Neutrale Schule
Haltung statt Zurückhaltung
Warum die Forderung der AfD nach „neutralen Schulen“ falsch ist
„Wir rufen alle in der politischen Bildung tätigen Institutionen und Personen auf, selbstbewusst zur Verteidigung der Republik gegen extremistische Versuchungen beizutragen. Die politisch Verantwortlichen rufen wir auf, die politische Bildung in Schulen und außerschulischer Bildung nachhaltig zu stärken.“
Mit diesen Worten endet ein aktueller Aufruf zur „Verteidigung der Republik“, der sich mit der Notwendigkeit zur Stärkung der „politischen Bildung angesichts von Extremismus“ befasst. Erstunterzeichner sind Kurt Edler (Gesellschaft für Demokratiepädagogik), Professor Benno Hafeneger (Universität Marburg), Professor Wolfgang Sander (Universität Gießen) und Professor Albert Sperr (Universität Freiburg).
Die Alternative für Deutschland (AfD) hat sich als ernst zu nehmende politische Kraft etabliert. Zugleich hat nun erstmalig in der knapp 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik die zwischen Rechtsextremismus und -populismus changierende Fremdenfeindlichkeit sowohl im Deutschen Bundestag als auch in allen Länderparlamenten Fuß gefasst. Schule kann nicht neutral sein. Hör-, sicht- und spürbar rüttelt die AfD an den Grundfesten unserer Demokratie.
Unter Beschuss gerät die Demokratie nun auch dort, wo sie nicht nur qua Verfassung gelehrt, gelebt und geschätzt werden soll, nämlich an unseren Schulen. Immer mehr AfD-Landesverbände schließen sich der von der Hamburger Fraktion aufgesetzten Aktion „Neutrale Schulen“ an. Und seit der Ankündigung der Plattform im Mai 2018 herrscht Angst in deutschen Lehrerzimmern: Darf ich mich im Unterricht gegen die AfD aussprechen? Muss ich den örtlichen AfD-Vertreter zur Podiumsdiskussion in die Schule einladen? Darf ich Schülerinnen und Schülern von meinem Besuch der „Wir sind mehr“-Demonstration berichten? Die Einrichtung einer solchen Beschwerdestelle ist schon deshalb abzulehnen, weil sie Kinder zu Denunzianten erzieht. Die GEW Hamburg spricht von einer „Plattform zur Denunzierung politisch engagierter Lehrkräfte“, die GEW-Bundesvorsitzende Marlis Tepe von „ideologischen Meldestellen, deren Ziel es ist, Andersdenkende zum Schweigen zu bringen“. Wer zu anonymen Meldungen aufruft, hat kein aufrichtiges Interesse an Klärung, sondern will mit undemokratischen Techniken den Lehrkräften, die eine AfDablehnende Haltung artikulieren, einen „Maulkorb“ verpassen. Wenn die AfD sich an Verstößen gegen die „Verpflichtung zur politischen Neutralität“ und an der Missachtung des Beutelsbacher Konsenses reibt, zeigt sie nicht nur ein fragwürdiges Demokratieverständnis, sondern offenbart überdies ein Fehlverständnis des pädagogischen Ethos.
Der 1976 verfasste Beutelsbacher Konsens sieht vor, dass Schülerinnen und Schüler nicht daran gehindert werden dürfen, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Themen, die in Wissenschaft und Politik kontrovers sind, müssen auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Demzufolge dürfen Lehrpersonen keine politisch relevanten Positionen ausblenden oder – umgekehrt – gezielt Werbung für sie machen. Lehrerinnen und Lehrer dürfen beispielsweise den Besuch einer Anti-AfD-Demo nicht zu einer Schulveranstaltung erklären, aber sie können darauf hinweisen, dass eine Demonstration stattfindet – und natürlich auch persönlich teilnehmen. Zu Recht gilt die Schule als Schutzraum, aber die Welt, auf die sie Bezug nimmt, findet vor den Schultoren statt. Lehrkräfte müssen daher nicht auf eigene Wertungen verzichten. So gab die Bremer Bildungssenatorin einem Lehrer nach der Beschwerde eines AfD-Politikers Rückendeckung: „Lehrer dürfen Mitteilungen von Parteien kritisch zerpflücken, historische Parallelen ziehen und sie in einen Kontext stellen.“
Dem Verfassungsrechtler Josef Franz Lindner ist zuzustimmen, dass Unterricht nicht im politikfreien Raum stattfinden kann: „In jeder Aussage über politische oder gesellschaftliche Sachverhalte schwingt eine – verdeckte oder unterbewusste – Dimension der Wertung und des Dafüroder Dagegenhaltens mit. Eine strikte und absolute Trennung von Faktenäußerung und Wertung ist weltfremd – das ist eine bleibende Erkenntnis der philosophischen Hermeneutik.“ (1) Das Grundgesetz verteidigen Lehrkräfte können die Haltung der AfD in der Migrationsfrage somit ablehnen, wenn ihre Sichtweise im Klassenzimmer nicht verabsolutiert wird, sondern andere Wertungen zugelassen sind. Der Politikdidaktiker Helmut Däuble hat dies trefflich präzisiert: „Das bedeutet konkret, dass in einem Politikunterricht, in dem es um Migrationspolitik geht, das Spektrum der parteipolitischen Standpunkte von der Offenen-Grenze-Position der Linken bis zur Geschlossenen-Tür-Haltung der AfD so dargestellt werden muss, dass diese für die Lernenden nachvollziehbar und abwägend analysierbar sind, und sie so zu einem eigenständigen Urteil kommen können.“ (2) Zwar müssen Lehrkräfte ihre eigenen Standpunkte als solche transparent machen, aber solange sie darauf hinweisen, dass ihre Sichtweise nur eine von mehreren legitimen Positionen darstellt, ist dies unzweifelhaft zulässig. Schülerinnen und Schüler müssen auch Positionen beziehen dürfen, die nicht denen der Lehrkraft entsprechen, ohne Angst haben zu müssen, dass ihnen diese – etwa bei der Benotung – zum Nachteil gereichen. Lehrerinnen und Lehrer dürfen sich nicht einschüchtern lassen. Gemäß Amtseid sind Beamtinnen und Beamte verpflichtet, das Grundgesetz sowie die Landesverfassung nicht nur zu achten, sondern auch zu verteidigen. Sie sollen grundgesetzwidrige und demokratiegefährdende Entwicklungen erkennen und dürfen diese auch im Klassenzimmer benennen. Auch für die Schule gilt: Wer Alexander Gaulands Bemerkung, die zwölf Jahre Nazizeit seien nur ein „Vogelschiss“ in der tausendjährigen Geschichte Deutschlands, unwidersprochen lässt, bahnt völlig abwegigen Geschichtsdeutungen den Weg. Nach Artikel 56 Absatz 5 der Hessischen Verfassung muss der Geschichtsunterricht „auf getreue, unverfälschte Darstellung der Vergangenheit gerichtet sein“. Auffassungen, „welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden“, sind „nicht zu dulden“.
Wenn AfD-Politiker den Mord an sechs Millionen Juden und 50 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg relativieren, dürfen Lehrkräfte dies somit nicht nur im Unterricht kommentieren, sondern sie müssen es sogar tun, um der ahistorischen Relativierung oder gar der strafrechtlich relevanten Leugnung des Holocaust zu begegnen. Lehrkräfte sollten Stimmen und Stimmungen im Unterricht nicht unwidersprochen lassen, die sich gegen zentrale Grund- und Menschenrechte wie die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetztes) oder die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz (Artikel 3 Absatz 3) richten. Sie sind verfassungsrechtlich geschützt, wenn sie gegen Hetze, Stimmungsmache und Falschbehauptungen von Björn Höcke, Beatrix von Storch, Alexander Gauland und André Poggenburg Stellung beziehen. Wer den Einsatz von Schusswaffen gegen Geflüchtete an der Grenze erwägt (von Storch), das Berliner Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnet (Höcke), die einstige Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz „in Anatolien entsorgen will“ (Gauland) oder die in Deutschland lebenden Türken als „Kameltreiber“ diffamiert (André Poggenburg), bewegt sich nicht mehr auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Es gehört zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen, „andere Kulturen in ihren Leistungen kennen zu lernen und zu verstehen“ sowie „Menschen anderer Herkunft, Religion und Weltanschauung vorurteilsfrei zu begegnen“. Aufgabe von Schule ist es zudem, Demokratie nicht nur als Staatsform zu erläutern, sondern auch als Lebensform zu praktizieren: bei der Wahl der Klassensprecherin oder des Klassensprechers, bei der Festlegung von Unterrichtsthemen, bei der Auswahl von Exkursionszielen sowie bei der geplanten Umgestaltung des Schulhofs. Die Installation einer Plattform, in der „unpassende“ Meinungen gemeldet werden, widerspricht dieser demokratischen Schulkultur. Anstatt unterschiedliche Meinungen zuzulassen und zur Diskussion zu stellen, installiert die AfD ein System der Bespitzelung.
Die AfD will gesellschaftliche Debatten unterdrücken, obwohl sie selbst behauptet, dass diese von den „Staatsmedien“ und den „Altparteien“ gesteuert würden. Haben die Befürworter der Meldeplattform schlicht vergessen, dass sich zwischen Indoktrination und Neutralität das weite Feld der wehrhaften Demokratie spannt? Mehr politische Bildung! Die Demokratie war schon immer durch Apathie, Extremismus und Populismus latent bedroht. Nun aber wird diese Bedrohung mit dem parlamentarischen Aufstieg der AfD und der wachsenden Akzeptanz gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auch in Schulen virulent. Da demokratisches Bewusstsein keine anthropologische Konstante darstellt, sondern täglich erlernt werden muss, darf politische Bildung an Schulen, Hochschulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung nicht weiter marginalisiert werden. Zwar steht Hessen im bundesweiten Vergleich vergleichsweise gut da, wenn es um die curriculare Verankerung politischer Bildung an Schulen geht. Aber der Feind des Guten ist das Bessere: Es darf nicht länger nur dann nach politischer Bildung gerufen werden, wenn sie als Feuerwehr gesellschaftliche Brandherde wie Fremdenfeindlichkeit oder Jugendgewalt bekämpfen soll. Um der Flut unvollständiger und sachlich falscher Informationen Fakten entgegenstellen zu können, muss den Schulen bundesweit mehr Unterrichtszeit für politische Bildung zugesprochen werden. Zugleich müssen neue Wege der Politikvermittlung beschritten werden – in Fußballstadien, bei Stadtteilfesten und in Bierzelten. Leisten könnte dies unter anderem eine finanziell besser ausgestattete Bundeszentrale für politische Bildung.
Um der AfD mit ihrer von Demokratiefeindlichkeit, Demagogie und Denunziation geprägten Politik entgegenzutreten, sind mehr denn je in der bundesrepublikanischen Geschichte Lehrkräfte gefragt, die sich vom Aufruf der AfD zur Denunziation nicht abschrecken lassen und den Kampf um die Köpfe der Kinder im Klassenzimmer nicht denen überlassen, die historische und politische Fakten verzerren und das gesellschaftliche Klima vergiften. Es ist höchste Zeit, dass sich die Hüterinnen und Hüter der Demokratie auf den Weg machen: Wir brauchen Lehrerinnen und Lehrer, die Haltung zeigen, und nicht solche, die sich in Zurückhaltung üben.
Christine Barp ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Arbeit und Politik (zap) der Universität Bremen.
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt politische Bildung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.