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In gebückter Haltung

Die Bahnfahrt im Wifi on ICE

Ich sitze im Zug nach Deutschland, die Anzeigetafel im Bremer Bahnhof ist lahmgelegt durch Hacker. Es ist ziemlich leise im Abteil, weil die meisten hier Ohrstöpsel oder Riesenkopfhörer tragen. Manchmal muss ich Reisende aber zurechtweisen, wenn sie im Ruheabteil ihre Handygeschäfte tätigen, die mich selten interessieren. Oft sind es aber auch relevante Mitteilungen wie „ich habe gerade keinen Empfang, bin im Tunnel“. Kinder, Jugendliche, Erwachsene sitzen friedlich vor ihren Tablets und spielen oder gucken sich Filme an. Einige arbeiten an ihren Laptops, eine Dame bereitet Powerpointfolien mit viel Statistik vor. Viele hier zeigen eine Haltung, die gebückte. Auffallend mehr Kinder tragen Brillen. Oder bilde ich mir das ein?

Manchmal reicht Papier

Rentner sitzen vor ihren Zeitungen, lösen Sudoko oder Kreuzworträtsel, das Rascheln ist manchmal schon das lauteste Geräusch im Abteil. Ich frage den Schaffner nach Umsteigeverbindungen, auch er hat gerade keinen Empfang, dann kann er es eingeben und abrufen. Die Bahnapp von mir sagt dasselbe. Ich bin beruhigt. Auch diesmal reicht mein Handyticket als Fahrkarte, das spart natürlich Papier. Ich mache mir einige Notizen mit Kugelschreiber auf Papier. Da bin ich ziemlich allein unterwegs, denn hier wird Schreiben verlangt und nicht tippen. Ich bin stolz auf meine Handschrift.

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Von den Whatsapp-Gruppen kommen auch ständig Nachrichten. Es geht um eine Verabredung, es wabert ständig hin und her und nach zwei Stunden scheint ein gemeinsamer Termin in Sicht. Vorschlag war ja auch Telegram oder Threema, hat sich aber bis jetzt nicht durchgesetzt.

So bin ich aber meistens mittendrin oder kann Prozesse beobachten und mitlesen, die einem sonst entgehen würden. Ist das mit “Social media“ gemeint? Und da die Leute, die ich kenne, oft reisen, muss ich die Geräte nachts verbannen oder lautlos stellen, denn die Zeiten sind doch arg verschoben auf der Welt. Neben mir rechnet gerade einer mathematisch mit Ziffern. Wird ne App sein, muss man nicht mehr selbst rechnen.

Nur nachzurechnen beim Bäcker und Discounter empfiehlt sich. Neulich hatten wir bei Penny einen Stuhl für 12 Euro auf dem Kassenzettel. Die haben aber noch gar keine Stühle. Dann will ich noch die markanten Punkte der Bahnfahrt fotografieren.
Die Inder am Vierertisch filmen schon seit Minuten, haben auch den Selfistick. So können sie sich selbst reisen sehen und andere dann sie.
Störend ist manchmal das Gelächter, wenn die Fotos und Filme herumgereicht werden oder zum Nachbarn weitergeschickt werden.

Analoge... Männergruppe

Und etwas Komisches ist mir auch passiert. In München stieg eine Männergruppe Arzte ein, die wohl von einer Fortbildung kam. Die haben sich unheimlich viel und laut unterhalten. Und Alkohol getrunken dabei. Die Ruhezonenschilder haben sie wohl übersehen. Sie schauten auch manchmal in Papiere und einige hatten ein Buch dabei, das war schon kurios. Das war so wie wenn ich meinen Plattenspieler anwerfe und Vinyl drauflege, ist aber im Kommen.

Meine analoge Unterwasserkamera habe ich behalten, 36 Fotos und Schluss. Und wenn ich mich schon mal oute: wir gehen ins Kino, Theater, Musikkonzerte, Schauspiel. . .
Das möchte ich nicht über Netflix im Sofa genießen. Ist natürlich aufwändiger.

Umsteigebahnhof erreicht, der Zug ist leider weg, konnte nicht warten. Muss also den nächsten nehmen. Die Bahn will ja die digitale Steuerung verbessern.

Reizvoll (voller Reize) allemal

Viele Menschen hier gehen mit dem Smartphone in der Hand wie mit einem Kompass durch den Bahnhof, dabei gibt es Schilder, mit vielen Zeichen ohne Schrift. Ich schicke auch noch Kurznachrichten, zwei Wörter und 4 Emojis. Reicht. Es klingelt komisch, den Ton hatte ich lange nicht. Es ist eine SMS, muss erst mal suchen wo ich die lesen kann. Ein Kind vor mir quengelt, Vati guckt auf sein Gerät, sieht wichtig aus. Gut finde ich, dass man niemanden fragen muss, man sucht sich alles raus. Die Straße und das Viertel meines Zielortes habe ich schon gegoogelt. Ich weiß genau wie ich gehen muss, auch um umzusteigen. Eine kleine Musikgruppe spielt analoge Musik, nicht die Inkas, sondern ein Flötist, eine Gitarre, ein Schifferklavier. Im Zug aus Osterreich ist natürlich auch Wlan, ich nehme die OBB-App.

Ich denke, also bin ich noch

Die Menschen, die ich sehe, benutzen die Technik, die Geräte. Ich auch.
Machen sie es, weil sie es bewusst gelernt haben? Haben wir ihnen die kritische Nutzung beigebracht? Können wir das beim momentanen Stand in Uni, Schulen und Fortbildungsinstituten behaupten? Ich finde nicht!

Und so wird ja oft auch von offiziellen Befürwortern argumentiert: Es ist nun einmal da, wir müssen damit umgehen. Wie aber, dafür gibt es wenig didaktische Konzepte. Die fehlen. Und dann muss man doch die ausbilden, die das in der Schule bewältigen sollen. Und die Umsetzung all dessen, was jetzt noch fehlt, kann nur der zweite Schritt sein. Und auch den Schritt würde ich gern ganz praktisch im Unterricht sehen wollen.

Erst dann wird ein „kritischer“ Umgang durch „mündige“ Bürger im demokratischen Sinn sichtbar und erfolgreich sein können. Bisher wird nur viel geredet, nicht aber über didaktische Inhalte einer neu gestalteten Erziehung. Das ist aber nötig.

Literatur:

www.gew-hamburg.de/veroeffentlichungen/hlz-mitgliederzeitung/pdf/digitales-lernen-folge-4


www.gew-hamburg.de/veroeffentlichungen/hlz-mitgliederzeitung/pdf/digitales-lernen-folge-3


www.gew-hamburg.de/veroeffentlichungen/hlz-mitgliederzeitung/pdf/digitales-lernen-folge-2


www.gew-hamburg.de/veroeffentlichungen/hlz-mitgliederzeitung/pdf/digitales-lernen-folge-1