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Inklusion – der Stand der Dinge

Am 15.04. hatte die GEW die bildungspolitischen SprecherInnen der Bürgerschaftsparteien und den Landesbehindertenbeauftragten geladen, um über den Realisierungsstand der Inklusion an den Bremer Schulen zu sprechen. Am gleichen Tag wurde das »Bremer Memorandum« der Presse vorgestellt. (Siehe hierzu die letzte BLZ und den WK vom 16.04.) Eingeleitet wurde die Versammlung durch Beiträge der ZUP-Leitungen, vertreten durch ihre SprecherInnen. Wir dokumentieren hier die Beiträge aus der Primarstufe und der Sek. I.

Zum Stand der Inklusion in Bremer Grundschulen

Gunhild Ruhstrat

Inklusion in Bremer Grundschulen - das wird seit Jahren gemacht und die Kolleginnen können das – das ist die allgemeine Sprachregelung! Und es ist sicher richtig, dass im Primarbereich über die Jahre hinweg in den meisten Schulen eine positive Grundhaltung und ein Knowhow für Kinder mit Problemen im Lernen, in der Sprache und im Verhalten entstanden sind.
Aber können wir das Ziel unter den vorfindbaren Bedingungen wirklich erreichen – nämlich: Den Schülerinnen und Schülern eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilnahme am Bildungssystem und im gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen?

Es ist schwierig, allgemein gültige Aussagen zur Inklusion in Bremer Grundschulen zu treffen. Wir alle wissen, dass die Entwicklungen in den verschiedenen Stadtteilen sehr unterschiedlich verlaufen. Der Armut- und Reichtumsbericht für Bremen hat gezeigt, dass der Anteil armer Menschen rasant steigt, aber auch der Reichtum Einzelner. Dies geht einher mit einer zunehmenden sozialen Entmischung.
Es gibt Grundschulen, deren Schülerschaft am Ende der Grundschulzeit zu 70-80 Prozent in die Gymnasien wechseln und wir haben auf der anderen Seite Schulen, in denen höchstens 10-20 Prozent der SuS eine gymnasiale Empfehlung erhalten. In der Regel sind dies auch die Schulen mit einem überproportionalen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund und auch mit sonderpädagogischen Bedarfen.
Die zu bewältigenden bildungspolitischen Herausforderungen sind in diesen Stadtteilen besonders groß, wenn es uns darum gehen soll, ungleiche Bildungs- und Lebenschancen zu kompensieren.

Inklusion in Bremen wurde begonnen nach langen Jahren der Kürzungen im Bildungsbereich. Viele auftretende Probleme, die jetzt als Folge des Inklusionsprozesses angesehen werden, waren schon vorher vorhanden, werden aber jetzt überdeutlich.

Inklusion kann aber nur dann gelingen, wenn auch die Grundausstattung an den Grundschulen ausreichend ist. Damit gemeint sind u.a. ausreichend Stunden für LRS, Dyskalkulie, Motorik, Sprachförderung und im Moment besonders brisant: genügend Stunden, um Sprachanfänger angemessen fördern zu können.

 

Zur konkreten Situation in den ZuPs im Bereich LSV in Grundschulen:

1. Es gibt eine strukturelle Unterversorgung in der sonderpädagogischen Förderung in den Grundschulen. Bei der Berechnung der sonderpädagogischen Stunden wird von einer Förderquote von 6% ausgegangen. Man folgt damit den Empfehlungen von Preuss- Lausitz aus dem Jahre 2008. Selbst behördenintern geht man inzwischen von einem wesentlich höheren Anteil aus. Grundsätzlich ist deshalb zu sagen: mit den vorhandenen Stunden können nicht alle Schülerinnen und Schüler, denen eine sonderpädagogische Förderung zustehen würde, angemessen versorgt werden.

Manche bleiben unversorgt, und an eine präventive Förderung, wie im Schulgesetz verankert, ist unter diesen Bedingungen gar nicht zu denken.

2. Eine Feststellungsdiagnostik findet erst am Ende der dritten Klasse statt – das klingt fortschrittlich – aber: Wenn man die SuS der ersten drei Grundschuljahre nicht mit berechnet, verringert man, gewollt oder nicht gewollt, die sogenannte örderquote.

3. Es gibt keine personellen und inhaltlichen Standards, nach denen in Grundschulen gefördert werden kann und soll. Da werden Schülerinnen und Schüler stundenweise aus dem Unterricht herausgenommen, in Kleingruppen unterrichtet, im Jahrgang verteilt… je nachdem, wie die Stunden reichen. Ein System ist auch bei gutem Willen nicht zu erkennen.

4. Unterrichtsausfall ist im Primarbereich für Eltern kaum wahrnehmbar, da alle Schulen verlässlich sind. Auf einen medialen Aufschrei von Seiten der Eltern warten wir deshalb vergeblich.
Sonderpädagogen werden grundsätzlich nicht vertreten, auch nicht bei längerfristigen Erkrankungen. Doppelbesetzungen werden auf Kosten der sonderpädagogischen Versorgung aufgelöst. Die Betreuung durch pädagogische Mitarbeiter ersetzt aber keinen Unterricht durch Lehrkräfte. Die Leidtragenden sindalle Schülerinnen und Schüler, aber  besonders die, die einen Anspruch auf eine besondere Förderung haben.

5. Sonderpädagoginnen und – pädagogen im Primarbereich sind im Wesentlichen für die Diagnostik zuständig. All die Stunden, die dafür nötig sind, gehen auf Kosten der zu fördernden SuS, da es dafür keine Extrazuweisung gibt. Dazu heißt es lapidar: Diese Stunden sind in der allgemeinen Zuweisung enthalten.

6. Seit diesem Schuljahr gibt es unter der ID Nr.1051 ein neues Modell der Stundenberechnung im Bereich LSV im Primarbereich, das uns als innovativ, bundesweit vorbildlich, transparent und sozial gerecht verkauft wird. Begründet wird diese Neuverteilung mit dem Argument, dass man aus dem Ressourcen-Etiketten-Dilemma herauskommen müsse. Deshalb wurden den Schulen nach Schulgröße und sozialen Indikatoren Stunden für die sonderpädagogische Förderung zugewiesen.

Manche Schulen haben zu Recht von diesem neuen Verteilungsschema profitiert. Aber an vielen Stellen Bremens kam es zu erheblichen Verwerfungen. In einigen Stadtteilen haben Schulen, die eigentlich kaum Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufweisen, ein erhebliches Stundenkontingent dazu gewonnen, während Schulen in sozialen Brennpunkten viele Stunden abgeben mussten, was dazu geführt hat, dass nicht mehr alle Kinder bedarfgerecht gefördert werden können.
Insgesamt fand hier eine Umverteilung von unten nach oben statt.

7. In den Ganztagsgrundschulen zeigt der Alltag, dass es extrem schwierig sein kann, Schülerinnen und Schüler mit Problemen im Verhalten, aber auch in der allgemeinen Orientierung und im Lernen ganztägig unter den vorhandenen Bedingungen angemessen zu beschulen und zu betreuen.

Und jetzt noch etwas in eigener Sache: ZuP- Leitungen im Primarbereich erhalten, egal, wie groß ihre Schule ist und egal, ob sie im Verbund arbeiten, ihr ganz normales Gehalt weiter, und das alles standortunabhängig bei einer Stundenentlastung von nur 2-3 Stunden. Kein Wunder also, dass viele ZuP-Leitungen nicht mehr besetzt sind. Das frage ich mich und Sie: Wie soll da Inklusion sinnvoll umgesetzt und weiterentwickelt werden?

 

Für mich ergeben sich daraus eine Vielzahl von Forderungen, hier nur die wesentlichen:

• Die strukturelle Unterversorgung der Grundschulen im Regel- und im Förderbereich muss ein Ende haben. Auch für Beratung und Diagnostik müssen ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt werden.

• Wir brauchen eine ausreichende Vertretungsreserve auch für Sonderpädagoginnen. Doppelbesetzungen dürfen nicht aufgelöst werden.

• Eine systemische Stundenzuweisung wie die ID 1051 muss in der jetzigen Form weg bzw. sie muss die realen Bedarfe von Schulen und Kindern widerspiegeln. Jedes Kind hat neben einer systemischen Versorgung weiterhin auch einen individuellen Anspruch auf Förderung, dieser muss eingelöst werden.

• Bei besonderen Bedarfen einzelner SuS muss es Nachsteuerungsmöglichkeiten geben, damit sie in der Grundschule ihres Einzugsgebietes verbleiben können und Grundschulen müssen durch die Bereitstellung entsprechender Mittel auf Dauer in die Lage versetzt werden, auch SuS mit anderen Behinderungsarten außer LSV aufzunehmen.

• Wir fordern auch für den P- Bereich eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation. 

• Im Primarbereich müssen ZuPLeitungen besser bezahlt werden und in Abhängigkeit von der Größe der Schule und ihres Standortes mit zusätzlichen Verwaltungsstunden ausgestattet werden.

 

Viele von unsere Grundschulen haben in ihrem Schulkonzept stehen: In unserer Schule sind alle Kinder herzlich willkommen.
Dieser Satz ist von uns sehr ernst gemeint, aber wir müssen in die Lage versetzt werden, diesen Anspruch auch einlösen zu können. Nur wenn wir es schaffen, alle Kinder pädagogisch sinnvoll zu unterrichten und zu fördern, können wir von Inklusion und einer Willkommenskultur sprechen.

 

Stellungnahme der ZuP-Sprecherinnen des SEK-I-Bereichs

Johanna Boomgarden / Christa Sprenger

Nach Abfrage an den Oberschulen ergibt sich aus der Rückmeldung von 25 Oberschulen, dass 481 Stunden von den Sonderpädagogikstunden, die den Schulen zugewiesen wurden, im aktuellen Schuljahr nicht mit SonderpädagogInnen besetzt sind – das sind 17,8 Stellen. Hinzu kommen noch die Bedarfe, die im nächsten Schuljahr entstehen durch die neu zu besetzenden 5. Jahrgänge und die Lücken, die durch Schwangerschaften, Pensionierungen usw. entstehen.
Dem gegenüber stehen 19 KollegInnen, die in diesem Sommer mit der Weiterbildung »inklusive Pädagogik« fertig werden und dann den Schulen als SonderpädagogInnen zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund kann nur eindringlich appelliert werden, die Weiterbildung nicht mit dem jetzt beginnenden 3. Durchgang zu beenden, sondern auf jeden Fall weiterzuführen – zumal es für den 3. Durchgang über 50 Bewerbungen gibt!
Des Weiteren ist unserer Ansicht nach die Behörde in Sachen Personalplanung gefragt, denn es kann angesichts der knappen Ressource an ausgebildeten Sonderpädagogen eigentlich nicht angehen, dass Sonderpädagogen in allen möglichen anderen Funktionen eingesetzt werden.
Im SEK-I-Bereich gibt es bisher pro fünf zugewiesenen Inklusionskindern aus dem Bereich LSV 15 Stunden Sonderpädagogik. Diese Stunden werden dringend dafür benötigt, die SchülerInnen im Unterricht zu begleiten.
Häufig kommt es in den ersten Jahren in der SEK I noch zu Nachstatuierungen von SchülerInnen – hier wird in der Regel nicht nachgesteuert, das heißt, es gibt für diese SchülerInnen keine zusätzlichen Sonderpädagogikstunden.

Um den vielfältigen Anforderungen, die im Rahmen der inklusiven Beschulung an die KollegInnen gestellt werden, gerecht zu werden, ist allerdings noch eine ganz andere Ausstattung vonnöten:
Wir brauchen Stunden für Kooperation, nicht nur für die SonderpädagogInnen, sondern auch für die RegelschulkollegInnen. Es geht zum einen um konkrete Absprachen und Planungen für den Unterricht – der Aufwand ist in einer Inklusionsklasse ungleich höher als in einer Regelklasse.
Außerdem ist jede Schule auf sich gestellt, was die Konzeptionsentwicklung des inklusiven Unterrichts anbelangt – auch das braucht Zeit und muss entsprechend ausgestattet werden.
Das Problem der Vertretung stellt sich in gleicher Weise wie in den Grundschulen – Sonderpädagogen werden in der Regel nicht vertreten und sind ja auch nicht einfach zu ersetzen: im W&E-Bereich z.B. kann nicht irgendjemand aus dem Vertretungspool mal einfach so in die Klasse geschickt werden.
Ein weiteres großes Aufgabenfeld ist die Diagnostik – zum einen werden die Gutachten der nachstatuierten Kinder an den jeweiligen ZUPs geschrieben, zum anderen sind die ZuPs der Oberschulen aber auch zunehmend eingebunden in die Diagnostik in den Grundschulen bis hin zur Schuleingangsdiagnostik bei den W&E-Schülern. Die hierfür benötigte Zeit geht ebenso ab von den Förderstunden, die den SchülerInnen mit Förderbedarf zustehen.
Auch werden die Sonderpädagogen von den RegelschulkollegInnen in Anspruch genommen für Beratung – eine Entwicklung, die ja sehr positiv zu sehen ist. Wenn man dann aber zu einzelnen Kindern Aussagen machen soll, muss man in der Regel erst einmal in die Klasse kommen, sich das Kind ansehen usw. – wieder alles Stunden, die von der Arbeit mit den zu fördernden Kindern abgehen. Weiter fehlt es an Sozialpädagogenstunden, was dazu führt, dass die Klassenleitungen und SonderpädagogInnen der Inklusionsklassen vielfach auch noch in erhöhtem Maße sozialpädagogische Tätigkeiten übernehmen.

Eine weitere Aufgabe, die auf die ZuPs zugekommen ist, sind die SchülerInnen aus den Vorkursen. Auch hier besteht häufig ein großer Bedarf an sozialpädagogischer Kompetenz, da es viele außerschulische Probleme gibt. Es kommen aber auch auf alle, die mit diesen Kindern zu tun haben, völlig neue Herausforderungen zu, da es hierbei z.T.um schwer traumatisierte Kinder handelt. Viele VK-SchülerInnen haben zudem große schulische Rückstände – was macht man denn z.B. mit Neuntklässlern, die neu an die Schule kommen, aber noch nie eine Stunde Englischunterricht hatten? Wie soll man diese SchülerInnen zu einem Abschluss führen, wenn es neben den 20 Stunden Sprachunterricht keine weiteren Ressourcen gibt? Auch die 10 zusätzlichen Stunden, mit denen SchülerInnen in den Regelklassen unterstützt werden sollen, wenn sie den VK durchlaufen haben, sind bisher zwar versprochen, aber noch nicht in den Schulen angekommen.

Ein weiteres Ergebnis der Abfrage an den Oberschulen bezieht sich auf die räumliche Ausstattung: der überwiegende Teil der Oberschulen ist nur sehr unzureichend mit Differenzierungsräumen ausgestattet – das ist schon für die Arbeit in den heterogenen Gruppen der Oberschulen an sich nicht akzeptabel, in der inklusiven Beschulung jedoch noch viel weniger hinnehmbar.

Ein besonderes Problem in der Inklusion stellt die Beschulung eines Teils der SchülerInnen mit Förderbedarf im sozial-emotionalen Bereich dar. Für diese SchülerInnen gibt es bisher keine konzeptionelle Lösung.
Die vorgehaltenen schulersetzenden Maßnahmen sind nicht ausreichend, der Verfahrensweg viel zu kompliziert und langwierig. Nötig wäre eine zeitnahe Notfallhilfe. Notwendig wäre aber auch, wenn sich von Seiten der Behörde einmal grundsätzlich Gedanken gemacht würde, wie eine Konzeption zur Beschulung dieser SchülerInnen im allgemeinen System denn aussehen könnte und was dafür nötig ist. Denn auch hier gilt, dass jede Schule auf sich gestellt ist, was die Entwicklung einer Konzeption zum Umgang mit diesen SchülerInnen anbelangt – und es geht hierbei nicht nur um die statuierten SchülerInnen, sondern auch in den »ganz normalen« Regelschulklassen gibt es z.T. enorme Probleme mit den nur schwer zu beschulenden SchülerInnen. Hier muss auch die Oberschulentwicklung in einem ganz anderen Maße unterstützt werden als dies bisher geschehen ist. Im Moment findet eine Abstimmung mit den Füßen statt – sehr viele Eltern möchten ihr Kind lieber an den Gymnasien sehen als an der Oberschule – das führt zu einer Entmischung der Oberschulen. Wir wollen nicht zurück zur alten Sekundarschule, aber im Moment sieht es danach aus, als wenn die Oberschule vor die Wand laufen könnte. Dabei besteht die Gefahr, dass die Inklusion dabei zum Sündenbock gemacht wird, die das System Oberschule zum Scheitern bringt – und wenn die Ressourcen in diesem Bereich nicht stimmen, kann es das System auch wirklich zum Kippen bringen.

In diesem Zusammenhang können wir nur noch einmal darauf hinweisen, dass es eigentlich nicht angehen kann, dass in dem Zwei-Säulen-Modell Oberschule und Gymnasium nur eine dieser beiden Säulen die wesentliche Aufgabe der Inklusion übernehmen soll – so schafft man nicht eine Zwei-Säulen, sondern eine Zwei-Klassengesellschaft innerhalb der Schullandschaft – und wer dabei verliert, das deutet sich schon jetzt dramatisch an.