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Kernfragen der GEW Teil 17

Nachhilfe in Mathematik gegen Zukunftsangst?

In der (bildungs-) politischen Debatte um die Zukunft junger Menschen fällt es offensichtlich schwer, alte Bahnen zu verlassen. Aber: Es ist Zeit abzubiegen!

Bernd Winkelmann, ehemaliger GEW Landesvorstandssprecher
Bernd Winkelmann, ehemaliger GEW Landesvorstandssprecher (1999-2019)

Wenn man über die Gegenwart der Kinder und Jugendlichen nachdenkt, sollte man sich dessen bewusst sein, dass in dieser Phase sehr unterschiedliche Lebensstile zum Ausdruck gebracht werden und voneinander höchst abweichende Lebenslagen wirken. Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Realität sind dann auch die öffentlich erörterten Maßnahmen zu bewerten, welche bezogen auf die Schulen wiederholt die Notwendigkeit eines Aufholens und eine Konzentration auf die Kernfächer in den Vordergrund rücken.

Damit verengt sich jedoch die Zuschreibung dessen, was Schule leisten kann: Wissensvermittlung und Selektionsfunktion werden akzentuiert, mithin der zu erbringende Output – im Übrigen durchaus unterstützt durch Petitionen von Eltern („Digitaler Unterricht“) und Abiturient*innen („Abi 2020 … Durchschnittsabitur“) (vergl. Labede und Idel 2020). „Es geht“, so folgern die Autoren, „eher um Systemaufrechterhaltung als um die je konkrete Lebensbewältigung der Subjekte“ (ebenda, S. 5). Von einem Abbiegen ist erst einmal nichts zu erkennen.

Jugend während der Pandemie

Entgegen so mancher Berichterstattung verhalten sich die Jugendlichen in ihrer großen Mehrheit verantwortungsbewusst, rücksichtsvoll und schränken sich vor allem hinsichtlich des eigenen Freizeitverhaltens gezielt ein. Es bleibt allerdings ein gutes Viertel aus diesem Personenkreis, das sich Hygienevorschriften und einschränkenden Regeln nicht unterwirft (vergl. Schnetzer, Hurrelmann 2020).

Was in dieser Zeit in einem erheblichen Umfang generell um sich greift, sind negative Gefühle der Angst und Verunsicherung, ihrerseits verbunden mit Sorgen um die Zukunft: Schulausbildung, Beruf, finanzielle Absicherung, aber auch Vereinsamung spielen eine gewichtige Rolle. So werden psychische Auswirkungen u.a. durch Schulschließungen beschrieben. Zusammenfassend lässt sich ein „Absturz des Optimismus“ (vergl. Bullan 2021a) ermitteln – und dies ist kein gutes Zwischenfazit.

Jugend im Grundsatz

Nun benötigen Heranwachsende nicht nur Zuversicht, aber auch: Schließlich müssen sie sich „wesentlichen Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen“ (Ottersbach 2018, S. 333) stellen. Diese werden in entsprechenden Veröffentlichungen beschrieben als „Erlangen einer Allgemeinbildung und berufliche Handlungsfähigkeit … Ausbalancieren zwischen individueller Freiheit und sozialer Zugehörigkeit … und … Übernahme der Verantwortung für sich selbst“ (ebenda).

Mit diesen mit den Begriffen „Qualifizierung“, „Selbstpositionierung“ und „Verselbstständigung“ benannten Anforderungen treffen die Jugendlichen auf eine Welt, die sich zunehmend ausdifferenziert und ein gesteigertes Maß an Reflexion erfordert. Auf dieser Ebene der Betrachtung moderner Gesellschaften lassen sich dann Kennzeichen wie „Individualisierung“, „Pluralisierung“ und „Globalisierung“ ausmachen, die oftmals nicht nur komplexer, sondern auch widersprüchlicher Natur sind. Nur zwei Beispiele: Viele, auch ungeahnte Informationen sind stetig verfügbar, man muss aber einschätzen, ob sie sinnvoll oder wertlos sind. Globalisierung hat die soziale Ungleichheit verstärkt, kulturell jedoch größere Vielfalt ermöglicht (vergl. Ebenda, S. 335/336).

Abschließend ist dann noch zu bedenken, dass diese nur angedeuteten Sachverhalte lediglich Möglichkeiten darstellen, denn die jeweilige Persönlichkeit entfaltet sich nach wie vor in der konkreten Tätigkeit der Menschen und den darin aufgehobenen sozialen Beziehungen. Einfach, das ist sicher, wird es also nicht.

Jugend meldet sich zu Wort

So lautete das allgemeine Fazit der letzten Shell-Studie vor der Pandemie aus dem Jahre 2019. Elan wurde festgestellt: Diese Gruppe der damals 12- bis 25-Jährigen artikulierte Ansprüche, forderte mehr Mitsprache und zeigte einen starken Sinn für Gerechtigkeit (vergl. Albert u.a. 2019, S. 13). Nach den leistungswilligen Babyboomern, der vom neoliberalen Durchbruch geprägten Generation X, der vor allem Genuss, Konsum und Selbstverwirklichung nachgesagt wird, und den technikaffinen Millennials stabilisierten sich bei Jugendlichen politisches Interesse und die Zufriedenheit mit der Demokratie (vergl. ebenda).

Nun leben wir seit nahezu zwei Jahren in einer bislang unbekannten Situation. So sehr die „Generation Merkel“ (Koopmann 2021) und die „Generation Greta“ (Hurrelmann 2019) nachwirken, so einschneidend haben die Auswirkungen der Corona-Monate gerade die Entwicklungsphasen junger Menschen geprägt. Zurecht sind die verpassten Chancen aus der Zeit der Kanzlerin in dem oben genannten Artikel aufgelistet worden, der fehlende Zugang zu Bildung, die mangelnde Rentenperspektive, die Inkonsequenz beim Klimaschutz stehen an vorderer Stelle.

Heute nun befinden sich gerade Menschen, die vor wichtigen Übergängen in die Ausbildung, ins Studium oder in den Beruf stehen, in einer Situation, „als würde jemand immer wieder, sobald sie … einen Plan fassen, die Reset-Taste drücken und sie zum Anfang zurück schicken“ (Schnetzer 2022). Das führt zu Gefühlen des Verlustes von Kontrolle über das eigene Leben und schwindendem Vertrauen in die Gesellschaft.

Können Greta und ihre Gefolgsleute in ihrer kritischen, herausfordernden und aktiven Art helfen, aus  „geplatzten Träumen“ (ebenda) tragfähige Perspektiven aufzubauen? Eine „neue“ Zukunft jedenfalls wird stattfinden, am besten gezielt geformt unter menschenwürdigen Kriterien.

Jugend und ihre Einstellungen

Unabhängig von den aktuell prägenden Erfahrungen sind Forschungsergebnisse der jüngeren Vergangenheit durchaus erhellend, insbesondere, da sie einen Einblick in die Vielschichtigkeit der Haltungen junger Menschen „zwischen Weltoffenheit und Populismus“ (Albert u.a. 2019, S. 16) geben.

„Populistische Argumentationsmuster“, so eine zentrale Aussage, „erweisen sich grundsätzlich auch bei Jugendlichen als anschlussfähig“ (ebenda): 24% der Befragten seien „Populismus geneigt“, 9% „nationalpopulistisch“ (vergl. Ebenda, S. 17). Ihnen zu Grunde liegt u.a. ein verbreitetes Empfinden von Benachteiligung, von fehlender sozialer Gerechtigkeit und des Übergangenwerdens. Nun setzen entsprechende Positionen mehr affektiv als kognitiv reflektierend an, beziehen sich auf die geschilderten Ängste und Vorbehalte, bilden allerdings nicht zwingend stabile Überzeugungen (vergl. Ebenda, S. 16).

Dies macht zumindest ein wenig Hoffnung und trifft auf eine gestiegene Anzahl von Jugendlichen, denen es wichtig ist, sich selber politisch einzusetzen (vergl. Bullan 2021b, S. 13) und die bereit sind, „sich für eine lebenswerte Zukunft zu engagieren“ (Schnetzer, Hurrelmann 2021, S. 8). Womit sie allerdings wenig anfangen können, sind Parteien und Politiker*innen: Verdrossenheit ihnen gegenüber, wenig Vertrauen in sie und große Distanz sind kennzeichnend, kein Wunder, wenn man sie als „bürokratisch, behäbig, wenig transparent“ (Hurrelmann 2019, S. 2) einschätzt.

Diszipliniert haben viele Jugendliche ihren Beitrag zur Eindämmung der Pandemie geleistet, sind zu wesentlichen Entscheidungen, die sie betrafen, aber nicht gefragt worden und deshalb mit ihrer Geduld am Ende (vergl. Schnetzer, Hurrelmann 2021).

Jugend und Bildung

Der Unmut ist berechtigt. Dabei können Bildungsinstitutionen mit einem ganzen Repertoire an Einwirkungsmöglichkeiten die Ausbildung von Subjektivität prägen. Nach der langen Zeit des Zurücksteckens Jugendlicher ist es nun an der (Erwachsenen-)Gesellschaft sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, Bildungsprozesse mehr denn je unabhängig vom Elternstatus zu gewährleisten.

Dies gelingt bislang nicht einmal zufriedenstellend. In einer ernüchternden Studie kommt Helbig zu dem Schluss, dass es „keine realistischen Konzepte dafür gibt, den verpassten Schulstoff aufzuholen“ (Helbig 2021, S. 130). Darüber hinaus problematisiert er die Orientierung politischer Entscheidungen am „normativ Wünschenswerte(n)“ (ebenda) im Sinne versetzungs- und abschlussrelevanter Fächer sowie der Basiskompetenzen in Mathematik und im Lesen. Er warnt ausdrücklich vor einer „Verkürzung der Multidimensionalität“ (ebenda, S. 135) bei der Einschätzung der Pandemiefolgen. Wenngleich die soziale Lage der Familien maßgeblich den Umfang der Lernrückstände beeinflusse, müssten Faktoren wie Familiensprache, Schulform, Klassenstufe, Lehrstoff und Personal u.a. unbedingt berücksichtigt werden.

Insofern sind die staatlichen Programme im Bundesland Bremen hinsichtlich ihres Verweises auf handlungs- und projektorientierten Unterricht in sprachanregenden Lernumgebungen an außerschulischen Lernorten in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern sowie des Einbezugs psychosozialer Unterstützung unbedingt zu begrüßen (vergl. Schulamt Bremerhaven 2021, auch: Die Senatorin für Kinder und Bildung 2021). Bei entsprechender Umsetzung würde gerade die Sozialisationsfunktion von Schule die notwendige Beachtung finden und eine Reduzierung auf „Matheaufgaben“ vermieden.

Jugend und Gewerkschaft

Nimmt man die Definition von Jugend aus der Shell-Studie (bis 25 Jahre) zum Maßstab, dann beträgt der Anteil dieser Altersgruppe in der GEW Bremen 0,97%. Fasst man die Spanne mit bis zu 30 Jahren etwas weiter, so steigert sich dieser auf 7,15%. Die (auch noch etwas älteren) Jungen sind unsere Zukunft, das ist sicher. Nur einige mehr innerhalb der GEW sollten es schon werden. Deshalb folgen an dieser Stelle drei Anmerkungen mit Blick auf unsere Organisation.

Erstens: Das politische Interesse junger Menschen ist wieder gestiegen. Was ihnen allerdings fehlt, sei eine `Zielscheibe´, ein politisches `Feindbild´. Verantwortliche `Schuldige´ seien nicht auszumachen (vergl. Schnetzer, Hurrelmann 2021, S. 7). Auch wenn die Verfasser ganz vorsichtig mit Anführungszeichen agieren, so können wir als Gewerkschaft bei einem solchen inhaltlichen Befund doch ansetzen und Fragen von Macht, verschiedenen Interessen und Herrschaft aufnehmen und beantworten. Bei vielen jungen Aktivist*innen ist von „Systemwechsel“ die Rede. Das dürfte ein Ansatzpunkt sein, auch wenn noch nicht ausgemacht ist, wie grundlegend dieser ausfallen soll.

Zweitens: Junge Protestierende, wie oftmals auch Jugendkulturen generell, distanzieren sich explizit von (Partei-)Politik. In ihren Bewegungen „ermächtigen sie sich … selbst als legitime Sprecherinnen und Sprecher über politische Inhalte“ (Lüders 2021, S. 24). Neben anderem wollen sie ernsthaft beteiligt werden am Diskurs über politische Entscheidungen, insbesondere zu internationaler Gerechtigkeit, einem besseren gesellschaftlichen Miteinander und gegen Diskriminierung. Von den Alten wird Ehrlichkeit, Authentizität und Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse erwartet. Da könnte auch unsere Gewerkschaft ansetzen.

Drittens: Etablierte Formen von Politikgestaltung werden zum Teil vernichtend beurteilt: lahm, vertröstend, wirkungslos. Auch Projekte und Zukunftswerkstätten verlaufen sich rasch, weil bei aller Kreativität die Überführung in die alltägliche Arbeit oftmals nicht gelingt (vergl. Schnetzer, Hurrelmann 2021, S. 9). Junge Menschen müssen also dort in einer Gewerkschaft mitmachen, wo sie mitentscheiden können, über Inhalte und Formen. Gelungene Beispiele gibt es dafür auch in unserem Landesverband, mit denen Bildung zu einem unübersehbaren Thema gemacht wurde. Daran werden wir anknüpfen.

Wir haben es schon lange geahnt: Es ist Zeit, nicht nur den Blinker zu setzen, sondern tatsächlich abzubiegen. Denn „Aufholen“ muss die Gesellschaft an ganz anderer Stelle, bei den Fachkräften, der Attraktivität pädagogischer Berufe und dem Bildungsverständnis (vergl. GEW Bremerhaven 2021). Das dürfte in einschlägigen Kreisen generationenübergreifend auf Zustimmung stoßen.

Quellen:

  • Albert u.a. (2019): Jugend 2019 – Eine Generation meldet sich zu Wort, 18. Shell Jugendstudie, Zusammenfassung, Hamburg
  • Bullan (2021a): Jugend, Corona, Alltagsbewusstsein, in: Sozialismus, Heft 1
  • Bullan (2021b): Fridays for Future als Vorfeldorganisation der Grünen?, in: Sozialismus, Heft 7/8
  • Die Senatorin für Kinder und Bildung (2021): Vereinbarung zur Umsetzung des „Aktionsprogramms Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ für die Jahre 2021 und 2022 von Bund und Ländern, Bremen
  • GEW Bremerhaven (2021): So sieht`s aus – im Frühjahr 2021: „Zeit zum Aufholen!“, Stadtverbandsinfo 6
  • Helbig (2021): Lernrückstände nach Corona – und wie weiter?, in: DDS, Beiheft 18
  • Hurrelmann (2019): „Ich würde von einer Generation Greta sprechen“, Zeit Online vom 15.10.19
  • Koopmann (2021): Generation Merkel, in: Süddeutsche Zeitung vom 4./5.12.21
  • Labede und Idel (2020): Schülerin- und Schüler-Sein in Zeiten pandemiebedingten Schulausfalls, in: datum&diskurs #3, Flensburg
  • Lüders (2021): Protest als Ressource, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Heft 38/39, Bonn
  • Ottersbach (2018): Jugendliche, in: Handbuch Kritische Pädagogik, Weinheim, Basel
  • Schnetzer, Hurrelmann (2020): Jugend und Corona, Kempten
  • Schnetzer, Hurrelmann (2021): Jugend 2021. Pandemie, Protest, Partizipation, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Heft 38/39, Bonn
  • Schnetzer (2022): Generation Reset – Übersicht unter: simon-schnetzer.com/generation-reset, Zugriff am 5.1.22
  • Schulamt Bremerhaven (2021): Schulbetrieb nach coronabedingtem Wechselunterricht ab dem Schuljahr 2021/2022, Bremerhaven