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40 Jahre “Radikalenerlass”

Am 28.01.1972 beschloss die Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ . Bundeskanzler Brandt bekräftigte sie für den Bereich des Bundes am selben Tag. Der Bremer Senat unter Koschnick übernahm die Grundsätze für das Land Bremen am 02.02.1972. Damit war der „Radikalenerlass“ geboren.

Er kam unscheinbar daher, als Verwaltungsvereinbarung, ohne irgendein Gesetz zu ändern. Vordergründig ging es nur um die Vereinheitlichung der Rechtspraxis zur Frage der Anforderungen an die politische Treupflicht von Staatsbediensteten, insbesondere von Bewerbern um eine Einstellung in den öffentlichen Dienst. Tatsächlich aber war dies der Startschuss zu der Ära der „Berufsverbote“ in der BRD, die das politische Verhalten einer ganzen Generation prägen sollte, auf beiden Seiten.

Hier die 68er, die dem in der Adenauerzeit gewachsenen Gemeinwesen die fehlende Aufarbeitung des Faschismus vorwarfen, in seinem führenden Personal die Ewig-Gestrigen markierten und überall restaurative Grundzüge beklagten. Die in der Westorientierung der BRD den Anschluss an das imperialistische internationale Kapital sahen und den Austritt aus der NATO forderten. Die in ihrer Kritik der antikommunistisch orientierten Staatsideologie mit sozialistischen Entwürfen umgingen und sich solidarisch fühlten mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Die sich in ihrer Alltagskultur abgrenzten von den überkommenen Pattern von Sexualität, Ehe und Familie, die letztlich alles anders und besser machen wollten und das Gewohnte erst mal in Frage stellten. Vor allem in den Universitäten und Schulen waren soziale Zusammenhänge entstanden, die sich intensiv mit der Tradition der revolutionären Arbeiterbewegung auseinander setzten und Anschluss suchten an die internationale Auseinandersetzung um Wege der Veränderung der kapitalistischen Gesellschaften. - Dort die Elterngeneration, die Faschismus und Krieg erlebt hatte. Die sich danach möglichst mit dem „ohne - mich“ aus der Politik herausgehalten hatte; die auf die Forderung nach einer besseren Gesellschaft mit dem Ruf „geh doch nach drüben“ reagierte und allergisch gegen alle Veränderungen fürchtete, das in der Wiederaufbauphase erreichte kleine Glück an die langhaarigen Rebellen zu verlieren, die den Marsch durch die Institutionen angekündigt hatten.

Im Unterschied zu Frankreich und Italien, die selbstverständlich große kommunistische Parteien hatten, kam es in der BRD zum KPD-Verbotsverfahren mit Urteil von 1956. Bereits 1949 erfolgte auch - einmalig in Europa - in der Verfassung eine Festlegung des Staatsdienstes auf die herkömmlichen Grundsätze des Berufsbeamtentums und 1956 dann im Beamtenrecht eine ungewöhnliche Übersteigerung der Loyalitätsanforderungen zu einer politischen Treuepflicht, die sich nicht mehr wie unter der Weimarer Reichsverfassung auf die Gewährleistung der Neutralität der Amtsführung (bei außerdienstlicher Freiheit der politischen Meinungsäußerung) beschränkte, sondern in unverkennbarer Anlehnung an § 4 des faschistischen Beamtengesetzes vom 7.4.1933 (jederzeitig rückhaltloses Eintreten für den nationalen Staat) das „jederzeitige Eintreten für die freiheitlich demokratische Grundordnung(fdGO) im Sinne des Grundgesetzes durch sein gesamtes Verhalten“ forderte. Von den Gewerkschaften unterstützt wurde der gesamte öffentliche Dienst gleichfalls in die Verpflichtung genommen. Dies hatte zur Folge, dass nun ein Postbote in der BRD den selben Verhaltensforderungen unterlag wie der Generalinspekteur der Bundeswehr.

Bis 1970 hatten die Vorschriften zur Verfassungstreue in der Praxis keine große Bedeutung. Viele ehemalige KPD-Mitglieder waren in den öffentlichen Dienst gelangt bzw. darin verblieben. Die Behörden sahen auch scheinbar tatenlos zu, wie sich wieder Organisationen im Rückgriff auf die Tradition der KPD bildeten. An den Schulen, in den Gewerkschaften und an den Universitäten waren zahlreiche Gruppen tätig, die erneut Marx und Engels lasen und die Gewerkschaften an die Tradition des revolutionären 1.Mai erinnerten. Das konnte nur so verstanden werden, dass die Behörden den Weg der offenen politischen Auseinandersetzung mit den neuen Revolutionären Parteien“ vorzogen gegenüber Parteiverboten. Nach der damaligen Rechtsprechung des BVerfG sollte überdies niemand mit rechtlicher Wirkung die Verfassungswidrigkeit einer Partei geltend machen dürfen, solange sie nicht vom BVerfG verboten worden war. Folgerichtig gab es daher auch keine Liste von Organisationen, die Bund und Länder für verfassungswidrig und mit einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst nicht vereinbar hielten.

Ende der 60er Jahre ändert sich das Klima. Die SPD kann im Herbst 1969 die CDU in der Regierung ablösen. Brandt leitet die neue Ostpolitik „Wandel durch Annäherung“ ein, die von der CDU hart bekämpft wird. Sie treibt die SPD wegen angeblicher Kommunistennähe vor sich her. Die SPD muss ich verlässlich zeigen, sich nach links abgrenzen.

Das trifft jetzt die erste Generation der jungen Linken, die ihre Ausbildung an den Unis abgeschlossen hatten und jetzt den „Marsch durch die Institutionen“ antraten. “Wir lassen uns unseren Staat nicht von denen kaputtmachen” war der verbreitete Ruf der Konservativen. Die Regierungen des Bundes und der Länder einigten sich im Januar 1972, mit dem Radikalenerlass den Zugang zum öffentlichen Dienst scharf zu überwachen. Zugleich gab der Erlass das Feld frei zu einer Neuformierung der ganzen Gesellschaft: die Gewerkschaften beeilten sich, Unvereinbarkeitsbeschlüsse zu beschließen. Unternehmer entließen als Kommunisten bekannte Arbeiter und setzten sie auf kursierende schwarze Listen, die neue Jobs verhinderten.

Die Praxis des Radikalenerlass löste einen beispiellosen Angriff auf die Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit in der BRD aus. Alle Bewerber für eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst, egal für welchen Job, wurden nun zu Hunderttausenden der Regelanfrage beim Verfassungsschutz unterworfen. Der hatte in den vergangenen Jahren nicht nur angeblich verfassungsfeindliche Organisationen untersucht, sondern umfangreiche personenbezogene Datensammlungen angelegt, beginnend mit der Tätigkeit in Schülerorganisationen und an den Universitäten. Registriert waren Teilnahme an Demonstrationen, an Versammlungen, Kandidaturen bei AStA-Wahlen, Verteilung von Flugblättern, Zeitungsverkauf, Wohnen in Wohngemeinschaften mit bekannten Aktivisten, usw.

Ebenso wurde deutlich, dass die Kommissariate der Kriminalpolizeien, die für die Verfolgung von Straftaten zuständig waren, in großer Zahl Berichte von politischen Aktionen (Demos, Betrieb von Infoständen, Verteilung von Flugblättern, Verkauf von Zeitungen) anfertigten und als „Bericht über eine Aktion“ zu irgendwelchen Akten brachten, die rein gar nichts strafbares enthielten. Sie schufen so „gerichtverwertbare Erkenntnisse“ , tauglich für Zweifel der Dienstherrn an der Verfassungstreue.
Wer glaubte, er habe sich doch nur über andere politische Positionen informieren wollen, hatte in den Augen der Einstellungsbehörden Zweifel geweckt, die er ausräumen musste, in dem er sich zumindest von allem und jedem distanzierte und seine eigenen politischen Positionen darstellte. Ein bloßes Bekenntnis zum jederzeitigen Eintreten für die fdGO genügte nicht, das konnte ja rein taktisch sein. Und die Teilnahme an Aktionen, zu denen auch verfassungsfeindliche Organisationen aufgerufen hatten, wurde regelmäßig als deren Unterstützung gewertet. Proteste von Juraprofessoren, dass damit das Parteienprivileg außer Kraft gesetzt werde, bewirkten nichts.

Soweit Erkenntnisse vorlagen, waren regelmäßig Nichteinstellungen aus pol. Gründen die Folge, oft verdeckt mit „kein Bedarf“ - wer konnte das schon prüfen? Dann folgten Säuberungen. Entlassungen aus der Probezeit und Disziplinarverfahren gegen Lebenszeitbeamte zur Entlassung, jeweils ausschließlich wegen außerdienstlicher politischer Betätigung für die DKP oder eine der K-Gruppen. Es waren nicht immer Berufsverbote im echten Sinn, die verhängt wurden, sondern häufig Tätigkeitsverbote für den öffentlichen Dienst. Jedoch allein die meist langwierigen Verfahren taten ihre Wirkung auf die Betroffenen.

Der Kreis der Opfer der Berufsverbote war aber viel größer: es waren die Hunderttausende, die sich als Schüler oder Studenten politisch „links“ engagiert hatten oder gegenwärtig noch taten und nun fürchten mussten, in die Mühlen zu geraten. Die sich jetzt „taktisch“ verhielten, indem sie ihre politischen Überzeugungen nicht mehr öffentlich äußerten und die neuen Spielregeln aus den Anhörungen erschlossen und befolgten (z.B. kein Besuch von Veranstaltungen, zu denen auch der KBW aufgerufen hatte).

Diese Folgen waren vielleicht nicht sofort in ihrer Breitenwirkung vorhergesehen worden von den Akteuren am 29.1.72, es passte aber nicht nur den Konservativen, sondern auch vielen alt gedienten SPD-Genossen durchaus in das Konzept, dass die ganze aufmüpfige 68er-Generation jetzt kräftig geduckt wurde.

Der Geist war aus der Flasche: schon wurde einzelnen die Tätigkeit bei den Jusos oder in der Vereinigung Demokratischer Juristen vorgeworfen. Das Ausland wurde aufmerksam auf die international einzigartige Kampagne der Gesinnungsschnüffelei. Insbesondere die Regelanfrage bei allen Bewerbungsvorgängen und die Anhörungen zu geheimdienstlich erlangten Informationen galten als besorgniserregend antidemokratisch, zumal es sich immer um strafrechtlich völlig unbedenkliche allgemeine politische Betätigung handelte. Als Mitterand in Frankreich einem Komitee gegen „Le Berufsverbot“ beitrat, war der diplomatische Eklat perfekt. Die Sozialistische Internationale drängte die SPD zu Korrekturen. Das Russel-Tribunal und (später) eine internationale Untersuchungskommission der ILO (International Law Organisation) verurteilten die Bundesregierung.

Es kam zu kleinen Nachjustierungen der Ländererlasse; auch der Bremer Erlass von 1977 zeugt davon. Die Praxis sollte rechtsstaatlicher werden, es wurden professionelle Anhörkommissionen gebildet, Rechtsanwälte erhielten Teilnahmerecht, ältere Vorgänge sollten unbeachtet bleiben, die Regelanfrage wurde eingeschränkt, usw. Aber im Kern rollte die Welle weiter, inzwischen auch weitgehend bestätigt durch die Verwaltungsgerichte. Das BVerfG sah keinen Verstoß gegen das Parteienprivileg und interpretierte die Gewährbieteklausel sogar noch strenger. Die Säuberung wurde gnadenlos zu Ende gebracht; am Ende folgten sogar noch die Bundesunternehmen Bahn und Post mit der Entlassung von Lokomotivführern und Briefträgern. Selbst über das Ende vieler kommunistischer Organisationen hinaus, deren Zulauf auch massiv durch die Berufsverbote eingedämmt worden war, wurde noch in Entlassungsverfahren prozessiert. Erst in den späten 80ern lief die reaktionäre Welle aus, ohne dass die Ländererlasse formell außer Kraft gesetzt worden wären. Ihr Ziel schien erreicht. Erst 1995 rügte dann in Straßburg der europäische Gerichtshof für Menschenrechte die ganze Berufsverbotspraxis und die Rechtsprechung der BRD dazu bis hin zum Verfassungsgericht als Verstoß gegen die europäische Menschrechtskonvention.

Viele Politiker sahen im Rückblick „die Berufsverbote“ als Fehler an. Manche Bundesländer stellten auch Opfer wieder ein. In Bremen warten die Opfer immer noch auf ein klares Wort der damals Handelnden.

Welche Lehren sind zu ziehen aus den Erfahrungen jener Jahre?

Die Diskussion um die in der NS-Zeit erfolgte Ausdehnung der Loyalitätspflicht muss wieder aufgenommen werden. Es ist insbesondere ein neues Dienstrecht zu fordern mit einer Eingrenzung der Beamtenschaft auf Kernfunktionen (die z.B. Lehrern und Sozialarbeitern bestimmt nicht zukommen). Die Gewerkschaften müssten in den Tarifverhandlungen sich gegen die umstandslose Übertragung von Treupflichten auf alle Arbeitnehmer des ö.D. wehren.

Es ist zu befürchten, dass Verf.-Schutz und Kripo ihre Praxis nicht verändert haben und weiter Daten sammeln über völlig legale oppositionelle politische Betätigung. Die rechtlichen Grundlagen müssen eingeschränkt werden, um diese Praxis abzustellen.

Der Graubereich der legalen, aber verfassungsfeindlichen politischen Aktivitäten muss eingegrenzt werden. Die Strafbarkeit nach allgemeinen Gesetzen ist die einzige akzeptable Schranke politischer Betätigung.