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Interkulturelle Schulrealität

Die PISA-Studie hat uns auf dramatische Weise vor Augen geführt, dass in Deutschland die Schulleistung in massiver Form von sozialer Herkunft abhängig ist und dass das deutsche Schulsystem nicht in der Lage ist, die Migrantenkinder erfolgreich im Schulwesen zu integrieren Hierbei stand Bremen als Stadtstaat mit einem relativ hohen Anteil an sog. Schüler/innen mit Migrationshintergrund an unterster Stelle im Leistungsvergleich der Bundesländer. Diese Tatsachen veranlassten Bremen zu entsprechenden bildungspolitischen Reaktionen. Der vorliegende Beitrag zeigt in diesem Zusammenhang einen kleinen Ausschnitt aus praktischer Schulrealität.

„Migrationshintergrund“ - eine Zuschreibung des „Andern“

Die Bezeichnung „Schüler mit Migrationshintergrund“ ersetzte den Begriff „ ausländische Schüler“. Da diese Schülergruppe die Zielgruppe des Projektes bildet, ist hier eine kritische Bemerkung angebracht. „Die Unterscheidung zwischen ‚Migranten’, die nicht zur Gesellschaft gehören, und den Nicht-Migranten, die fraglos und selbstverständlich dazugehören“
[ siehe: Prof. Dr. Paul Mecheril: Mehr intrakulturelle Kompetenz. Ausblick zum sogenannten interkulturellen Lernen. Aus der Dokumentation der Fachtagung, Chancen der Vielfalt nutzen lernen, 1. Juli 2011, Fachhochschule Köln ]
führt zur Konstruktion von einem „Wir“ auf einer Seite und etwas „Anderem“ auf der anderen Seite. (S. Prof. Mecheril auf S. 8) Trotzdem bleibt die Verwendung dieser Bezeichnung im Rahmen des Projektes FARQ, das gezielt für diese Schülergruppe eingerichtet worden ist und auch Fördermittel nur dafür bekommt, unverzichtbar. Interessant ist dennoch, wie intensiv die Jugendlichen ihnen zugeschriebene Attribute internalisieren und auf die Ansprache im Rahmen des Projekts anders reagieren.

Das Projekt FARQ:

Das Projekt, das vor acht Jahren im Zuge der Reaktion auf die PISA-Ergebnisse seine Arbeit aufgenommen hat, ist von mir konzipiert worden und wird von mir geleitet. Das Angebot an Fördermaßnahmen, Beratung sowie Vermittlung zwischen Schule einerseits und den Migranteneltern bzw. Migrantencommunities andererseits bildet seine Hauptaufgabe. Entsprechend bilden diese Aspekte die drei Säulen des Projektkonzepts.

Fördermaßnahmen

Der Förderunterricht in der Schule ist in der Regel nicht positiv besetzt. Wer geht schon freiwillig nach 6 bzw. 8 oder mehr Stunden Regelunterricht am Nachmittag zusätzlich zu einem Förderkurs? Häufig sind dazu jene gezwungen, die wegen ihrer schlechten Leistungsnoten versetzungsgefährdet sind. Der Erfolg solcher Kurse ist deshalb gering, weil deren Teilnehmer/innen sich nicht selber dafür entscheiden und deshalb statt der Lernmotivation mehr Störungspotentiale mitbringen, so dass Teilnehmer/innen, die freiwillig und mit hoher Motivation dort hinkommen, nach ein paar Stunden enttäuscht sind, sich schnell abmelden und sich mit den Noten unter ihrem Potential und ihrer Erwartung zufrieden geben. So hinterlassen solche Förderkurse nicht nur bei den Teilnehmer/n/innen einen negativen Eindruck. Zu Beginn des Projekts berichteten die Kollegen/innen, die Förderkurse selbst durchgeführt oder organisiert haben, folgendes: „Förderkurse finden häufig nur dreimal statt. Zum ersten Mal - kurz vor einer Klassenarbeit bzw. Klausur - kommen über 20 Teilnehmer/innen. Sie gehen enttäuscht aus dem Kurs, weil sie nicht individuell betreut werden können. Zum zweiten Mal kommen halb so viele, gehen aber aus dem gleichen Grund wieder enttäuscht nach Hause. Zum dritten Mal kommt nur die Förderlehrkraft.“ Zudem ist die Ansprache der Schüler/innen mit Migrationshintergrund in dem Zusammenhang problematisch. Die Zuschreibung „Migrationshintergrund“ impliziert ohnehin die „schlechte Schulleistung“. Die Erfahrung der Kollegen/innen, die Fördermaßnahmen nur für diese Zielgruppe in der Schule organisieren wollten, war daher, dass diese Kurse kaum entstanden sind.
Wie soll eine Fördermaßnahme konzipiert werden, die trotz dieser ungünstigen Startvoraussetzungen und fehlender Frühförderung zur Verbesserung der Schulleistungen beitragen kann? Stärkung des Selbstvertrauens der Schüler/innen und Erfolgorientierung standen im Zentrum der konzeptionellen Überlegungen. Auf dieser Grundlage und mit einem Ansatz, der auf vernetzender und rückkoppelnder Kommunikation basiert, begann das Projekt seine Arbeit und konnte in kurzer Zeit Akzeptanz und Zuspruch gewinnen.
Die Förderkurse werden in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch - in der Oberstufe auch Biologie, in kleinen Gruppen (5 - 7 Teiln.) von Lehramtsstudenten/innen, die diese Fächer studieren, unterrichtet.

Beratungsangebot

Die Umsetzung der Fördermaßnahme wäre ohne das Beratungsangebot des Projektes nicht erfolgreich. Schon im Vorfeld bestätigten Beratungslehrer, Sozialpädagogen und Schulpsychologen, dass sowohl Schüler/innen mit Migrationshintergrund als auch ihre Eltern nur zur Beratung kommen, wenn von schulischer Seite etwas gegen sie vorliegt und fast nie von sich aus, freiwillig. Auch der große Zweifel an der Lern- und Leistungsbereitschaft dieser Schülergruppe klang überall durch. Als Prognose betrachtet waren diese Aussagen eindeutig wenig optimistisch.
Schon bei ersten Terminen der Sprechzeit zeigte sich, wie groß die Bedarfspotenziale an Beratung und Förderung aber auch wie zahlreich die Barrieren und Hemmnisse auf dem Weg zum Ziel sein werden. Vertrauensbildung war eine wichtige Voraussetzung für die Beratung. Auch die Schüler/innen, die als Teilnehmer/innen zusätzlich zu dem Regelunterricht am Nachmittag das Förderangebot wahrnehmen, mussten unmittelbar durch den persönlichen Erfolg von der Zielsetzung des Projektes überzeugt werden. Diejenigen, die am eigenen Erfolg zweifeln (nicht wenige), mussten durch Beratung in ihrem Selbstvertrauen gestärkt werden. Auch die Lehrerkolleg/en/innen mussten erst die Nützlichkeit des Projektes erkennen.
Beratungen werden auf zwei Ebenen angeboten: a) für Schüler/innen mit Migrationshintergrund, ihre Eltern und Kollegiumsmitglieder der Kooperationsschulen. b) begleitende Beratung für die FörderkursteilnehmerInnen. Es gibt auch Beratungsgespräche im Zusammenhang mit Konfliktenzwischen Schule und Eltern, die zumeist in einer Konfliktmoderation und -verhandlung enden.
Zu Beginn waren trotz der schnell zunehmenden Anzahl der Anmeldungen die Fragen im Beratungsgespräch vorsichtig. Die SchülerInnen kamen in Gruppen mit gemeinsamen Anliegen. Viele ihrer Fragen standen im Zusammenhang mit Identitäts- bzw. Verhaltensunsicherheiten. Dann mit der Zeit kamen sie mit individuell differenzierteren persönlichen Fragen zu zweit oder auch einzeln. Nicht selten sind Diskriminierungswahrnehmungen Gegenstand der Gespräche. Die SchülerInnen benennen Probleme, die objektiv gesehen häufig nicht als solche gesehen werden können. Aus ihrer Sicht sind es Probleme, die im Kontext ihrer Ungleichbehandlung stehen. Sie empfinden diese als Ausgrenzung, Stigmatisierung oder Diskriminierung. Da sie dieses Gefühl haben, muss es auch im Beratungsprozess ernst genommen und entsprechende Handlungsempfehlungen müssen angeboten werden – mehr noch: die Empathie der Betroffenen muss gezielt gestärkt werden.
Dass die Zielgruppe als Angehörige einer Minderheit wegen ihrer Anfälligkeit für Ausgrenzung im allgemeinen mehr Diskriminierungserfahrungen macht und deshalb dazu neigt jegliches Verhalten als diskriminierend zu kategorisieren, ist mir nirgendwo so deutlich geworden, wie im Rahmen dieses Projektes. Schwierige Konflikte im persönlichen Bereich werden in den Beratungsgesprächen dann vorgetragen, wenn die Betroffenen einige Zeit die Unterstützung des Projekts in Anspruch genommen haben und sich das entsprechende Vertrauen entwickelt hat.

Vermittlungsangebot
Ursprünglich ist dieses Angebot nicht Gegenstand des Auftrags und des eigentlichen Konzepts gewesen. Einige Zeit nach dem Beginn stieg die Nachfrage von Kollegen/innen in Bezug auf Konflikte zwischen ihnen und den Migranteneltern sehr rasch an. Sport- und Schwimmunterricht sowie Klassenfahrten bildeten die Konfliktfelder. Vor allem das letztere gestaltete sich zu einer schwierigen und zeitraubenden Angelegenheit. Die Eltern, vor allem muslimische Väter wollen nicht, dass ihre Töchter an Klassenfahrten teilnehmen. Für diese Haltung bringen sie häufig religiöse Gründe vor.
Man macht sich keine Freunde, wenn man gegen festgefahrene Vorstellungen, vor allem gegen Autorität der Väter vorgeht, “ich denke Sie sind Muslim. Wie kommen Sie auf die Idee, mir zu sagen, dass meine Tochter auf die Klassenfahrt mitfährt.” oder “ich glaube Ihnen nicht, dass es das Gesetz zur Verpflichtung ….überhaupt gibt. „Meine zwei anderen Töchter, die die Schule hier abgeschlossen haben, sind niemals mitgefahren.” Diese und ähnliche Statements waren von den Vätern, die manchmal wutentbrannt zu mir kamen, zuhören. Sie erwarteten von mir, dass ich Ihnen dabei helfe, ihre Töchter aus der Verpflichtung, an der Klassenfahrt teilzunehmen, zu befreien. Meine Botschaft war jedoch das Gegenteil: Die Erläuterung des pädagogisch und integrativen Ziels der Maßnahme sowie die Zusammenarbeit mit der Schule im Sinne des Schulgesetzes stehen dabei im Vordergrund. Für mich bildet hier das Schulgesetz das kleine Format des Grundgesetzes, das die zentrale Grundlage für den integrativen Konsens verkörpert. Aufgrund dieser gegensätzlichen Erwartungshaltungen kann man sich vorstellen, dass sich die Gespräche hier nicht einfach gestalteten. Diese Gespräche waren zahlreich und zeitraubend und dauerten Wochen, und nicht selten hatten wir dafür wenig Zeit. Die Gespräche und Verhandlungen waren hart und schwierig - doch sie waren erfolgreich, mit wenigen Ausnahmen.
Das Thema „Klassenfahrt“ gehört neben dem „Schwimm- und Sportunterricht“ zu den „klassischen Konfliktfeldern“ in den Schulen. Merkwürdig ist die Behandlung dieser Themen in der deutschen Öffentlichkeit. Nur wenn es um die Unzulänglichkeit der islamischen Migranten geht, gewinnen sie großen Raum, Aktualität und Bedeutung.
Richtig und wichtig ist, dass Hemmnisse der Integration auch auf Seiten der Migranten kritisiert werden. Noch wichtiger ist es, dass Migranteneltern auch als Akteure der Schulgemeinschaft ernst genommen werden. Wenn wir die Konflikte und diese Elterngruppe ernst nehmen, müssen wir darüber mit ihnen direkt und offen sprechen.
In allen drei Arbeitsbereichen, die ich hier dargestellt habe sind Veränderung im Laufe des Schulenwicklungsprozesses bemerkbar. Die Tendenz ist deutlich: die Entwicklung trägt zur Verbesserung des Schulklimas und damit zur Verbesserung der Arbeit zwischen der Schulische Unterstützungseinrichtungen und der Schule bei.

Zuspruch, Bedarf und Weiterentwicklung

Das Projekt ist sichtbar gut angenommen. Sowohl die Anzahl der Gespräche als auch der Zeitbedarf für die Sprechzeiten zeigen dies. Im Schuljahr 2009/10 habe ich insgesamt 1312 Gespräche mit den Schüler/innen, Eltern, Lehrkräften und studentischen Förderkräften durchgeführt. Die Sprechzeit vor Ort (in den 5 bzw. 6 Kooperationsschulen), die zunächst jeweils für eine Stunde angesetzt war, stieg schnell auf zwei Stunden an. Zurzeit beträgt der Bedarf in einigen Schulen mehr als 4 Stunden. Der Bedarf an Angeboten des Projekts trotz positiver Ergebnisse des Schulentwicklung wird weiterhin bestehen. Mehrsprachigkeit, eine wichtige Ressource hat auch eine andere Seite. Ein Migrantenkind, das zu Hause seine Herkunftssprache benutzt, hat weniger Zeit für die Anwendung der Bildungssprache. Das erfordert einen Förderbedarf in Deutsch und in den Hauptfächern bis zum Abitur, wie es in anderen Migrationsländern, trotz des langen gemeinsamen Lernens und der Frühförderung, üblich ist.

Kontakt
Karsten Krüger
Schriftleiter des Bildungsmagaz!ns
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