Bremen - Rostock
Als im November 1989 die Grenzen der DDR geöffnet wurden, begann relativ schnell die Kontaktaufnahme der westdeutschen Gewerkschaften mit den ostdeutschen Kolleg*innen. Im Februar 1990 reiste eine Bremer DGB-Delegation nach Rostock und vereinbarte Treffen der Einzelgewerkschaften. Für die GEW waren das die „Gewerkschaft Unterricht und Erziehung“ (GUE) und die „Gewerkschaft Wissenschaft“ (GW). Es gab gegenseitige Besuche, die BLZ berichtete ausführlich über die Rostocker Schulen. Nach dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik am 03. Oktober 1990 folgte bald die gewerkschaftliche Vereinigung. Die westdeutschen Landesverbände hatten bereits Beziehungen zu den Untergliederungen der GUE und der GW aufgebaut, die nach dem 09. November 1989 neue Vorstände gewählt hatten. Zugleich waren aber in einigen Städten und Regionen der DDR Mitglieder aus der GUE und der GW ausgetreten und strebten einen direkten Anschluss an die GEW an. Nach kontroversen Debatten im GEW-Hauptvorstand wurde im August 1990 mit den Vorständen von GUE und GW ein gemeinsamer Aufruf zum Eintritt in die GEW vereinbart. Sowohl die Untergliederungen der alten Gewerkschaften als auch die neuen Gruppen wurden jetzt in die GEW aufgenommen. Auf dieser Basis gab es im März 1991 den ersten gemeinsamen Bundesgewerkschaftstag mit den fünf neuen Landesverbänden.
In den neuen Ländern stieg mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und den staatlichen Abbaumaßnahmen der Beratungsbedarf der Kolleg*innen stark an. Die westdeutschen GEW-Landesverbände schickten erfahrene Kolleg*innen zur Unterstützung. Aus Bremen war die ehemalige Landesvorsitzende Helga Ziegert zur Beratung beim Aufbau von Personalvertretungen zeitweise offiziell nach Rostock abgeordnet. Die folgenden Jahre waren in der ehemaligen DDR durch Entlassungen, Einstellungsstopp, Zwangsteilzeit und die Restauration des Gymnasiums gekennzeichnet. Dies sollte auch Rückwirkungen auf die bildungspolitischen Bedingungen in der „alten“ Bundesrepublik haben.
Das Schulsystem wird zur Reformruine
Anfang 1990, eineinhalb Jahre vor der Bürgerschaftswahl, war Bildungssenator Horst-Werner Franke zurückgetreten. Ihm folgte der bisherige Sozialsenator Henning Scherf. Im Vorwahlkampf lockerte der Senat den Einstellungsstopp und die SPD versprach für die nächste Legislaturperiode die Wiederbesetzung jeder freiwerdenden Stelle. Die GEW forderte angesichts der bevorstehenden Überalterung der Lehrer*innenschaft „1000 Stellen bis 1995“, d.h. 200 Einstellungen im Jahr. Die Grünen unterstützten diese Forderung. Ein weiteres Wahlkampfthema war die Schulpolitik. Die GEW organisierte im Februar 1991 den Kongress „Bildungspolitik in Bremen – Spielwiese und Spardose“. Dort wurde u.a. die Weiterentwicklung der bestehenden Sek.-I-Zentren zu „einer Schule für Alle“ in Form von „Stadtteilgesamtschulen“ gefordert. Auf der Gegenseite bildete sich eine Initiative „Schulvielfalt“, die den Erhalt des Gymnasiums forderte. Zentrum dieser Gegenbewegung war das gerade in ein Schulzentrum umgewandelte Kippenberg-Gymnasium, dessen Elternsprecherin Bürgerschafts-Kandidatin der FDP war.
Am 29. September 1991 verlor die SPD über 10% und damit die absolute Mehrheit. Die rechte DVU zog in das Parlament ein. SPD, FDP und Grüne bildeten eine Ampelkoalition. Der FDP gelang es, in der Koalitionsvereinbarung zwei neue Gymnasien ab dem Schuljahr 1993/94 zu verankern. Statt der versprochenen Wiederbesetzung jeder freiwerdenden Stelle wurde die Streichung weiterer 230 Stellen vereinbart. Die Mitgliederversammlung der Grünen lehnte das Ergebnis zunächst ab und billigte es nach einer Wiederholung mit knapper Mehrheit. Im Frühjahr 1992 häuften sich die Proteste aus dem Schulbereich. Am 26. Februar demonstrierten Eltern, Lehrkräfte und Schüler*innen vor der Bürgerschaft für Neueinstellungen. In der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes im April/Mai wurden mehrere Schulen, in denen die angestellten Lehrkräfte in der Mehrheit waren, bestreikt und blockiert. Und schließlich folgte am 26.Mai eine Großkundgebung auf dem Marktplatz während der Unterrichtszeit mit 15000 Teilnehmer*innen, zu der GEW, ZEB und GSV aufgerufen hatten. Trotz dieser Massenproteste setzte die Koalition ihre Kürzungspolitik fort.
Die drei Parteien hatten sich darauf verständigt, eine Schulreform-Kommission unter Leitung von Prof. Wolfgang Klafki einzusetzen, die „unter Berücksichtigung der Situation in den anderen Ländern“ Empfehlungen erarbeiten sollte. Unter dem Titel „Ampel auf grün für Gymnasien?“ veranstaltete die GEW parallel drei Hearings, in denen der Reformbedarf des bestehenden Systems benannt und eine weitere Integration auf der Grundlage des Schulgesetzes von 1975 gefordert wurde. Die Schulreform-Kommission stellte in ihrem Abschlussbericht im Februar 1993 fest, dass „kein begründeter Anlass“ bestehe, „eine prinzipielle Revision des Schulaufbaus, nämlich des Stufenprinzips, zu empfehlen“. Allerdings müsse die Kooperation zwischen den Stufen verbessert werden. Der Senat hatte dieses unbequeme Kommissionsergebnis jedoch gar nicht erst abgewartet und bereits im Dezember 1992 den Erhalt der zwei noch bestehenden Gymnasien und den Aufbau von zwei weiteren beschlossen. Noch eine Schritt weiter ging die Koalition mit der Novellierung des Schulgesetzes im Dezember 1994. Der § 3, der zur Integration des Schulsystems verpflichtete, wurde gestrichen.
Eine weitere, ebenso schwer wiegende Weichenstellung folgte im März 1995 mit dem „Ortsgesetz über die Schulstandortzuweisung und Schulstandortwahl“, das die Schulbezirke nach der Grundschule aufhob. Damit wurde ein Konkurrenzsystem etabliert, das bis heute – in Kombination mit den restaurierten Gymnasien – der sozialen und leistungsmäßigen Entmischung der Schulen Vorschub leistet. Im Zuge der Einführung des Wettbewerbsprinzips unter dem Motto der „freien Schulwahl“ initiierte Bildungs-Staatsrat Reinhard Hoffmann 1992 mit einem „Autonomie-Papier“ eine Debatte, die bei vielen Schulleitungen die Hoffnung auf erweitere Handlungsspielräume weckte. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass mit einer erweiterten Selbstständigkeit weniger die pädagogische Autonomie, als vielmehr die Entlastung der Behörde durch Verlagerung der wirtschaftlichen Verantwortung auf die Einzelschulen unter den Bedingungen des Mangels und der Rotstiftpolitik gemeint war. Mit diesen Maßnahmen war das Bremer Schulsystem von 1975 zur Reformruine geworden und der Grundstein für eine neoliberale Umgestaltung war gelegt.