Im September 2014 ging eine 10. Klasse der GSO mit jungen Abgeordneten eine Wette ein zur Erhöhung der Wahlbeteiligung bei der Bürgerschaftswahl 2015. 12 Schüler*innen dieser Klasse strebten danach eine Lehrstelle an, aber nur 3 erhielten eine. Die vom Senat ab 2015 versprochene Ausbildungsgarantie war daher in ihrem Interesse. Sie fragten sich: Für wen gilt die Garantie? Wie viele Jugendliche haben einen Bedarf? Um dies zu klären, untersuchte die Klasse die Ausbildungsstatistik. Im November 2014 meldeten Arbeitsagentur und Presse, nur 4% der Bewerber seien „unversorgt“, hätten keine Lehrstelle bekommen. Sie fragten sich, warum bei ihnen 75% gescheitert waren. Lag das an ihnen?
Mit zwei Argumenten konfrontierten sie Abgeordnete in der Diskussion bei der Nacht der Jugend 2014:
1) Die Arbeitsagentur, Medien und Politik sprachen immer nur von den 4% „unversorgten“ Bewerbern. Jede/r Jugendliche – aber auch Journalisten – setzte mit dieser Gruppe die Zahl der Bewerber ohne Lehrstelle gleich. Aber die meisten „versorgten“ Bewerber hatten gar keine Lehre, sondern gingen weiter zur Schule, machten Praktika und „Maßnahmen“, ein FSJ und andere „Warteschleifen“, meist erzwungen, weil sie keine Lehre erhalten hatten. Die erfolgreichen Bewerber wurden als „in Berufsausbildung eingemündet“ erfasst. Das waren nicht 96%, sondern in Bremen nur etwa 37%. Dies war zwar in den Statistiken zu finden, wurde aber z.B. in den Pressemitteilungen der Bremer Arbeitsagentur, in den Medien und von Seiten der Politik nie erwähnt. Die Schüler/innen bezeichneten das als „Schönfärberei“. In der Diskussion hatten die Politiker zu dieser statistisch fundierten Kritik keine Erklärung. Das galt auch für das 2. Schülerargument:
Die Arbeitsagentur hatte im Jahr 2006/07 die Bewerberstatistik umgestellt. Bis dahin war jede/r Jugendliche, der zur Arbeitsagentur ging und erklärte eine Lehrstelle zu suchen, als „Bewerber“ registriert, statistisch erfasst und mit Lehrstellenangeboten unterstützt worden. Danach wurden die Jugendlichen erst von der Agentur auf ihre Ausbildungsreife geprüft. Fiel das Urteil positiv aus, gab es den „Bewerber“- Status und Angebote. War es negativ, wurde man nicht Bewerber, erhielt keine Angebote, konnte aber „Fördermaßnahmen“ erhalten. Die Jugendlichen konnten natürlich selbständig weiter eine Lehrstelle suchen und erhalten, hatten sie doch meist einen Schulabschluss. Die Projektschüler/innen fanden, auch für Jugendliche ohne „Bewerber“-Status müsste die Ausbildungsgarantie gelten. Sie wandten sich an die Statistikabteilung der Agentur und fragten, wie viele es davon in Bremen gebe. Die Antwort lautete: Das wissen wir nicht, weil es nicht erfasst wird. Auch bei dieser Information stießen sie auf ratlose Politiker-Gesichter.
Große Öffentlichkeit erreicht
Die Folge war im März 2015 eine Anfrage der SPD-Fraktion an den Senat. Der bestätigte die Zahlen des Schulprojekts und die Tatsache, dass die Jugendlichen ohne „Bewerber“-Status nicht erfasst werden. Die Schüler/innen fühlten sich bestätigt und ernst genommen. Im April 2015 trug die Klasse ihre Kritik in die gesamte Schule und „stellte Politiker während einer Podiumsdiskussion zur Rede“ (WK 4. Mai 2015). Auf die Frage, „für wen die Ausbildungsgarantie überhaupt gelte, taten sich alle Volksvertreter schwer“ (ebd.). Damit war es erstmals gelungen, eine große Öffentlichkeit zu dem Problem herzustellen.
Nach der Wahl kündigte der neue Senat die Umsetzung der Ausbildungsgarantie im Koalitionsvertrag an. Wie das geschehen sollte, blieb unklar, vor allem, weil noch immer keine Zahlen vorlagen. Sie schrieben im September 2015 einen Brief an 50 Politiker mit folgenden Lösungsvorschlägen: Die Statistik muss deutlich machen, wie viele Bewerber eine Lehrstelle erhalten haben und wie viele nicht. Die Politik muss wissen, wie viele Ausbildungsinteressierte keinen Bewerberstatus erhalten. Da dieses Problem nicht auf Bremer Ebene gelöst werden kann, soll die Statistik auf Bundesebene über den Weg einer Bundesratsinitiative des Landes Bremen geändert werden. Unter Verweis auf ein Urteil des BVG wird eine Ausbildungsplatzabgabe für nichtausbildende Betriebe gefordert, da etwa 80% nicht ausbilden und der Staat von den Betrieben „erwarten kann, dass alle ausbildungswilligen Jugendlichen die Chance“ auf einen Ausbildungsplatz bekommen (BVG-Urteil).
Tatsächlich änderte sich auch bei der Ausbildungsrunde 2015 nichts:„183 Jugendliche konnten bislang nicht vermittelt werden“, meldete der Weser-Kurier am 30.10. 15: Bei der 2. Bremer Armutskonferenz im Februar 2016 präsentierten die Schüler ihre Kritik an der Ausbildungsstatistik und kamen zum Ergebnis, der Bedarf an Ausbildungsplätzen im Land Bremen liege aktuell nicht bei 183 sondern etwa 4000 Stellen. Sie erneuerten ihre Forderungen. In der Bürgerschaftssitzung vom 25. Mai 2016 griff MdBB Fecker die Kritik an der Ausbildungsstatistik auf und erklärte: „Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Ost … haben im Rahmen ihres Projekts und zuletzt noch einmal auf der Armutskonferenz auf diesen Umstand hingewiesen. Daraufhin haben wir uns in den Koalitionsfraktionen noch einmal Gedanken gemacht und sind zum dem Entschluss gekommen, Ihnen heute einen Antrag vorzulegen, der gemeinsam mit der Linken gestellt wird.“ Die Bürgerschaft beschloss dann einstimmig, der Senat solle die „Entwicklungen auf dem regionalen Ausbildungsmarkt transparent darstellen“. Die Schüler/innen begriffen das als großen Erfolg ihrer Einmischung in die Politik. Sie beschlossen zu kontrollieren, ob der Beschluss umgesetzt wurde. Im November würden die Zahlen zur Ausbildungsrunde 2016 veröffentlicht.
Am 2. 11. 2016 setzte die Arbeitsagentur ihre Schönrechnerei fort und verschwieg in ihrer Presseerklärung erneut die Zahlen zur Einmündung. Die Arbeitsagentur spricht von 207 „unversorgten“ Bewerbern. Der Weser-Kurier und andere Medien berichten von „207,…die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben“(WK 3.11. 2016). Tatsächlich waren es über 3000. Bei der Nacht der Jugend 2016 wurde das Thema erneut diskutiert. Alle Politiker akzeptierten, dass die geforderte Transparenz nicht hergestellt sei. Die Schüler/innen erklärten, es sei offensichtlich, dass die geforderte Transparenz an den Regeln der Bundesstatistik scheitere. Deshalb müsse über eine Bundesratsinitiative eine Korrektur verfolgt werden. Die taz brachte die Ergebnisse in einem Bericht über das Projekt auf den Punkt: „207 Jugendliche ohne einen Ausbildungsvertrag – eine erfreulich niedrige Zahl. Das Problem ist nur: Sie stimmt nicht.“
Es folgte sofort eine Anfrage der Linken vom 24.11. 2016 zu der „Verzerrung der Darstellung (auf die) auch eine Bremer Schülerinnen-/Schülergruppe immer wieder hingewiesen“ hat. Am 16.2. 2017 wurde die Anfrage diskutiert. MdBB Dogan von den Grünen erklärte, die Fraktion habe “ einen Antrag beschlossen, der dieses Thema mit einer Bundesratsinitiative bundesweit aufgreifen soll.“ Am 11. 5. 2017 beschloss die Bürgerschaft einstimmig, man wolle “Jugendliche gut in Ausbildung und Berufsfindung beraten – dafür braucht Bremen aussagekräftigere Statistiken bei der Bundesagentur für Arbeit“. Dies sei gegebenenfalls über eine Bundesratsintiative zu erreichen. Die linke MdBB Strunge erklärt in der Debatte: “Diese Idee kam nicht von den Grünen, den Linken, der SPD, diese Idee kam von Bremer Jugendlichen". Jetzt endlich wurde das Thema auch von bundesweiten Medien, wie spiegel-online aufgegriffen. Der Spiegel zitiert die Schülerin Sara: "Es macht Mut, dass wir so viel erreicht haben, und es macht Mut, dass Schüler so etwas erreichen können" Sara und ihre Mitschüler*innen verfolgten, ob es 2017 zu einem Fortschritt bei der Transparenz kommen würde.
Mehr Transparenz
Das geschah. Am 2.11. wurde bei der Pressekonferenz zur Ausbildungsrunde 2017 mitgeteilt, dass nur 37% der Bewerber „eine Ausbildung angefangen haben“. Im Land Bremen waren 1830 von 4968 Bewerbern eingemündet. Allerdings konnten weiterhin keine Angaben über die Zahl der Jugendlichen ohne Bewerberstatus gemacht werden. Der Weserkurier schreibt am 3.11., dass die „aktuellen Ausbildungszahlen erneut zeigen, dass die Arbeitsagentur mit einem statistischen Problem zu kämpfen hat“. Schlimmer sieht es beispielsweise in Berlin aus: Dort wird in den Presseerklärungen zur Ausbildungsstellenbilanz die Falschmeldung verbreitet, es hätten nur „2348 Jugendliche noch keinen Ausbildungsplatz (unversorgte Bewerber/innen)“ erhalten. Tatsächlich sind 12400 ohne Ausbildung. Die gleiche Schönrechnerei in Hamburg. Das Ergebnis: Die Intransparenz und Schönrechnerei ist der bundesweiten Statistik zum Ausbildungsmarkt geschuldet. Die Schülerinitiative hat in Bremen zu mehr Transparenz beigetragen. Sie ist aber auch hier unzureichend. Ein Indiz: Für etwa jeden 4. Bewerber in Bremen gilt am Ende des Berichtsjahres 2017, dass die Agentur über deren Verbleib nichts weiß, („ohne Angabe eines Verbleibs“) Seit Beginn der JBA in 2014 ist deren Anteil nur von 27,7% auf 26,1% der Bewerber in 2017 gesunken. Wenn die Politik dafür sorgen will, dass über die Arbeit der JBA „keiner verloren geht“, muss man zuerst wissen, um wie viele es sich handelt, wie groß der Bedarf ist. Während die Bewerberzahlen 2017 um 3,7% gestiegen sind, sanken gleichzeitig alle Indikatoren auf der Angebotsseite: Die „gemeldeten Stellen“ gingen um 2,9% zurück. Die Zahl der Ausbildungsbetriebe sank ebenfalls, was Vertreter von Ausbildungsbetrieben zu der Kritik führte, dass sich ihre nichtausbildenden Konkurrenten einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Gab es 2008 noch 6500 neue Ausbildungsverträge gab es 2016 nur noch 6000 (buten und binnen v. 10.11. 17). Es ist bereits jetzt absehbar, dass die in der Bremer Vereinbarung von 2014 angepeilte Steigerung aller Ausbildungsverhältnisse von 7000 auf 7800 bei weitem nicht realisiert wird. Es erweist sich, dass die 2014 zu recht ins Spiel gebrachte Ausbildungsgarantie, dass die Zielvorgabe der JBA „§2 allen jungen Menschen mit Wohnsitz in Bremen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und ohne Berufsabschluss sind, zu einem Berufs- oder Studienabschluss führen“ noch immer ein leeres Versprechen bleibt.
Immer offensichtlicher wird, dass dieses Versprechen zwar mutig und notwendig ist: Bremen ist das Bundesland mit der höchsten Armutsquote von Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig ist es mit fast 24% das Bundesland mit dem höchsten Anteil von Menschen ohne Berufsabschluss in der Altersgruppe 30-60 Jahre. Bundesweit liegt der gleiche Wert bei 15,3%. Richtig verlangte Senator Günthner in dem buten und binnen –Bericht, die Wirtschaft müsse „deutlich mehr machen“. Aber offensichtlich ist auch, dass freiwillige Vereinbarungen in den letzten 10 Jahren keine Lösung herstellten. In ihrem 2 Jahre alten Brief schlugen die Schüler*innen eine Alternative vor: eine Ausbildungsplatzabgabe für nichtausbildende Betriebe.