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Schwerpunkt

Kleine Germanen im gallischen Dorf

Anmerkungen zur Waldorf-Pädagogik

Zwischen dem öffentlichkeitswirksam vorgetragenen Bild, das sich Waldorfschulen geben und ihrem esoterischen anthroposophischen Hintergrund und Fundament gibt es einen krassen Widerspruch. So behauptet die Waldorfpädagogik einen individuellen Blick auf jedes einzelne Kind zu haben. Gelernt wird mit vermeintlich weniger Leistungsdruck als an öffentlichen Schulen, die meist mit der Kampfvokabel „Staatsschule“ diffamiert werden, und man legt viel Wert auf die ästhetische Bildung.

Esoterisches Welt- und Menschenbild

Betrachtet man die Grundlagen und die Praxis der Waldorfpädagogik, so stellt man fest, dass sie zumindest in der Theorie ihrem eigenen Selbstbild nicht gerecht wird. Die Waldorfpädagogik ist das wichtigste Praxisfeld der Anthroposophie Rudolf Steiners, der wohl bedeutendsten esoterischen Strömung im deutschsprachigen Raum. Anthroposophen gehen davon aus, dass es neben der materiellen noch eine geistig-kosmische Welt gibt. Weiter glaubt man an eine kosmische Evolution, nach der buchstäblich alles mit allem zusammenhängt. Für das Menschenbild bedeutet das konkret, dass man annimmt, dass Menschen wiedergeboren werden und dass ihr Karma durch vorangegangene Inkarnationen positiv oder negativ geprägt ist. Der Mensch ist in seinem Kern angeblich ein geistiges Wesen, dass sich über mehrere Inkarnationen weiterentwickeln kann. Die körperliche Hülle wird in ferner Zukunft im Laufe dieser Evolution überflüssig werden. Menschen entwickeln sich in siebenjährigen Schritten, in denen die sogenannten Wesensglieder geboren werden. Diese Lehre hat hohe Bedeutung für den Lehrplan an Waldorfschulen.

Schubladendenken statt Individualität

Auch die Temperamentenlehre, nach der jeder Mensch einem bestimmenden Charaktertypus (Phlegmatiker, Choleriker, Sanguiniker oder Melancholiker) entspricht, ist in der Waldorfpädagogik von Bedeutung und bestimmt häufig z.B. die Sitzordnung. Der projektorientierte Epochenunterricht folgt dem Konzept, dass jeder Mensch in seiner Entwicklung die Entwicklung der Menschheit (nach anthroposophischer Lesart) nachvollzieht. Die Textzeugnisse beschreiben nicht nur die schulischen Leistungen der Kinder, sondern enthalten anmaßende und wertende charakterliche Beschreibungen. Hinter den Kulissen findet man statt Individualität grobe Kategorisierungen, statt künstlerischer Entfaltung austauschbare Bilder mit den immer gleichen Farben und Inhalten, die in der Anthroposophie vorgegeben sind. All diese Konzepte beruhen letzten Endes auf der sogenannten Schauung, der Erkenntnis durch Hellsicht, Rudolf Steiners.

Angewandte Anthroposophie

„Die Waldorfpädagogik hat sich doch längst weiterentwickelt“, wird von Waldorfanhängern gerne eingewendet und man verweist auf die Praxis. Bei Vorträgen versichern mir Waldorfeltern und -schüler immer wieder, dass die Anthroposophie an ihrer Schule keine oder kaum eine Rolle spiele. Wie passt das zusammen? Aus meiner Sicht ist das nur ein scheinbarer Widerspruch, denn um die anthroposophischen Grundlagen zu erkennen, muss man zunächst um sie wissen. Es gibt kein Fach Anthroposophie, stattdessen ist jeder Unterricht angewandte Anthroposophie, wie schon Rudolf Steiner feststellte. Man kommuniziert gegenüber Eltern und Schüler:innen nicht, dass man in den Kindern (re)inkarnierende Wesen zu erkennen glaubt und man kommuniziert nicht, dass man einen bestimmten Inhalt in Geschichte gerade zu diesem Zeitpunkt behandelt, weil man der Auffassung ist, sie seien in ihrer Entwicklung gerade kleine Germanen. Wissenschaftliche Untersuchungen aus dem Waldorfumfeld zeigen, dass ein hoher Anteil der Lehrkräfte an Waldorfschulen der Anthroposophie anhängt. Es gibt eine hohe Zahl an Aussteigern unter den nicht-anthroposophischen Lehrkräften.

Ein Sammelbecken für Querdenker

Es ist aus meiner Sicht auch kein Zufall, dass Waldorfanhänger immer wieder, auch an herausgehobenen Stellen, im Querdenkerumfeld auftauchen und die Waldorfbewegung rechte wie linke Verschwörungsideologen anzieht. Die Anthroposophie beruht auf der „Hellsicht“ ihres Gründers und seiner Jünger und sie möchte, dass wir Menschen die vermeintliche Begrenzung unseres materiellen Daseins überwinden. Der Materialismus wird als ahrimanisch (dämonisch) abgelehnt. Über die Intuition will man zu tieferen Erkenntnissen aus der geistigen Welt kommen. Die rein materiellen Naturwissenschaften lehnt man ab. Die wissenschaftliche Methode wird an Waldorfschulen erst spät, wenn überhaupt, vermittelt. Schon häufig haben mir Waldorfschüler:innen erzählt, dass man sie an der Schule zum kritischen Denken ermutigt habe. Ich fürchte aber, dass es sich dabei um pseudokritisches Denken handelt. In der Wissenschaft lernt man seiner eigenen Wahrnehmung zu misstrauen und sie durch objektive Methoden zu überprüfen. Die Anthroposophie sieht in der eigenen Wahrnehmung und Intuition eine höhere Erkenntniskraft. Von daher verwundert es nicht, wenn unter den Querdenkern zahlreiche Anthroposophen unterwegs sind, die ihrem eigenen Bauchgefühl stärker vertrauen als der Wissenschaft. In der Vergangenheit waren immer wieder Stars der deutschsprachigen Verschwörungsszene, wie der selbsternannte Friedensforscher Daniele Ganser oder Ken „KenFM“ Jebsen (beides ehemalige Waldorfschüler) zu Gast an Waldorfschulen.

Ausblick

Natürlich gibt es an Waldorfschulen empathische Lehrkräfte und natürlich gibt es zahlreiche ehemalige Waldorfschüler, die positive Erinnerungen an ihre eigene Schulzeit haben. Doch haben sie trotz oder wegen der Waldorfpädagogik positive Erinnerungen? Ist die Qualität des Unterrichts oder die gemeinsamen Erlebnisse mit der Peergroup am Ende ausschlaggebend? Kann es sein, dass man sich an Waldorfschulen als kleines gallisches Dorf im Angesicht der vermeintlich bösen „Staatsschule“ wähnt, die man mit allerlei Vorurteilen belegt?

Skepsis ist angebracht, was den Hintergrund der Pädagogik und ihre Praxis angeht. Nicht wenige ehemalige Waldorfschüler verwechseln ihr pseudoskeptisches Denken mit wissenschaftlich kritischem Denken. Einigen gelingt es aber in der Rückschau, die eigenen Erfahrungen kritisch zu reflektieren, wie dem Religionswissenschaftler Ansgar Martins, der über seinen Waldorfblog eigentlich die Kritiker der Waldorfpädagogik mit den Praktikern versöhnen wollte, darüber aber selbst zum Kritiker wurde, der heute erhellende Bücher zum Thema schreibt.