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„Jeder sechste deutsche Erwachsene liest wie ein Zehnjähriger“ (SPIEGEL)

Unter dem Titel „Deutschland muss nachsitzen“ war am 8.10.13 in SPIEGEL-online zu lesen: „Deutschlands Erwachsene lesen und rechnen im internationalen Vergleich nur mittelmäßig…“. Basis für diese Einschätzung sind die durchschnittlich 270 Testpunkte, die deutsche Erwachsene 2012 in einem Lesetest erreicht haben – gegenüber einerseits 296 Punkten in Japan und 288 in Finnland, andererseits 250 in Italien und 252 in Spanien (Rammstedt 2013, S. 44).

Dieses Urteil bezieht sich auf einen repräsentativen Querschnitt der 16- bis 65-Jährigen, also derjenigen, die seit den 1960er Jahren eine der erfolgreichsten Volkswirtschaften „am Laufen“ halten, die die Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft und die Demokratisierung der ostdeutschen friedlich vorangetrieben, die Anforderungen der (Wieder-)Vereinigung in erstaunlichem Umfang bewältigt und nach der Finsternis des Nationalsozialismus ein breites kulturelles Leben entfaltet haben. Auch wenn Vieles noch zu tun bleibt (mehr Offenheit für Migration, Inklusion in Schule und Gesellschaft, Abbau sozialer Ungerechtigkeiten): Es ist schon erstaunlich, was diese in Leistungstests „mittelmäßig“ abschneidenden Nachkriegsgenerationen im Alltag geleistet haben – auch im internationalen Vergleich. Sind solche Tests – wie auch IGLU und PISA - vielleicht weniger aussagekräftig, als gemeinhin behauptet wird?

Aber auch „systemimmanent“, also innerhalb des Testvergleichs, sind die Befunde durchaus positiv und widersprechen der These des SPIEGEL, „…dass sich die Literalität in Deutschland drastisch verschlechtert…“ habe. So liegen von den 55- bis 65-Jährigen (Grundschule 1954-1967) immerhin 24% auf oder unter Stufe 1 – unter den 16- bis 24-Jährigen (Grundschule 1995-2007) sind es dagegen nur noch 13%; Unter den (sehr) guten LeserInnen finden sich in der ältesten Gruppe nur 3-4%, in der Gruppe der Jungen dagegen 14% (S. 79). Von Leistungsverfall keine Spur. Im Gegenteil: Wie schon andere Daten zeigten, lesen die jungen Menschen mehr und besser als die älteren (und sie sehen deutlich weniger fern, um mit einem weiteren Vorurteil aufzuräumen). Dieses Muster zeigte sich schon vor fast 20 Jahren in einer früheren OECD-Untersuchung (IALS 1995) und es stimmt überein mit einer aktuellen deutschlandinternen Erwachsenen-Studie (leo.-Level One Studie). Im Durchschnitt beträgt dieser Generationenunterschied 25 Testpunkte. Es gibt zwar Länder, in denen er noch größer ist (etwa in Südkorea mit 49 Punkten und in Finnland mit 37 Punkten), aber auch andere, in denen es gar keinen Fortschritt zu verzeichnen gibt oder wo er sehr viel geringer ausfällt (etwa Großbritannien mit 0 Punkten und USA mit 9 Punkten). Insofern sind die Kompetenzgewinne der jüngeren Menschen nicht selbstverständlich – und sie widersprechen jedenfalls für das Lesen den häufig zu hörenden Vorwürfen, neue Methoden des Lese- und Schreibunterrichts schadeten den Kindern.

Dagegen spricht auch ein weiterer interessanter Befund: Zwischen Erwachsenen, die in Deutschland-West bzw. –Ost aufgewachsen sind, gibt es kaum Unterschiede. Und das trotz der deutlich anderen Unterrichtsmethoden, z. B. eines sehr viel intensiveren und systematischeren Deutschunterrichts in der damaligen DDR. Dieser für die aktuelle Diskussion bedeutsame Befund ist ebenfalls nicht neu (vgl. das „Leistungs-Patt“ in den Lese- und Schreibvergleichen kurz nach der Wende Anfang der 1990er Jahre), wird aber oft übersehen.
Dass die AutorInnen als Erklärung für den beobachteten Kompetenzzuwachs allerdings in Betracht ziehen, dass die „…jüngsten Geburtsjahrgänge… in Deutschland eventuell schon von den Bildungsreformen und Initiativen „nach PISA“ profitiert haben“ (S. 14) erstaunt. Zum einen könnte von den 16- bis 24-Jährigen nur ein Teil (und auch dieser erst in der Sekundarstufe) von solchen Maßnahmen profitiert haben, da diese kaum vor 2005 in der Breite gegriffen haben dürften. Zum anderen handelt es sich um einen langfristigen Trend, wie die Durchschnittswerte für die fünf Geburtskohorten zeigen: von 254 Testpunkten (1947-1957) über 264 Punkte (1958-1967), 275 (1968-1977) und 281 (1978-1987) bis hin zu 279 Punkten (1988-1997). In der letzten Gruppe hat es im Durchschnitt also gerade keine erkennbare Verbesserung gegeben
Wie zu erwarten lesen Erwachsene anderer Muttersprache in der Testsprache Deutsch deutlich schlechter (mit durchschnittlich 238 Testpunkten) als diejenigen, die mit ihr aufgewachsen sind (274 Punkte). Auch dieser Befund passt zu den Ergebnissen aktueller Schülerstudien wie IGLU und PISA. Die Größe dieses Unterschieds ist im internationalen Vergleich nur schwer einzuschätzen, da etwa Länder wie USA, Kanada und Australien eine gezielte Einwanderungspolitik betreiben, also in erster Linie höher qualifizierte Ausländer aufnehmen oder der Migrantenanteil in Ländern wie Polen und Estland deutlich niedriger ist als in Deutschland. Immerhin schneiden die in Deutschland geborenen MigrantInnen mit durchschnittlich 251 Testpunkten deutlich besser ab als „Seiteneinsteiger“ mit nur 233 Punkten.
Unerwartet das Ergebnis, dass sich die von der Grundschule zur Sekundarstufe hin öffnende Geschlechter-Schere bei den Erwachsenen wieder schließt (S. 91). In den älteren Geburtsjahrgängen sind die Männer sogar den Frauen überlegen; allerdings verschwindet dieser Unterschied, wenn man Drittfaktoren wie Bildungshintergrund und Erwerbsstatus kontrolliert (S. 92).
Zu den schlechten Nachrichten gehört auch: Auch schon in den älteren Generationen ist das Niveau der Lesefähigkeit in starkem Maße abhängig vom Bildungshintergrund der Eltern – und zwar wesentlich mehr als in allen anderen Ländern außer den USA (S. 112 f.). Dies ist also kein neues Problem, sondern war – wie ja auch in den 1960er und 1970er Jahren schon einmal intensiv diskutiert – offensichtlich schon immer eine Grundschwäche des deutschen Bildungssystems. Diese soziale Ungerechtigkeit stellt auch heute die zentrale Herausforderung für die Gesellschafts- und Bildungspolitik dar.

Literaturangaben:

  • Bos, W., u. a. (2012): IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Waxmann: Münster u. a.
  • Brügelmann, H., Lange, I., u. a. (1994): "Schreibvergleich BRDDR" 1990/91. In: Brügelmann, H./ Richter, S. (Hrsg.) (1994): Wie wir recht schreiben lernen. Zehn Jahre Kinder auf dem Weg zur Schrift. Libelle Verlag: CH-Lengwil (2. Aufl. 1996), 129-134.
  • Grotlüschen, A./ Riekmann, W. (Hrsg.) (2012): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. – Level-One Studie. Waxmann: Münster.
    Klieme, E., u. a. (Hrsg.) (2010): PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Waxmann: Münster.
  • Lehmann, R. H., u. a. (1995): Leseverständnis und Lesegewohnheiten deutscher Schülerinnen und Schüler. Beltz: Weinheim/ Basel.
  • OECD & Statistics Canada (ed.) (1995): Grundqualifikationen, Wirtschaft und Gesellschaft. Ergebnisse der ersten internationalen Untersuchung von Grundqualifikationen Erwachsener. Paris/Ottawa (engl. 1995).
  • Rammstedt, B. (Hrsg.) (2013): Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich. Ergebnisse von PIAAC 2012. Waxmann: Münster u.a.