Schwerpunkt
Keine Angst mehr im Fremdsprachenunterricht
Englischlehrerin: Schule kann zu einem lebendigen Ort ohne Zwang, Scham und Frust werden
Stell dir vor, ich würde dich zwingen, ab heute einen Kurs in der Sprache Navaho zu belegen. Du müsstest jede Woche vierzig Vokabeln lernen und es gäbe einen Test darüber. Dir würden die Grammatikregeln kurz erklärt und dann müsstest du von deinem letzten Wochenende auf Navaho erzählen. Und das alles würde vor einer Gruppe Kolleg:innen passieren, die du dir nun wirklich nicht ausgesucht hast. Jetzt stell dir vor, du wärest erst zehn. Wenn man es so formuliert, ist ein großer Teil der Arbeitsverweigerung, die uns im Fremdsprachenunterricht tagtäglich begegnet, keine Überraschung mehr.
Geschichten erzählen
Jetzt stell dir stattdessen vor jemand erzählt dir und besagten Kolleg:innen Geschichten, und entwickelt sie auch mit euch gemeinsam. Die Person lässt euch witzige Bewegungen ausführen, immer wieder, bis die Worte vollkommen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Du hast das Gefühl, immer alles zu verstehen, und wenn nicht, darfst du wie einen Schutzschild die Hand ausstrecken. Dann wiederholt die Lehrkraft alles noch einmal langsam oder übersetzt kurz zurück auf Deutsch. Du kannst ganz viel mitbestimmen, worum es geht, manchmal sogar um dein Lieblingshobby. Manchmal zeichnest oder bastelst du auch, und die Anleitung ist auf Navaho. Du weißt nicht warum, aber du kannst sie verstehen. Nach Fehlern in einem Test sagt die Lehrkraft: „Oh, das habe ich wohl noch nicht genug wiederholt. Machen wir nächste Woche.“ Du bist entspannt und hast das merkwürdige Gefühl, dass du schon ganz viel Navaho kannst, obwohl du gar nichts „gelernt“ hast. Du wirst auch lange gar nicht gezwungen, lange Sätze zu sprechen, sondern darfst auch nur mit einem Wort antworten. Als du eine Navaho triffst, kannst du dich nicht mehr zurückhalten. Du probierst es aus, weil du dir so sicher bist. Du erzählst ihr eine Geschichte und bittest sie, zurück zu übersetzen. Es funktioniert.
Alles sofort verständlich
Das ist Comprehensible Input. Ein zentraler Bestandteil daran ist, wie du als Lehrkraft sprichst. Die Lehrkraft passt ihr Sprechtempo und sogar die Sprechtechnik an. Ich verwende einfache Wörter und wiederhole neue Phrasen immer wieder, oft bis zu 100 Mal pro Stunde – und das, ohne dass es langweilig wird. Diese Wiederholungen sind oft in Geschichten oder Aufgaben eingebettet, sodass sie sich natürlich anfühlen. Die Lernenden verstehen alles, weil die Lehrkraft Bilder, Geräusche, Bewegungen und bekannte Wörter einbindet. Die Texte, die die Schüler:innen hören oder lesen, sind anfangs entweder speziell angepasst oder sogar von den Lernenden selbst mitgestaltet. Es kann sich um superleichte Texte handeln, die extra verständlich geschrieben sind, oder um spannende Inhalte, die sie wirklich interessieren. Der entscheidende Punkt ist, dass alles sofort verständlich ist und die Sprache intuitiv aufgenommen wird. Dass es funktioniert, ist kein Wunder, wenn meine sechsjährige Tochter zuhause die Inhalte sogar freiwillig mitmachen möchte, wenn sie mich bei der Vorbereitung erwischt. Sie möchte auch ein neues Pokemon auf das Arbeitsblatt malen, über das ich mit den Kids am nächsten Tag auf Englisch sprechen werde. Sie möchte den mit KI erstellten Popsong über Haustiere und Möbel unbedingt drei Mal hören, weil er so witzig ist (sie ist zweisprachig, das hilft natürlich). Sie fragt sofort, was man bei dem zugehörigen Arbeitsblatt machen soll (die Bilder Strophen zuordnen und in die richtige Reihenfolge bringen) und macht sich sofort an die Arbeit, das Rätsel zu lösen.
Und was ist mit unseren Ängsten als Lehrkräfte?
Die Angst, der Unterricht könnte von unmotivierten und unkonzentrierten Schüler:innen zerschossen werden. Die Angst, nicht mit dem Stoff durchzukommen oder schlechten Unterricht zu machen. Die Angst, jemand könnte – Schluck – hospitieren kommen wollen? In meinem NW-Unterricht kommt bitte niemand unangekündigt vorbei … Aber in Englisch, da sind Besucher:innen jederzeit willkommen. Meine Erinnerungen des letzten halben Jahres beziehen sich nicht darauf, was wir nicht geschafft haben, oder wer sich sowas von danebenbenommen hat, sondern: Welche Jungs dieses Essen so mögen, dass sie es geschafft haben, unser erdachtes Klassenmaskottchen, einen gehörnten, vieräugigen Drachen „Döner“ zu nennen und welche Mädchen darüber sauer waren. Welches Kind in der Klasse nicht wusste, was der Beruf seiner Eltern war und wie wir daraus die Geschichte gemacht haben: Seine Katze ist eine portugiesische Spionin, die die Geheimnisse seiner deutschen Spion-Eltern an Agent Cristiano Ronaldo verrät (von dem ich dachte, er sei Spanier). Welches Mädchen Spinnen liebt und welches sie hasst und wie witzig die Geschichte wurde, die wir daraus machten. Welcher zehnjährige Junge mit Rechtschreib- und Konzentrationsschwäche mir freiwillig vorschlug, fünf Minuten „Action English“ (TPR) in der Klasse vorzubereiten und anzuleiten und sich besser schlug als manche Lehramtsanwärter:innen. Und ich bin total entspannt, weil wir zusätzlich zu den Buchthemen noch ganz schön viel nebenher schaffen und die Lernenden schnell Fortschritte machen. Ich habe es jetzt schon erfolgreich an Oberschule und Gymnasium ausprobiert und kenne viele Kolleg:innen, auch aus dem Inklusionsbereich, der Grundschule oder der Erwachsenenbildung, die sehr glücklich mit Comprehensible Input arbeiten.
Lebendige Beziehungen
Vielleicht denkst du: „Das klingt toll, aber das ist doch bestimmt zu viel Aufwand.“ Tatsächlich braucht es eine Umstellung – aber die lohnt sich. Statt Arbeitsblätter auszuteilen oder das Buch aufzuschlagen (mit dem wir aber auch arbeiten), erschaffst du eine lebendige Unterrichtsstunde, die dir und deinen Schüler:innen Spaß macht und Beziehung herstellt. Wenn man die Technik gelernt hat, geht das auch mit wenig bis zu keiner Vorbereitung. Und das Beste: Es funktioniert mit jeder Sprache und in jedem Alter. So wird Schule zu einem lebendigen Ort ohne Zwang, Scham, Angst und Frust. Wie könnte es für dich als Fremdsprachenlehrkraft weitergehen? Du findest von mir einen Youtube-Kanal für Schüler:innen („Englisch ganz Easy mit Ms. Dincher“) und meine Website (www.sprachenbesserLEHREN.de) mit Ideen und Material. Und jeden Donnerstag könntest du hospitieren kommen.