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Lese- und Schreibunterricht heute:

In der aktuellen Auseinandersetzung über den Lese- und (Recht-)Schreibunterricht herrscht Verwirrung. Neuerdings stehen vor allem die Methode „Lesen durch Schreiben“, der „Spracherfahrungsansatz“ und der Werkstattunterricht, also ein selbstständiges Lernen in einer vorbereiteten Umgebung, in der Kritik, während früher der Fibelunterricht und der systematische Lehrgang pauschal kritisiert wurden.

Wir, zwei „altgediente“, fachdidaktisch unterschiedlich orientierte Wissenschaftler mit erziehungs- bzw. sprachwissenschaftlichem Hintergrund, möchten aufklären - und wir können beruhigen: eine „Rechtschreibkatastrophe“ in Deutschland, wie u. a. im Spiegel vom 17.6.2013 behauptet, gibt es nicht. Aber es gibt Probleme, die Schule und Didaktik herausfordern.

Vor allem Einseitigkeiten in der Didaktik und ihre Umsetzung in der Praxis einerseits und Missverständnisse bzw. fehlende Fachkenntnisse in der öffentlichen Diskussion andererseits erschweren den Schulen ihre Arbeit. Empirische Studien werden oft nur selektiv wahrgenommen, ihr Geltungsbereich nicht genügend beachtet, die Interpretation ist manchmal wenig sachgerecht. …

Was ist zu tun?

1.
Motor für das Lesen- und Schreibenlernen ist für viele das Verfassen eigener Texte, auch in Kommunikation mit anderen, und der Gewinn von Information oder Unterhaltung durch vorgegebene oder selbst gewählte Lektüre: Das Prinzip: „Lesen lernt man durch Lesen“ und „Schreiben durch Schreiben“ muss erweitert werden durch: „Schreiben lernt man auch durch Lesen“ und „Lesen lernt man auch durch Schreiben“ - immer verstanden als Übung „im Gebrauch“.

Wie der Erst- und der Fremdspracherwerb bedarf auch der Schriftspracherwerb anregender Modelle, konkreter Rückmeldung und – bei Schwierigkeiten - gezielter Unterstützung. Auf letztere sind besonders die Kinder angewiesen, die von Zuhause wenig schriftsprachliche Anregungen und Erfahrungen mitbringen. Oft genügt eine gezielte Unterstützung, zum Teil ist eine zusätzliche Förderung durch besonders qualifizierte Lehrer/innen erforderlich - wo der Schule die Ressourcen fehlen, auch durch eine externe Lerntherapie.

2.
Grundlage der Lese- und Schreibfähigkeit ist die Einsicht in das alphabetische Prinzip der Schriftsprache. Gefördert wird sie im ersten Schuljahr durch das Verschriften eigener Wörter Laut-für-Laut, vorbereitet und für Kinder mit Schwierigkeiten begleitet, durch die gemeinsame Arbeit an - in den Laut-Buchstaben-Korrespondenzen einfach strukturierten - Wörtern (sog. „lautgetreue Schreibungen“), wozu es gute Materialien gibt. Auch das lautierende Erlesen unbekannter Wörter mit einer konkreten Sinnerwartung („Wörtersack“, „Wickelwörter“) stützt den Erwerb dieser grundlegenden Einsicht. Die Kinder konstruieren in dieser Phase einzelne Wörter immer wieder neu, so dass es – wie beim Laut- und Fremdspracherwerb – zu wechselnden Fehlern und individueller Regelbildung kommt – abhängig von individueller Spracherfahrung und Mundart (im Norden z.B. „Oper“ statt „Opa“ – wie „Vater“, „Mutter“ usw. für „Fata“, „Muta“ usw.). Eine frühe Konfrontation mit der Normschreibung (in den unten 3.3 beschriebenen Formen) ist gerade für Kinder mit ausgeprägtem Dialekt und für Migranten mit starker Erstsprache und anderem Lautsystem wichtig, damit sie ihre Äußerungen zunehmend an der Standardsprache orientieren und die richtige Schreibung nicht zu sehr vom Konstruktionsergebnis abweicht.

3.
Zu den oft heftig kritisierten Privatschreibungen: Grundsätzlich sind diese lerngenetischen Fehler ein notwendiges Durchgangsstadium im Lernprozess und damit zugleich ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel für den Lernstand: Diese Fehler werden „mit dem Willen des/der Schreibenden“ gemacht und sagen aus, was er/sie sich gerade zu dieser Schreibweise denkt: ein Mittel, genau dort unterrichtlich einzugreifen und individuell zu fördern.

Dennoch: Nur in der ersten Phase besteht kein Anspruch an die orthographische Korrektheit von Schreibungen. Den Kindern muss bei ihren Privatschreibungen aber auch schon deutlich gemacht werden, dass es eine Normschreibung gibt, z.B. durch Übersetzung ihrer Texte in "Erwachsenen“- oder „Buch“-Schrift. Je nach individuellem Fortschritt in der alphabetischen Strategie werden zunehmend anspruchsvollere Überarbeitungs-, Forscher- und Übungsaufträge gegeben, die in die Prinzipien der Rechtschreibung und in Rechtschreibbesonderheiten überleiten:

  • Suche der richtigen Schreibung ausgewählter Wörter im Wörterbuch
  • Nutzung von Strategien der Ableitung („Wald“ – „Wälder“)
  • Anwendung von Regeln („Nach Punkt schreibt man…“)
  • Sammeln und Sortieren von Wörtern – z.B. „ mit (langem) /i:/“, Formulierung von Faustregeln
  • langsame Hinwendung zu einer systematischen Bewusstheit für die Rechtschreibschwierigkeiten der deutschen Rechtschreibung
  • regelmäßige Rechtschreibgespräche über schwierige Wörter zur Differenzierung dieses Rechtschreibgespürs
  • Einüben eines individuellen Grundwortschatzes, neben den kleinen häufigen Wörtern (und, den, das…) zunehmend auch schwierigerer Wörter.

Diese umfassende Rechtschreibkompetenz bedarf der gezielten Förderung bis zum Ende der Schulzeit. Dann können kompetente Rechtschreiber viele Wörter aus ihrem visuographischen Lexikon und der Schreiberfahrung in der Hand ohne langes Nachdenken richtig schreiben, so dass sie nur bei ganz schwierigen oder fremden Wörtern noch ihr Schulwissen aufrufen, sprich über die Schreibung nachdenken müssen. Denn Rechtschreiblernen ist weithin ein impliziter Prozess unbewusster Regelbildung, auch wenn diese durch entsprechend strukturierte Materialien gestützt werden kann - und sollte.

4.
Speziell zum Lesen: Das Textverständnis wird im Prinzip nicht durch lautes, sondern durch leises Lesen gefördert. Am Anfang, in der alphabetischen Phase, wird von vielen Kindern noch (halb-)laut „zusammengelesen“, das verschwindet aber rasch, schon im zweiten Schuljahr. Ansonsten arbeitet man z. B. mit inhaltlichen Fragen und Aufträgen zu Texten, u.a. durch die Vorstellung und Diskussion des Ertrags individueller Lektüre in der Gruppe.

Das laute (Vor-)Lesen dient der Darstellung für andere, ist eine eigens zu übende Zusatzleistung am Ende der Texterarbeitung. Diagnostisch kann das halb-laute Lesen von der Lehrerin genutzt werden für eine genauere Analyse der frühen Lesekompetenz und die Entdeckung von Leseschwierigkeiten. Zur genaueren Diagnostik gibt es entsprechende Tests (Zürcher Lesetest u.a.).

5.
Nur kurz zum Verfassen von Texten, weil es nur indirekt in der Kritik steht: Es orientiert sich am Schreibprozess-Modell: Sammeln von Ideen – Strukturierung des Aufbaus – erste Fassung als Fließtext – inhaltliche und sprachliche Überarbeitung – orthographische Korrektur – ästhetische Gestaltung. Rechtschreibung sollte nicht gleich Anspruch an den Spontanentwurf sein, sondern erst an eine spätere Version, vor allem die Endfassung für eine Veröffentlichung. Die Orthografie hat eine dienende Funktion, um Texte für andere leicht lesbar zu machen.

6. Höhere Leistungen (Leseverstehen, Textplanung) setzen voraus, dass Basisleistungen (Worterkennen, Handschrift, Rechtschreibung) geläufig und weitgehend unbewusst erbracht werden können. Eine Automatisierung des Erkennens bzw. Schreibens von Wörtern kann über verschiedene Wege gestützt werden:

  • vielfältige Wiederholung, z.B. durch Lesespiele, durch Aufgaben zum raschen Worterkennen;
  • richtiges Abschreiben: Anschauen – Verdecken – aus dem Kopf Schreiben – Kontrollieren;
  • wiederholtes Schreiben besonders häufiger oder individuell wichtiger Wörter, Sicherung der Richtigschreibung auch durch Festigung von Bewegungsmustern.

Unser Fazit:

Medienwirksame Schnellschüsse sind unangebracht. Unser größtes Problem werden nicht die Konkurrenz von Methoden oder hochgespielte Einzelfälle schlechten Unterrichts sein, sondern der Umgang mit den kulturellen Veränderungen in unserer Gesellschaft, den geringeren Lern- und Lebenschancen von benachteiligten Kindern und dem demographischen Wandel, der es – über die individuellen Bildungsansprüche hinaus - zur Pflicht macht, kein Kind zurückzulassen.

Für jede Methode gibt es Beispiele erfolgreichen Unterrichts. Dieser setzt allerdings voraus, dass den Lehrpersonen neben den Potenzialen des jeweiligen Ansatzes auch deren spezifische Risiken bewusst sind – und dass sie über das didaktisch-methodische Repertoire verfügen, diese aufzufangen. Damit wird die hohe Bedeutung der Lehrer/innen-Bildung deutlich. Wir schließen uns deshalb der dringlichen Forderung der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben an, dass Seminare zur Schriftsprachdidaktik Pflicht in jeder Studienordnung für das Lehramt Grundschule sein müssen.

Nachdruck aus: „Grundschule aktuell“ November 2013

Kontakt
Karsten Krüger
Schriftleiter des Bildungsmagaz!ns
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