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Schwerpunkt

„Ich wünsche mir mehr politischen Mut“

Der Landesbehindertenbeauftragte Arne Frankenstein zur Lage der Inklusion in Bremen

Foto: Karsten Krüger

Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie an Inklusion in Bremen und ihre Umsetzung denken?

Inklusion ist menschenrechtlich geboten, sie ist nicht verhandelbar. Bremen hat sich daher auf den richtigen Weg gemacht, Inklusion so im Schulgesetz zu verankern, dass sich alle zu inklusiven Schulen zu entwickeln haben. Gleichzeitig sehen wir ganz deutlich, dass die Umsetzung an vielen Stellen nicht funktioniert. Aktuell sieht man es daran, dass einem zunehmenden Anteil von Kindern mit Behinderung der Schulbesuch ganz oder teilweise versagt wird. Praxisberichte, die mich erreichen, zeigen zudem, dass das System noch nicht flächendeckend inklusiv entwickelt worden ist. Wir brauchen einen richtigen Systemwechsel hin zu qualitätsgesicherter Inklusion. Die Versuche, lediglich über die Akquise von Personal dem Problem zu begegnen, greifen zu kurz.

Was meinen Sie mit Systemwechsel?

Man muss Bildung in Kita und Schule insgesamt viel mehr im Sozialraum denken – übergreifend mit den verantwortlichen Akteuren, also nicht nur im Bildungsressort, sondern auch im Sozial- und Gesundheitsressort sowie mit den Quartieren rings herum. Hierfür sollte man gute, inklusive Bildungspraxis im Quartier mit einem Modellprojekt erproben, um zu zeigen, dass das möglich ist. Um es auch denen zu zeigen, die angesichts ausbleibender Bildungserfolge in Bremen skeptisch sind. Ich bin überzeugt, dass Inklusion der Schlüssel zur Lösung und nicht das Problem ist. In so einem Modell wird man, wenn man es richtig macht, zeigen können, dass Bildungserfolge für alle auf hohem Niveau möglich sind, ohne jemanden auszuschließen und ohne die gesamten Fachkräfte zu überlasten.

Sie haben Ihre Hoffnung, dass Inklusion gelingen oder besser gelingen kann, nicht aufgegeben, oder?

Gewiss nicht. Man muss aus dieser Situation, die eine wirklich dramatische ist, wo ich sage, dass auch Menschenrechtsverletzungen stattfinden, eine weitere Transformation anstoßen, die dazu führt, dass am Ende alle gewinnen. Man kann an anderen Orten auch sehen, dass das funktioniert. Zum Beispiel in Wien oder in Südtirol. Ich wünsche mir mehr politischen Mut, das jetzt in diese Richtung weiterzuentwickeln. Andernfalls besteht die Gefahr, eine Rolle rückwärts zu machen.

Bremen hat damals beim Beginn des Inklusionsprozesses eher eine Rolle vorwärts gemacht. Das Land war eine Art Vorreiter. Wenn Sie Bildungssenator gewesen wären, was hätten Sie anders gemacht, um den Prozess nachhaltiger zu gestalten?

Man hätte beginnen müssen, das unterfinanzierte Bildungssystem ganz anders auszustatten, auch im Vergleich mit den Stadtstaaten Berlin und Hamburg. Inklusion ist eben kein Sparkonzept. Und dann hätte ich konsequent auf eine Einheitsschule gesetzt, die keine Ausnahmen kennt, um Ressourcen zu bündeln. Und nicht zuletzt hätte ich den Entwicklungsplan Inklusion aus dem Jahr 2011 fachlich engmaschiger begleiten und im Sinne eines Maßnahme- und Zeitplans fortschreiben lassen.

In Inklusionsklassen sitzen bald sechs statt fünf Kinder mit Förderbedarf. Was hat das für Folgen?

Man sollte das ganz anders konzeptionieren. Jedes Kind mit einem Förderbedarf im Bereich Wahrnehmung und Entwicklung (W+E) sollte im Schulsprengel unabhängig von W+E-Standorten zur Schule gehen können. Wir brauchen Kompetenzaufbau an allen Schulen, wo solche Kinder sind. Diese Gestaltung von 17 plus 5 oder 17 plus 6, das sehen wir jetzt immer deutlicher, ist anfällig dafür, dass Kinder in einem inklusiven System trotzdem oft exklusiv beschult werden.

Apropos Kompetenzaufbau. Reicht der recht neu aufgelegte Studiengang „Inklusive Pädagogik“ aus, um ausreichend Fachkräfte zu gewinnen?

Es ist sehr wichtig, diesen Studiengang seit 2018 nicht nur für die Primar-, sondern auch für die Sekundarstufe zu haben. Dort wird für die qualitätsgesicherte Inklusion ausgebildet und sehr gute Arbeit gemacht. Das auf Dauer auszubauen, zahlenmäßig, aber auch z.B. für den berufsbildenden Bereich, ist gerade in Bremen wichtig, weil auf uns als Vorreiter besonders geguckt wird. Der Inklusionsprozess ist zwar nicht flächendeckend gut gelaufen, aber es gibt auch Erfolge. Wir haben eine hohe Inklusionsquote, Jugendliche mit Förderbedarf erreichen zunehmend einen Schulabschluss, und wir dürfen den Effekt nicht kleinreden, dass auch Kinder ohne Behinderung lernen, dass Unterschiedlichkeit der Normalzustand ist.

Vollkommen inklusiv ist das Bremer Schulsystem noch nicht. Einige Gymnasien beteiligen sich nicht, und es gibt auch noch mehrere Förderzentren. Das ist ein Makel.

Die Förderzentren müssen sich zu inklusiven Bildungsstandorten weiterentwickeln, das heißt umgedrehte Inklusion. Die Kompetenz vor Ort ist zu nutzen, und die Förderzentren sollten sich für Kinder ohne Behinderung öffnen.

Also zum Beispiel die Paul-Goldschmidt-Schule, ein Förderzentrum für körperliche und motorische Entwicklung.

Genau. Diese Schule müsste eine große Anzahl von Kindern ohne Behinderung zugewiesen bekommen. Das ist auf Grund der Schülerzahlen in Bremen-Nord möglich. Dies gilt auch für die Förderzentren Marcusallee und an der Gete. Auch alle Gymnasien und Oberschulen müssen sich inklusiv entwickeln. Dieser Auftrag ist anzunehmen.

Zum Schluss eine Gegenwartsfrage. Angenommen, Sie wären in Verantwortung, was würden Sie sofort anpacken, um den Inklusionsprozess zu fördern?

Gute Frage. Das erste wäre in dieser schwierigen Gemengelage, eine ganz klare Haltung zu zeigen und allen Beteiligten noch mal ausdrücklich zu sagen, dass Inklusion nicht verhandelbar ist und dass wir das konsequent machen wollen. Und dann würde ich den Entwicklungsplan Inklusion 2.0 als Steuerungsinstrument aufsetzen und auf den oben beschriebenen Transformationsprozess hin zu qualitätsgesicherter Inklusion als Schlüssel für gute Bildungspraxis setzen.