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Bildung und Gesellschaft

Im Osten nichts Neues

Saids „Orientalismus“-Theorie und ihre Widersprüche

Edward Said (1935-2003) | Illustration: Martin Krämer)

Edward Saids Arbeit über den Orientalismus avancierte zu einem der Gründungsdokumente postkolonialer Theorie. Dort genießt sie mittlerweile fast schon kanonischen Status. Nach ihrem Erscheinen wurde sie allerdings von Fachgelehrten, auch politisch wohlgesonnenen, einer fundamentalen Kritik unterzogen. Dem Erfolg tat das keinen Abbruch: Die Botschaft des Werks fiel auf fruchtbaren Boden und überwucherte alle wissenschaftlichen Einwände.

Eine folgenreiche These

Wer in Palermo das Castello della Zisa aus dem 12. Jahrhundert besucht, stößt dort auf eine Grabplatte, deren Inschrift in jeweils vier Sprachen gehalten ist: Latein, Griechisch, Hebräisch und Arabisch. Den damaligen normannischen Königen Siziliens galt die Sprache des Koran, auch wenn bisweilen kriegerische Händel mit muslimischen Herrschern auszufechten waren, als eine kulturelle Errungenschaft der ihnen bekannten Welt. Spuren arabischer Kunst finden sich in allen normannisch geprägten Bauten Siziliens. Ginge es nach dem Schema, das der amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said in seinem berühmt gewordenen Werk „Orientalismus“ (1978) skizzierte, hätte es einen solchen Respekt vor der islamischen Kultur gar nicht geben dürfen. Der seit 1966 an der Columbia Universität in New York lehrende Spezialist für englische Literatur hatte sich eine extrem weitreichende Beweisabsicht auferlegt: Seit der Antike habe die Literatur des Okzidents ihr eigenes negatives Spiegelbild in Form des Orients produziert. Das „Abendland“ definiere sich durch die Überlegenheit über dieses Konstrukt entlang der Entgegensetzung von Zivilisiertheit und Wildheit. Das habe dem Imperialismus, der ab dem 18. Jahrhundert in den Einflussbereich des Osmanischen Reiches eindringt, vorgearbeitet, ja ihn möglicherweise sogar hervorgebracht.

Ruhm und vergessene Kritik

„Orientalismus“ macht seinen Verfasser bekannt. Der eloquente Intellektuelle wird zur öffentlichen Person und gewinnt Anerkennung vor allem bei einem politisierten akademischen Nachwuchs, der sich im antiimperialistischen Klima der Siebziger mit der Stoßrichtung des Textes identifiziert. Die Kritik aus der Fachwelt kann leicht als Reflex eines sich ertappt fühlenden Establishments abgetan werden. Mit den Jahren gerät in Vergessenheit, dass schlagende Argumente gegen das Modell des „Orientalismus“ gerade von Stimmen erhoben wurden, die dem Kolonialismus ebenso kritisch gegenüber stehen wie Said. Islamwissenschaftler Robert Irwin ist jeglicher Vorbehalte gegenüber der Kultur des Nahen Ostens unverdächtig. Nicht umsonst hat er Jahre in einem sufistischen Kloster verbracht und aus einer Faszination für muslimische Kunst heraus zahlreiche Bücher verfasst. Die marxistischen Philosophen Sadiq al-Azm und Aijaz Ahmad, der linksliberale Anthropologe Ernest Gellner, Spezialist für die kritische Erforschung des Nationalismus, sie alle reagieren mit vernichtenden Rezensionen.

Literaturwissenschaft als Welterklärung

Hätte sich Said, seiner Expertise gemäß, etwa auf die Kritik literarischer Klischees über die islamische Welt, wie sie im 19. Jahrhundert gängig waren, beschränkt, wäre die Reaktion der Fachwelt vermutlich freundlicher ausgefallen. Natürlich ist die Belletristik der einschlägigen Periode voll von wilden Wüstenkämpfern und glutäugigen Prinzessinnen. Zweifelsohne lassen sich ideologiekritisch Bezüge zwischen der Exotisierung des Nahen Ostens und dem französischen oder englischen Kolonialismus herstellen. Unter Rückgriff auf Michel Foucault jedoch bläst der Autor seine literaturwissenschaftliche Analyse implizit zu einer Theorie neuen Typs über die europäische Hegemonie auf, die an die Stelle der bislang vorherrschenden materialistischen Ansätze tritt. Niemand habe, schreibt der Historiker Osterhammel, „mehr dazu beigetragen als Said, die Imperialismusdebatte von Marx auf Foucault umzuorientieren“.

Widersprüche des Diskursbegriffes

Damit rückt die Kategorie des „Diskurses“ ins Zentrum von Saids Theorie. Sie bezeichnet eine „Art von überpersönlicher und gleichzeitig transzendentaler Erkenntnisschranke, die ein Einzelner kaum je überwinden kann (…), ein selbstgebautes Denkgefängnis, in das die westliche Wissenschaft sich selbst rettungslos eingesperrt hat“. Osterhammel, der diese treffende Beschreibung liefert, bemerkt anscheinend gar nicht ihren entlarvenden Charakter. Die Unlogik des Diskursbegriffs ist – leider ohne nachhaltige Wirkung – schon früh ausgesprochen worden: Der performative Widerspruch erscheint an der Frage, wie Foucault oder eben Said der Ausbruch gelungen sein kann, sie also durch die undurchdringliche Hülle in den Kern des jeweiligen Diskurses blicken konnten. Entweder ihnen kommt eine privilegierte Position zu, oder die Hülle ist nicht so opak wie behauptet. Dasselbe gilt für die Genesis dessen, was im postmodernen Jargon „Episteme“ heißt, die grundlegenden anonymen Regeln, nach denen das diskursive Schreiben und Sprechen abläuft. Jene ihnen zugeschriebene Unentrinnbarkeit wird üblicherweise erzeugt, indem einzelne denkende Personen als immer schon in sie hineingeboren aufgefasst werden. Gleichwohl muss der Diskurs irgendwann eröffnet worden sein, und zwar von Personen, die sich aus unerfindlichen Gründen ein derartiges geistiges Gefängnis bauten.

Verzerrte Geschichte

Wenngleich Said später von der Diskursanalyse in ihrer strengen Ausprägung abgerückt ist, so drückt sie seinem Werk dennoch ihren Stempel auf. Es beruht zudem auf einer „dünnen historischen Empirie“ (Osterhammel). Unter nonchalanter Überschreitung sämtlicher Gattungen – literarische wie wissenschaftliche Texte gelten ihm gleichermaßen als Produkte des Diskurses – sowie historischer Epochenschranken knüpft er einen immerwährenden roten Faden antiorientalischer Verachtung, beginnend lange vor dem 19. Jahrhundert, das als Kristallisationspunkt des Orientalismus begriffen wird. Von den antiken Dramatikern Aischylos und Euripides über den Historiker Herodot, von Dante und Voltaire bis hin zu Marx, alle sind stets schon dem Diskurs verfallen, der ihr Denken in die vorgegebene Bahn lenkt. Nun schrieben sie in unterschiedlichen Jahrhunderten und historischen Kontexten, sie verfolgten ihre jeweils eigenen Intentionen. Dementsprechend ist Said gezwungen, will er seine These retten, das literarische Material höchst selektiv zu lesen: Seine Darstellung wird zum ahistorischen Zerrbild.

Verfälschte Antike I

Die Idee, das „Abendland“ sei eine kulturelle Einheit, entspringt der Neuzeit. Weder ein athenischer Adliger noch eine römische Priesterin, kein revoltierender Bauer des Mittelalters, kein flämischer Handwerker der Reformationszeit hätte sich als „westlich“ deklariert. Ironischerweise fällt Said auf die historische Rückprojektion herein. Er schreibt bereits antiken Autoren eine Tendenz zur Gegenüberstellung von Ost und West zu. Das hat teilweise skurrile Konsequenzen. So greift er sich das Stück „Die Perser“ von Aischylos heraus und entdeckt darin attisches Triumphgeheul gegenüber dem einige Jahre zuvor besiegten Persischen Reich, welches er als Repräsentation des „Ostens“ deutet. Sicher geht es dem Publikum auch darum, den eigenen Sieg auf der Bühne auszukosten. Jedoch werden innerhalb der Handlung, worauf Irwin verweist, gegnerische Herrscher wie Dareios ausgesprochen positiv gezeichnet. Gattungstheoretisch handelt es sich um eine Tragödie aus persischer Perspektive, weshalb dem gescheiterten König Xerxes derselbe Respekt gezollt wird, den gefallene Helden griechischer Abstammung, etwa Ödipus, reklamieren konnten. Xerxes wird ebenso für seine Hybris bestraft wie andere Protagonisten, wenn sie sich hochfahrende Pläne gesetzt hatten. In gewisser Weise wird ihm damit das Attribut des Tragischen verliehen, dessen nur Edelleute fähig waren. Statt der Konstruktion fiktiver Andersartigkeit – „Othering“ – ist an dieser Stelle eine literarische Geste der Anerkennung des persischen Feindes durch die hellenische Siegermacht zu konstatieren.

Verfälschte Antike II

In ähnlich manipulativer Manier verfährt Said mit den „Bacchen“ aus der Feder des Euripides. Mit Dionysos kommt darin dem Gott des Rausches eine zentrale Rolle zu. Er besucht Theben, zur Begeisterung vieler ihm Ergebener, vor allem thebanischer Frauen, die seinem aus dem Osten kommenden Kult anhängen. Nachdem ihm vom lokalen König Pentheus Respekt vor seiner Göttlichkeit verweigert wird, bringt er Unheil über die Stadt. Said sieht in dem Stück die Verdammung orientalischer Irrationalität aus der Sicht westlicher Ratio und stützt sich auf eine angebliche „östliche Herkunft“ des Dionysos. Irwin schreibt dazu: „Aber welche östliche Herkunft? Dionysos war der Sohn von Zeus und Semele, der thebanischen Tochter von Kadmos, der seinerseits Großvater von Pentheus war. Woraus folgt, dass Dionysos“ – aus griechischer Perspektive – „in keinster Weise asiatischer ist als Pentheus“, obgleich letzterer bei Said als westlicher Gegenspieler firmiert. Zudem war der Dionysos-Kult kein bedrohlicher Eindringling sondern „akzeptierter Teil der spirituellen Landschaft von Athen“ (Irwin). Für Euripides zieht sich der Widerspruch zwischen rationalen und irrationalen Kräften durch die menschliche Seele selbst. Überhaupt verliefen kulturelle Grenzen für das griechische Bewusstsein der klassischen Zeit anders, als es die Orientalismus-These erwarten ließe. Herodot, oft als einer der Väter der Historiografie und von Said als „Kolonialist“ bezeichnet, spart nicht an abwertenden Äußerungen über persische Sitten, verabscheut die Skythen aus dem Norden dennoch deutlich stärker. Dann wiederum äußert er sich lobend zu den ägyptischen und phönizischen Einflüssen in der hellenischen Kultur. Gewiss ist das attische Selbstbewusstsein von der eigenen Exklusivität überzeugt; kaum kann es sich indes einer westlichen Hemisphäre zugehörig fühlen, die als politische oder ideologische Einheit noch gar nicht existiert.

Der verfälschte Dante und die Neuzeit

Dem emblematischen Dichter der italienischen Renaissance, Dante Alighieri, kommt innerhalb von Saids Kosmos eine besondere Rolle zu, er fungiert nämlich als „Brücke zwischen Antike und Moderne“ (Ahmad). In seinem allegorischen Zyklus der Göttlichen Komödie begibt er sich auf eine imaginierte Reise durch die Hölle („Inferno“), wodurch er Gelegenheit hat, verstorbene Berühmtheiten kennenzulernen, die es in jeweils nach der Schwere ihrer Strafe gestaffelte Bezirke verschlagen hat. Worauf sich Said mit Verve stürzt, weil es das Befangensein Dantes im Orientalismus-Diskurs scheinbar schlagend bekräftigt, ist die ungnädige Position, die dem Propheten Muhammed zugewiesen wird: Er landet im achten Kreis der Hölle, und da es derer nur neun gibt, – je nach der Nähe zum Satan – zeigt dies nicht nur die Schwere seiner Schuld sondern verheißt auch grausames Schicksal. Der Gründer des Islam wird, zeitgenössischer christlicher Doktrin entsprechend, als Häretiker gegenüber der wahren Offenbarung, dem Evangelium, verdammt. Doch demonstriert dies lediglich, „dass der Dichter streng zwischen Glauben und Häresie unterscheidet, aber nicht zwischen Orient und Okzident“, wie Ahmad kommentiert. Nicht nur ereilt den römischen Verräter Brutus eine härtere Strafe. Vor allem finden sich mit Ibn Rushd und Ibn Sina zwei arabische Gelehrte in einem vergleichsweise erträglichen ersten Höllenkreis, wo sie mit von Dante bewunderten europäischen Geistesgrößen wie Homer und Platon einquartiert sind. Letztere müssen ihre milde Strafe absitzen, weil sie das Pech hatten, vor Jesu Kreuzestod gestorben zu sein und ihnen Erlösung von der Erbsünde verwehrt ist. Solche mildernden Umstände können die beiden Muslime nicht einmal ins Feld führen, augenscheinlich ist Dante gleichwohl von soviel Hochachtung erfüllt, dass er ihnen jenen Gnadentrakt anweist. Ebenfalls im Widerspruch zu Said steht die Platzierung des muslimischen Heerführers Saladin im ersten Kreis. Ganz im Geist der Renaissance schätzte Dante den „noblen Kurden“, der in den Kreuzzügen gegen christliche Armeen gekämpft hat, als tapferen und weisen Feldherren; die Demarkationslinie zwischen Zivilisation und Barbarei verlief noch nicht entlang der Himmelsrichtungen.

Die verfälschte Neuzeit

Im Sinne der Orientalismus-These agierte sich in der kolonialen Expansion der europäischen Großmächte die okzidentale Kollektivpsyche aus. Weil westliche Zivilisation ihre eigene Identität durch die literarische Erschaffung eines abwertend gezeichneten Gegenbildes konstituierte, muss sie dieses nun auch real in Besitz nehmen. So oder so ähnlich, jedenfalls reichlich psychologisch, lauten die Versuche, aus Saids Literaturanalyse Rückschlüsse auf sein Verständnis des Imperialismus zu ziehen. Die historische Realität gestaltet sich handfester. Der „Orient“ trat Europa in Form des Osmanischen Reiches gegenüber. Es war territorial ausgedehnt, Handelspartner mit eigenen imperialen Ambitionen, also zugleich Rivale. Das Verhältnis europäischer Großmächte zu ihm gestaltete sich dementsprechend wechselhaft. War Schwächung geboten, durfte diese gleichzeitig nicht zum Vorteil der Konkurrenten wirken. Im Krimkrieg (1853-56) zwischen Russland und dem Osmanischen Reich etwa kämpfte die britische Krone aufseiten des „Orients“. In dieser Konstellation entdeckte die Berichterstattung ihrer Majestät Unzivilisiertheit vor allem bei „Tartaren“ und anderen „slawischen“ Truppen. Später macht Kaiser Wilhelm II. den „kranken Mann am Bosporus“ zum deutschen Bündnispartner. Den Genozid, der im Ersten Weltkrieg an den christlichen Bevölkerungsgruppen, vor allem der armenischen, verübt wird, duldet die kaiserliche Regierung ausdrücklich. Das Motiv formuliert zeitlos Reichskanzler Bethmann-Hollweg: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber die Armenier zugrunde gehen.“ Ob Abend- oder Morgenland, christliche Verbundenheit hin oder her, dem Deutschen Reich war alles recht, was dem Endsieg hätte dienen können. So viel zur Bedeutung von „Kultur“ in der Logik imperialistischer Kalkulationen.

Verfälschtes Bild des Imperialismus

Der Hunger des modernen Imperialismus nach Rohstoffen, Arbeitskräften, Absatzmärkten, Agrarland, geostrategischen Kontrollpunkten und anderen Nutzanwendungen globaler Expansion gab sich den Anstrich einer hehren zivilisatorischen Mission. Marx denunzierte nach Kräften die Verlogenheit solcher und ähnlicher legitimatorischer Kapriolen. Saids Werk hingegen war ein Produkt und Katalysator dessen, was man die kulturelle Wende innerhalb der Gesellschaftskritik der Siebzigerjahre nennen könnte: Im Gleichklang mit anderen postmodernen Ansätzen waren Diskurse nicht mehr verfremdeter Ausdruck gesellschaftlicher Interessen, sie mutierten zu selbstzweckhaften sprachlichen Herrschaftsgebilden mit den Menschen als ihren Anhängseln. Aus Saids Sicht waren es „Diskurs und textuelle Strategien, die das imperiale Projekt vorantrieben, Kautschukplantagen aufbauten, den Suez-Kanal gruben und Garnisonen von Fremdenlegionären in der Sahara etablierten“ (Irwin). Mit den Kategorien der Marxschen Ideologiekritik – also der Hypothese, Bewusstseinsformen dienten herrschenden Interessen – lässt sich die Geschichte der europäischen Machtentfaltung offenbar doch besser verstehen als mit Saids Fiktion eines Jahrtausende währenden allmächtigen „Denkgefängnisses“