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„Hände falten, Schnabel halten ...“

„Veränderte Kindheit & Schule“ – einen Vergleich zwischen 1900 und heute in allen relevanten Aspekten zu ziehen, könnte auf begrenztem Raum nur wie eine Aufzählungsliste der dazugehörigen Momente wirken. Stattdessen möchte ich im folgenden zwei zeitgenössische Quellen vorstellen, die Schlaglichter auf die Schule des wilhelminischen Reichs werfen.

Wie war es in der Schule um 1900? Im Schulmuseum Bremen wird diese Frage zunächst vor allem über die Objekte erschlossen. Die starre Holzbank, in einer geraden Linie aufgestellt, und das erhöhte Lehrerpodest vermitteln die Position vom Lehrer zum Schüler und umgekehrt. Die Beschaffenheit und Anordnung des Schulmobiliars umfasst handgreiflich weit mehr als der Begriff Frontalunterricht suggeriert. Verhaltensregeln für die Schüler, die in Merk-Versen wie „Hände falten, Schnabel halten...“ knapp gefasst sind, treffen den Ton, der in der Schule herrscht.
Didaktische Bücher zum Anschauungsunterricht geben beispielhaft einen Eindruck des idealtypischen Unterrichtsablaufs. Im Handbuch für den Anschauungsunterricht von 1903 wird minutiös beschrieben, welche Inhalte in den ersten Schuljahren zum Beispiel durch das Wandbild „Das Schwein“ vermittelt werden sollen. Anhand der Abbildung einer Sau mit ihren Ferkeln sollen die Kinder unter anderem lernen:
„VI. Eigenschaften. Was tun die kleinen Schweinchen hier? Sie wühlen im Miste. Das tun sie gern. Was für Tiere sind also die Schweine? Sprecht: Die Schweine sind unreinliche Tiere. Wollt ihr den Schweinen gleichen? {...} Was dürft ihr niemals vergessen? Ungewaschen, ungekämmt und mit ungeputzten Stiefeln darf kein Kind zur Schule kommen. Was tut sonst der Lehrer? (...) - Unreinliche Kinder mag niemand gern leiden".

 

In diesem Handbuch werden Schüler und Lehrer gleichermaßen zu einer starren Unterrichtsvermittlung gelenkt, die für Kreativität, Phantasie und Eigensinn keinen Spielraum hat. Eine eigene Meinung zu formulieren, ist weder vom Lehrer noch vom Schüler gefragt. Die Form des Unterrichtsablaufs zeigt chorisches Sprechen als disziplinierende Form im vorgegebenen Frage-Antwort-Kanon. Zugleich vermittelt diese Quelle etwas über die Selbstverständlichkeit, mit der sittliche Werte mit dem Lehrstoff verbunden werden. Dass die Lehrkräfte als sittliche Erziehungsinstanz für die Schüler gelten, entspricht auch der Realität außerhalb des Schulgeländes: Sie haben die disziplinarische Autorität, den Schüler bei „unsittlichem Verhalten“ zu maßregeln und sind oft die zwischen Familie und Polizei geschaltete Aufsichtsinstanz bei Konflikten.
Dass die Lehrkräfte um 1900 trotz ihrer disziplinierenden Rolle durchaus in Konflikt mit den Schülern bzw. ihren Eltern gerieten, veranschaulicht eine zweite Quelle. Sie macht an einem einfachen Beispiel deutlich, welchen Stellenwert die Schule für viele Familien hatte. Der Besuch der Volksschule mit acht Schuljahren war der Regelfall für 90 % aller Kinder. Wo das Haushaltsgeld knapp war, fehlte häufig auch das Verständnis für die Relevanz einer guten Schulbildung. Dies zeigt uns ein einfaches Schreiben, 1911 von einer Mutter der Freischule Hohwisch an den Lehrer Müller formuliert:
„Bremen d. 6/5 1911 Geehrter Herr Lehrer! Muß Ihnen hierdurch miteilen, daß meine Tochter Martina ihrer Strafarbeit nicht gemacht hatt, denn es war durch meine Veranlassung. Wenn Martina Unarten in der Schule macht so wird sie von mir noch bestraft, ich wollte es garnicht glauben das sie in der Kladde Strafarbeit bekam, seid wann ist es Mode, daß die Kinder Kladden mitbringen müssen? Meine 4 anderen Kinder u. ich selber haben die Freischule besucht aber nie Hefte kaufen müssen, meiner Ansicht genügt die Tafel vollständig für das Geschmiere was in der Kladde gemacht wird. Die Tafel kann wieder gereinigt werden u. wenn der Herr Lehrer das verlangt so mag er dafür sorgen, das Kladden geliefert werden, ich habe da kein Geld zu, ich muß mein Geld sauer verdienen. Dies ist hier eine Freischule u. mag der Staat dafür sorgen der hatt Geld genug. Achtungsvoll Frau Schminke“.

 

Das Schreiben handelt von einer nicht erledigten Strafarbeit. Zunächst ist offensichtlich – die Idee des pädagogischen Werts von Strafen wird hier durchaus nicht infrage gestellt. Stattdessen stellt das Schreiben eine resolute Mutter vor, die so wenig Geld hat, dass die Anschaffung eines Schulheftes schon eine finanzielle Belastung darstellt. Zugleich liest man zwischen den Zeilen auch Frau Schminckes Unverständnis, wozu ihre Tochter „das Geschmiere“ überhaupt üben soll. Deutlich erscheint hier der Wert des Lehrstoffs in den Augen der Mutter mehr dem Schulpflichtzwang geschuldet denn als Chance für das eigene Kind.
Diese Quelle spiegelt durchaus sehr typische Aspekte der Zeit wider: Sie benennt die existentielle Armut in einfachen Lebensverhältnissen von Arbeiterfamilien an einem kleinen Alltagsausschnitt. Sie zeigt außerdem die Schule auf dem weiten Weg, den sie im 19. Jahrhundert mit dem allmählich und mühsam durchgesetzten Schulzwang beschreitet bis zur Durchsetzung eines gesellschaftlichen Verständnisses von Schule als „Bildungschance für alle“. Um 1900 ist die Schule noch deutlich ständisch gegliedert wie die Gesellschaft, Kinderarbeit erst wenige Jahrzehnte zuvor gesetzlich reglementiert und die Akzeptanz von Schule entsprechend gespalten.
So verschieden die Lebensverhältnisse um 1900 von heutigen sind, so drängen sich doch auch Analogien zu offensichtlich wiederkehrenden Problemstellungen auf – wenn Eltern die Schule nicht als wertvolle Chance für ihre Kinder begreifen bzw. durch ihre Lebensverhältnisse Bildung nicht als großes Versprechen funktioniert – wie erfolgreich kann dann die Vermittlungsarbeit der Lehrkräfte sein? Wer ist die zuständige Instanz im Konflikt („mag der Staat dafür sorgen, der hat Geld genug“)? - Beispiele des idealtypischen Unterrichts zeigen den „Quantensprung“ im pädagogischen Selbstverständnis. Trotzdem lassen sich auch hier Verbindungen zu aktuellen Debatten ziehen: Die autoritäre Rolle der Schule „von damals“ wirkt heute gottseidank überholt - die Frage der wertevermittelnden gesellschaftlichen Instanzen ist heute ein viel diskutiertes Diskussionsthema.

 

Der Blick in die Schulgeschichte ist nicht nur interessant, um etwas über die Zeit vor 100 Jahren zu erfahren. Er ermöglicht zugleich einen Perspektivenwechsel auf aktuelle Themen. Entwicklungen in ihren Fortschritten und Rückschritten, Bedingungsfaktoren, Rollen- und Konflikt-Konstellationen zeigen sich am historischen Vergleich und laden zum Nachdenken über aktuelle Fragen mit einem veränderten Blickwinkel ein.

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Karsten Krüger
Schriftleiter des Bildungsmagaz!ns
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