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‚Leihst du mir deinen Blick?‘ –

Feindbildszenarien scheinen derzeit die gesellschaftlichen Diskurse, den Alltag in Großstädten bzw. Ballungsräumen sowie die Medienberichterstattungen zu bestimmen. Grenzüberschreitungen, Menschenrechtsverletzungen und gewalttätige Auseinandersetzungen sind die täglichen Bilder, die uns via TV, Zeitschriften sowie Internet präsentiert werden. Dabei geht es in Deutschland und Europa zunehmend mehr auch um antisemitische und muslimfeindliche Ausgrenzungen und Diskriminierungen.

Besonders in den letzten Wochen und Monaten häufen sich die Talkshows und Medienberichterstattungen, die ‚den Islam‘ in den Focus nehmen. In Deutschland bildet sich zudem der Nahost Konflikt auch in oft kontroversen und polarisierenden Debatten ab. Spätestens seit dem Krieg im Gaza Anfang 2009 haben sich auch bei uns die Fronten zwischen den sog. ‚Israelfreunden‘ bzw. ‚Israelkritikern‘ verhärtet.
Jugendliche in Israel und Palästina wachsen darüber hinaus in besonderem Maße mit Feindbildern auf; die Separierung durch die Mauer und Checkpoints verhindert zudem reale Begegnungen. Aus den Medienberichten lässt sich z. Zt. folgendes Bild zeichnen:
Gewalt und Hassbekundungen finden nicht nur zwischen den Menschen aus beiden Gesellschaften und Religionen, sondern auch innerhalb derselben, statt. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt erscheint immer mehr undurchdringbar. Die Bereitschaft zum Dialog und Konsens ist derzeit auf einem ‚Nullpunkt’. Hinzu kommt, dass auf 'legalem Wege' vor Ort keine Face to Face Begegnungen mehr stattfinden können bzw. dürfen.
Wie können Schule und Jugendbildung darauf reagieren bzw. dieses wichtige Feld aufbereiten und thematisieren?

“Leihst du mir deinen Blick?”

Das LidiceHaus hat gemeinsam mit Jugendlichen des Leistungskurs Geschichte (12. Jahrgang) der Oberstufe des Gymnasiums Leibnizplatz und ihrem Lehrer Peter Menken ein Dialogprojekt ins Leben gerufen – zusammen mit den Organisationen ‚Al Tariq‘ und ‚Parents Circle‘ (Palästina und Israel):
das Projekt „Leihst du mir deinen Blick?“ ist ein langfristiges virtuelles und reales Face to Face - Projekt, in dem sich die deutschen, israelischen und palästinensischen Jugendlichen zunächst im Web-Tool miteinander bekannt gemacht haben und sich so auf die erste Face to Face Begegnung im Sommer im LidiceHaus Bremen vorbereiteten.
Die israelischen Jugendlichen kommen aus der High School einer Kibbutzschule in Beersheva/ Israel – die palästinensischen Jugendlichen kommen aus einer Schule in Bethlehem bzw. Hebron in der Westbank. Wie stark die politischen Rahmenbedingungen den Verlauf solch eines Projektes gerade zu bestimmen können, konnten wir Projektverantwortlichen bereits in der Planungsphase erfahren: im Januar 2010 sollten die ersten Kontakte zwischen den Jugendlichen in dem eigens dafür eingerichteten Blog stattfinden – am 23. Januar wurde der palästinensische Jugendgruppenleiter bei einer nächtlichen Militärrazzia verhaftet und sitzt seitdem im israelischen Gefängnis. Dieses Ereignis hatte natürlich nicht nur auf die palästinensiche Jugendgruppe enorme Auswirkungen, sondern auch auf die Bereitschaft der israelischen Gruppe. Zweifel und Ängste machten sich breit. Wir (Peter Menken / Anette Klasing) mussten unseren bremischen TeilnehmerInnen mehrfach Mut machen, nicht aufzugeben und Geduld zu bewahren.
Im Mai flogen wir daher nach Jerusalem, um uns mit beiden Gruppen bzw. deren Jugendgruppenleitern zu treffen; wir wollten mehr verstehen und einschätzen können, ob unser Projekt wirklich eine Chance auf Realisierung hat. Etwas beruhigter kehrten wir nach den Gesprächen zurück und bereiteten das Face to Face Treffen vor.
Am 25. Juni war es dann soweit: über 30 junge Leute aus Bremen, Beersheva, Bethlehem / Hebron (Alter ca. 17 Jahre) trafen sich für 10 Tage im LidiceHaus. Das Programm war eine Mischung aus ‚Dialogarbeit‘, Erlebnispädagogischen Workshops und Simulationsübungen – gepaart mit Exkursionen und Breminale - Besuchen. Die 10 Tage waren für alle Beteiligten Tage der ‚Höhen und Tiefen‘: die Jugendlichen erlebten viel Spass sowie Annäherungen, aber auch ‚Tränen der Wut und der Verletzung‘. Alles was vorher Theorie war, geschah ganz hautnah: ein israelisches Mädchen rannte weinend aus dem Raum, weil sie nicht hören konnte und wollte, was ein palästinensischer Junge zu sagen hatte. Wir mussten den palästinensischen Jugendlichen verständlich machen, dass eine erlebte Kassamrakete in Beersheva (auch wenn sie ‚nur‘ ein Haus beschädigt und keine Menschen tötet) genauso traumatisieren kann wie nächtliche Militärrazzien, Verhaftungen oder Häusersprengungen durch die israelische Armee in den Orten der Westbank.
Und wir mussten die israelischen Jugendlichen immer wieder motivieren, sich auch die Geschichten der ‚anderen Seite‘ anzuhören. Während z. B. die israelischen Mädchen fanden, es wäre zu viel über Politik gesprochen worden, warfen uns einige der palästinensischen Jugendlichen vor, wir wären ‚viel zu pädagogisch‘ an die Themen heran gegangen. Auch das ist nicht untypisch für diese Konstellation.
Und unsere Bremer Jugendlichen? Zu Beginn war es wirklich nicht leicht für sie – aber nach und nach wurden sie selbstsicherer und achteten darauf, mit möglichst allen im Kontakt zu bleiben. Dialogarbeit mit Jugendlichen aus Konfliktregionen kann nicht ohne Konflikte geschehen, aber für uns Projektverantwortliche bleibt die Frage: wieviel und WAS alles soll ‚pädagogisch moderiert‘ werden und wieviel Raum darf sein für Emotionen. Wo sind die Grenzen zu ziehen? Sicherlich: zu Beginn haben alle TN die Spielregeln für Dialogarbeit mit ausgearbeitet – aber da war es noch die Theorie.
Erfreut hat uns die Nachricht aus Beersheva, dass die Schule gerne mit Dialogbegegnungen weitermachen möchte – auch unsere palästinensischen Partner erhoffen sich die Fortsetzung. Also prüfen wir nun mit ‚unseren‘ Bremer Jugendlichen die Rückbegegnung im kommenden Jahr – und hoffen und wünschen uns sehr, dass wir dort ‚einen gemeinsamen Ort‘ finden können, an dem sich alle drei Gruppen treffen und sicher sein können.
Eine Filmdokumentation der Begegnung ist nun fertig – und kann als DVD ausgeliehen werden – bzw. kopiert werden.
September 2010

Kontakt

  • Anette Klasing | LidiceHaus
    aklasing [at] lidicehaus.de
  • Peter Menken | Oberschule Leibnizplatz