitert“. Bund und Länder konnten sich schlichtweg nicht darauf einigen, wer die zusätzlichen Ausgaben finanzieren sollte. Die Länder forderten einen höheren Teil der Mehrwertsteuer und der Bund sagte Nein.
Es bleibt festzuhalten: von den ursprünglich als notwendig erachteten Ausgaben in Höhe von 42,7 Milliarden Euro blieben nur 13 Milliarden übrig – und selbst diese sind jetzt wieder fraglich.

Nachtrag:

Nach den neuesten Zahlen der OECD für das Jahr 2006 – im September 2009 veröffentlicht – gibt Deutschland im internationalen Vergleich nach wie vor viel zu wenig für Bildung aus. Danach fehlen zur Zielerreichung mittlerweile satte 51 Milliarden Euro.
Bei dem katastrophalen Sparpaket, das die Bundesregierung im Juni 2010 bekannt gegeben hat, wurde Bildung ausgenommen. Dazu sollte man wissen, dass der Bund nur für knapp 20 Prozent der öffentlichen Bildungsausgaben steht. Die Länder sind mit rund 80 Prozent die Hauptfinanziers. Und in den Ländern begannen in diesem Frühjahr die Sparrunden – auch in der Bildung. Angesichts der völlig unsinnigen „Schuldenbremse“ werden diese wohl noch weitergehen (vgl. Eicker-Wolf in diesem Heft).

Der Autor:

  • Gunter Quaißer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

Der Artikel beruht auf dem im MEMORANDUM 2010 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik erschienen Kapitel „Bildung in der Dauerkrise“. http://www.alternative-wirtschaftspolitik.de

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