Viele der weltweit aus dem Boden sprießenden nationalkonservativen Regierungen betreiben eine Art geistiger Mobilmachung und bedienen sich dazu religiöser Ideologien. Für politische Bildung wäre das guter Anlass, sich des religionskritischen Erbes der Aufklärung zu erinnern. Doch das ist verblasst hinter der gebetsmühlenhaften Beschwörung von Toleranz – vor allem gegenüber Religion.
Von Washington bis zum Bosporus
Kein Geheimnis ist es, dass Trumps Wahlsieg ohne die Unterstützung durch evangelikale Kreise bei den Republikanern kaum möglich gewesen wäre. In Polen herrscht mit der PiS eine Partei, die fest in der konservativen Mehrheit des polnischen Katholizismus verankert ist. In der Türkei betreibt die AKP im Windschatten des Ausnahmezustands die Islamisierung der Gesellschaft. Wie die Süddeutsche berichtete, wird die Evolutionstheorie, ewiger Dorn im Auge des Offenbarungsglaubens, aus den Curricula entfernt. Die Zahl religiöser Imam-Hatip Schulen ist seit Machtübernahme der AKP in den letzten Jahren stark gestiegen, sie sollen gewissermaßen als Ordensburgen eines islamisch gefärbten Nationalismus fungieren und zukünftige Eliten im Sinne der herrschenden Partei hervorbringen.
Und von Budapest bis Moskau
In Ungarn operiert Viktor Orban mit religiöser Symbolik; seit seinem demonstrativen Übertritt zum Calvinismus stellt der ehemals Liberale die Verteidigung des Abendlandes gegenüber finsteren Mächten als erste Christenpflicht dar und erfreut sich darin der Unterstützung kirchlicher Würdenträger. Zugleich liefert die Prädestinationslehre mit ihrem Lob des fleißigen Aufsteigers ideologische Munition für neoliberale Deregulierungspolitik; die Rolle des negativen Abziehbilds und Hassobjekts wird komplementär den als faul stigmatisierten Sinti und Roma zugewiesen. Ein Licht auf die Lage in Russland warf der Skandal um den Zaren-Film Matilda: Liebesszenen zwischen dem Zaren und seiner Geliebten zogen den Zorn der russisch-orthodoxen Kirche auf sich; ihr sind die Zaren, im emphatischen Sinne, heilig. Dass der Schauspieler Deutscher und der Regisseur Jude ist, komplettierte den Skandal und genügte offenbar, um in der orthodox geprägten russischen Seele Pogromstimmung zu entfachen. ARD-Korrespondentin Stöhr schreibt: „Über Monate gab es Angriffe auf das Büro des Regisseurs, brannten Autos, knallten Molotow Cocktails gegen Scheiben.“
Von Tel Aviv bis Bombay
Nur am Rande gestreift sei die Islamisierung des palästinensischen Bewegung durch die Hamas seit den Neunziger Jahren - anfangs wurde noch ganz unbefangen die Zerstörung Israels aus dem Koran begründet. Nur kurz erwähnt sei die Siedlerpartei im Kabinett Netanjahu, die Israels Recht auf die Annexion der besetzten Gebiete – deja vu - aus der Bibel ableitet. Und wer angesichts dieses ideologischen Abgrunds sich ins indische Ashram flüchten möchte: Dort ist gerade der Hindu-Nationalismus der BJP an der Macht, der kaum verdeckt gegen Muslime wendet, die u.a. verdächtigt werden, Hindu-Frauen zu heiraten, um sie vom rechten Glauben abzubringen. Schon ist laut Spiegel der muslimische Bollywood Star Sharuk Khan in die Schusslinie geraten.
Rollback des Obskurantismus
Vielleicht muss von einem weltweiten Rollback des Obskurantismus gesprochen werden, vielleicht war die Zähmung organisierter Religion durch Aufklärung global nie so weit gediehen, wie liberale Schöngeister sich einreden mochten; wahrscheinlich trifft beides zu. Festhalten lässt sich: Es gibt keine nationalistische Kampfansage, keine rassistische Stigmatisierung, keinen patriarchalen Machtanspruch, keine abergläubische Dummheit, die nicht auch heute noch durch religiöse Dogmen gerechtfertigt würde. Und es herrscht nie Mangel an Priestern, Popen und Imamen, die sich der Aufgabe begeistert annehmen, nicht zuletzt aus Gründen des Machterhalts. In der Regel zielen solche Projekte auf Okkupation von Bildungswesen, Justiz und anderen gesellschaftlichen Bereichen: Gleichschaltung. Natürlich gibt es Gegenstimmen, aus anders verstandenem Glauben heraus, aber sie bleiben minoritär. Mörderische Herrschaftsprogramme sind in der Vergangenheit zwar auch ohne das explizit gläubige Element ausgekommen, wie etwa die stalinistische Sowjetunion, die mit ihrem Personenkult freilich eine „säkularisierte“ Variante religiöser Unterwerfung inszenierte. Ebenso wollte Hitler, trotz seines ambivalenten Verhältnisses zur christlichen Tradition, auf die Idee der Vorsehung nicht verzichten. Der internationale Rechtspopulismus der Gegenwart ist jedenfalls in vielfacher Weise mit religiösen Ideologien und Strukturen verschwägert.
Verkehrte Welt in Deutschland?
Die Lage stellt sich in der Bundesrepublik umgekehrt dar. Der Protestantismus, nach 1945 entnazifiziert und seit 1968 gewissermaßen sozialdemokratisiert, hat gerade das Undogmatische zu seinem Markenzeichen gemacht; die katholische Kirche ist gegenüber dem Zeitgeist in der Defensive. Beide Konfessionen können zudem mit einem Staat sich arrangieren, der sie nicht nur steuerrechtlich privilegiert. In jüngster Zeit begrüßten die Kirchen Merkels Flüchtlingspolitik. Die Rechte positioniert sich darum eher kirchenfeindlich; zugleich wird Anschluss an die konservativen Minderheiten in den Kirchen gesucht – mit der aufgewärmten Idee des Abendlandes, bislang ohne eindeutiges Ergebnis. Jedenfalls scheint die deutsche Konstellation so manchen dazu zu verleiten, die Notwendigkeit einer Trennung von Kirche und Staat sowie eines entschlossenen Säkularismus zu vergessen. Aus parteipolitischer Perspektive repräsentiert der organisierte Glaube ein erhebliches Wählerpotential. Bürgermeister Sieling sprach neulich im Zusammenhang mit dem Jubiläum der Reformation von Toleranz als deren Erbe. Er hätte sich einen besseren Redenschreiber suchen sollen. Meinte er Luthers Toleranz gegenüber den Juden? Ein Blick in die Bremer Ausstellung zum Thema hätte ihm zeigen können, wie eifersüchtig sich die protestantischen Sekten bekämpften, Zwinglianer gegen Calvinisten intrigierten u.ä.. Zum deutschen Konsens gehört die Vorstellung, Glaubensgemeinschaften seien an sich unverfängliche gesellschaftsfördernde Einrichtungen und nur an ihren Rändern drohe die Gefahr der Übertreibung, der Fanatismus, die Ausnahme, der Missbrauch. So als ob der Umschlag ins Reaktionäre ganz durch manipulativen Eingriff von außen bewirkt sei. Seltsam nur, dass in so gut wie allen Glaubensgemeinschaften Modernisierung zugleich fundamentalistische Tendenzen auf den Plan ruft. Mag deren Kräfteverhältnis historisch stark divergieren - im Moment gibt es verdammt viele davon.
Grenzen der Anpassungsfähigkeit
Die „Zumutung der Offenbarungsreligion ans Bewusstsein“ (Adorno) besteht in der Forderung, die Wahrheit des Geoffenbarten zu schlucken, auf Treu und Glauben, trotz immanenter Widersprüche und offenkundiger Historizität dessen, was der Geschichte enthoben sein soll. Deutsche Aufklärer wie Reimarus haben den Daumen in die Wunde gelegt, etwa durch vergleichende Analyse der Evangelien.
Das Problem wurzelt somit im Glauben selbst, nicht in einer angeblichen Verfälschung desselben. Praktisch kann die Anpassungsfähigkeit von Offenbarungsreligionen an die modernen Zeiten erstaunlich groß sein, theologisch birgt sie Widersprüche, die zwar ignoriert oder überspielt, kaum jedoch rational gelöst werden können. Wo eine Gemeinschaft sich gerade dadurch konstituiert, dass sie direkte Botschaft von Gott empfangen habe und damit über heilbringende Wahrheit verfüge, deshalb auch Anspruch auf gesellschaftliche Gültigkeit ihrer Ansprüche stellt, muss ihr die Rückstufung zur Privatsache bleibender Stachel sein.
Unwahrscheinlich, dass der Streit zwischen Aufklärung und Religion daher irgendwann beendet wäre. Er wird stets wieder Fundamentalismen hervorbringen, die zurück ins Mittelalter oder direkt ins Paradies wollen, vor allem angesichts der Erfahrung einer heillosen und krisenhaften Welt, an der auch die ach so aufgeklärte Weltordnung des Westens ihren Anteil hat: Verbirgt sich hinter ihrer unschlagbaren ökonomischen Rationalität doch nur ein Wachstumszwang, der Massenkonsum in einigen Weltgegenden ermöglicht, während er andere als Wüsten und Favelas zurücklässt. Der Universalismus der Verwertung und die nationalistisch-religiösen Revolten dagegen, die mit der Herrschaft des Westens zugleich den zivilisatorischen Fortschritt verachten, sind nur zwei Seiten einer Medaille. Beidem in Zukunft mit mehr Intoleranz zu begegnen, wäre ein vernünftiger praktischer Ansatz, ebenso, wie die Einsichten der Religionskritik theoretisch wach zu halten.