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Schwerpunkt

Krise? Krise!

Aufsuchende Beratung an der Allgemeinen Berufsbildenden Schule: Ein Blick durch den Vorhang

Foto: Karsten Krüger

Die Lebenswelten berühren sich in der Schule. – Wir haben so viele Schüler:nnen, über die der neue Tag wie ein Unwetter hereinbricht, unbeeinflussbar. Leben als Krise, die Krise als Normalzustand.

Jetzt mit 18 Jahren hat sie es gewagt: Das Erstgespräch verlief gut, da kam sie erleichtert, fast euphorisch heraus. Zwar ein schlaues Mädchen, klug und gebildet, aber irgendwie schräg und zu viele Fehlzeiten. Deswegen ist kein Abschluss möglich. Die Zukunft hat wieder nichts für sie. Aber die vorgelagerten Problemlagen müssen bearbeitet, geklärt werden. In der ABS gibt es verantwortungsvolle Lehrkräfte und aufsuchende Beratung. Nach zwei intensiven Wochen dann die Aufnahme in die Tagesklinik. Am Sonntagabend vorher noch nachgefragt. „Willst Du das noch? Schaffst Du das? Brauchst Du Unterstützung?“ Nein, sie war sicher: „Ich ziehe das durch.“ Montagmittag dann drei Anrufe auf dem Handy, weinend auf der Voicebox. Es hat nicht geklappt.

Pünktlich um acht Uhr hingegangen, ohne große Ankündigung hinsetzen, Coronatest ist Vorschrift, das Stäbchen wird vorschriftsmäßig durch die Nase bis zum Anschlag eingeführt. Sie ist ausgeliefert, geschockt, fühlt Schmerzen, springt weinend auf und rennt hinaus. Wieder war sie schutzlos, konnte sich nicht rechtzeitig wehren oder entziehen.

Alles wurde ver-rückt

Als Kind kreiste die Borderline-Mutter um sich selbst, hat die Tochter dann einfach zurückgelassen, ging nach Deutschland. Mit fünfzehn ging sie hinterher, landete auf einem ostdeutschen Bahnhof. Ihr „Retter“, meinte sie, sei zwar Ausländerin, aber hätte ja immerhin die richtige Hautfarbe. Von seiner Schizophrenie wusste sie nichts, war seinen sexuellen Übergriffen und Gewalttätigkeiten ausgeliefert. Auch den Nachstellungen seines Vaters. Hier fängt die Sache mit dem Alkohol an, der hilft es zu ertragen.– Als sie es nicht mehr aushielt, flüchtete sie, lernte einen netten Jungen kennen. Erste Liebe, er unterstützte sie. Polizei, Jugendhilfe, stationäre Unterbringung. Sie gilt als unkooperativ, wird bestraft. Der Freund hat die falsche Hautfarbe und sie durchleben gemeinsam rassistische Anfeindungen und Angriffe. – Dann verschwindet er, sie erfährt, er wurde „rückgeführt“ in das Erstaufnahmeland. Die Welt bricht zusammen, sie flüchtet zur Mutter nach Bremen.

Statt Familie, Geborgenheit, Sicherheit und Schutz ist alles um sie herum ver-rückt. Verletzungen, Stress, Vorhaltungen, Verantwortung für die dysfunktionale Familie. Der Alkohol hilft nicht mehr, verstärkt ihr Elend. Vor der Duschkabine entstehen Überschwemmungen und die Vonovia ist nicht erreichbar. Das Jobcenter schickt immer neue Formulare und Kürzungsandrohungen, vergibt aber keine Termine.

Paralleluniversum

Jetzt habe ich das Thema fast vergessen: „Krisen.“ Auf der KollegInnen-School-out-Party: Gehobene Wohngegend. Haus freistehend. Wintergarten und Veranda (Rubinie!): Die Hauspreise sind schon so hoch und jetzt noch die Zinsen. Da unterstützen wir unsere Kinder natürlich. Corona? Schrecklich, drei Mal geimpft, trotzdem angesteckt und soo lange im Homeoffice. Jetzt sind bald Ferien, wir haben nicht gebucht, sondern doch das Wohnmobil gekauft. Kein Schnäppchen, aber naja, in diesen Zeiten. – Bloß jetzt noch der Krieg und die Dieselpreise! Ja, und wir haben ja die E-Bikes, wegen Klima, die nehmen wir jetzt natürlich mit. Paralleluniversum? Paralleluniversum! Krise? Krise! Unsere Krise steht jeden Tag in der Zeitung und wir reden viel. Über uns.