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Frauen- und Migrationspolitik

››InternationaIismus ist leider etwas aus der Mode gekommenl«

Medine Yildiz über Identität und Widerstand

Sie ist Mitglied im Landesvorstand der Bremer Linken und dort zuständig für Frauen- und Migrationspolitik.
Für die Partei sitzt Medine Yildiz (57) auch im Bremer Frauenausschuss. Aufgewachsen ist sie in Dersim, einem Zentrum der alevitischen Kultur und des demokratischen Widerstandes in der Türkei. Dort hat sich schon früh für Arbeiter*innen und Frauenrechte eingesetzt. In Bremen lebt sie seit 1986, seitdem ist als Gewerkschafterin und Betriebsrätin sowie in der Frauenarbeit aktiv. Das Interview führte Werner Pfau.

Du stammst aus Dersim, einer alevitischen und politisch bewegten Gegend. Hat dich das geprägt?

Ich bin zwar Atheistin, aber es gibt Aspekte der alevitischen Philosophie, die mich geprägt haben. Meine Eltern haben immer gesagt: Nationalität spielt keine Rolle, ebensowenig Religion oder Herkunft. Demokratische Alevit*innen haben in der Geschichte viel Unterdrückung erlebt, zum Beispiel durch die nationalistische Politik der Assimilation in der Türkei.
›>Türkentum<< war mit dem sunnitischen Islam verbunden. Daher sind viele alevitisch geprägte Menschen in sozialen Bewegungen zu finden, obwohl es natürlich auch konservative Richtungen gibt. Später habe ich durch den Einfluss der Achtundsechziger Feminismus und Marxismus kennengelernt. Ich sehe mich als Internationalistin. Das ist leider etwas aus der Mode gekommen.

Wie meinst du das?

Heutzutage kommt es mir so vor, als ob die Gesellschaft Migrant*innen gerne in Schubladen stecken möchte. Mich zum Beispiel möchten viele auf
irgendeine Identität festlegen, als Muslima, Alevitin, Kurdin. Wenn ich dann sage, ich bin Internationalistin und Feministin, wirken sie geradezu enttäuscht. Selbst bei meiner Partei treffe ich manchmal solche Haltungen.

Siehst du dich nicht als Alevitin oder Kurdin?

Zu allererst bin ich ein Mensch.

In Deutschland bin ich alleinerziehende Frau, die von Armutsrisiken betroffen ist. In Dersim oder Sivas, wo islamistische Gruppen viele Menschen alevitischen Glaubens massakriert haben – in einem Hotel wurden 37 Menschen lebendigen Leibes verbrannt -, bin ich Alevitin. In Cizre, wo türkische Spezialeinheiten vor ein paar Jahren schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben, bin ich Kurdin. Im Irak, wo viele Jesidinnen versklavt wurden, bin ich Jesidin. Im Iran bin ich die Frau, die öffentlich den Schleier ablegt und dafür ins Gefängnis muss. In Saudi-Arabien bin ich die Frau, die gesteinigt wird.

Das heißt, du möchtest nicht in eine Schublade gesteckt werden?

Richtig. Mit Nation und Religion war immer Unterdrückung verbunden, insbesondre für Frauen und Kinder in patriarchalen Strukturen.
Wieviele Kriege wurden im Namen angeblicher religiöser oder nationaler Überlegenheit geführt?

Aber würden dir darin nicht viele zustimmen?

Zum Glück gibt es starkes antirassistisches Bewusstsein in Bremen. Man kämpft gegen den Rassismus deutscher Herkunft. Was mich jedoch enttäuscht: Der politische Islam wird verharmlost. Als Migrantin muss ich nicht nur vor deutschen Rechten Angst haben, sondern auch vor islamistischen Gruppen, die ihre Propaganda unter Migrant*innen machen.
Aus Saudi-Arabien und anderen Ländern fließt dafür viel Geld. Die Grauen Wölfe aus der Türkei verbreiten Nationalismus. Cem Ozdemir spricht das offen an, viele andere schweigen. Auch in der Linken gibt es viele, die das Thema tabuisieren.

Warum ist das so?

Man möchte man sich schützend vor die Muslim*innen stellen, gegen die ja von rechts Stimmung gemacht wird. Dabei verwechselt man aber einiges: Religionskritik bezieht sich auf religiöse Inhalte, zum Beispiel auf Diskriminierung von Frauen in Bibel oder Koran. Sie richtet sich gegen Dogmen und Strukturen, nicht gegen die einzelnen Gläubigen. Religionskritik kann Gläubigen helfen, sich aus patriarchalem Denken zu lösen. Der AfD geht es hingegen um pauschale Verurteilung aller Muslim*innen.

Religionskritik und Hetze gegen Gläubige darf man nicht verwechseln.

Ein weiterer Grund für das Schweigen ist vielleicht die Angst um Wählerstimmen. Wenn säkulare Muslim*innen oder Atheist*innen wie ich darüber reden, werden wir in einen Topf mit der AfD geworfen – das ist extrem beleidigend. Vor allem, wenn es von Leuten kommt, die nicht in einem muslimischen Land aufgewachsen sind und die mir dann >den Islam< erklären wollen.

Hat Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft nicht Priorität?

Ich weiß, was Diskriminierung in Deutschland heißt. Ich könnte viel erzählen. Doch es ist naiv zu glauben, unter Migrant*innen gäbe es so etwas wie Rassismus und religiösen Fanatismus nicht. Das gibt es weltweit. Als ich 1985 in Istanbul lebte, mussten wir nachts das Licht anmachen; niemand durfte sehen, dass wir am Ramadan nicht fasten. Ein junger Mann wurde kürzlich im Iran hingerichtet, weil er homosexuell war.
Menschen in islamischen Ländern, die sich emanzipieren wollen, haben unsere Solidarität genauso verdient, wie diejenigen, die in Deutschland diskriminiert werden.

Hast du Wünsche für die Zukunft?

Dass mehr Frauen in wichtigen Positionen sind. Positiv fand ich 2012 die Gründung der HDP in der Türkei. Kurdische, feministische und Bürgerrechtsgruppen haben sich vereinigt, die türkische Linke war auch eingeladen. Ihr ehemaliger Vorsitzender Selahettin Demirtas und viele andere Mitglieder sitzen seit Jahren im Knast. Wer spricht noch davon? Selbst manche meiner kurdischen Freund*innen scheinen das vergessen zu haben.