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Bildung in Europa

„Geistig gesunde Menschen formen“

Impressionen zur Lage der Bildung in Ungarn

 

Das Zitat im Titel stammt von dem bekannten ungarischen Journalisten Robert Puzser, der auf einem ungarischen Sender klagte, dass dies in Ungarn nicht geschehe.

 

 

Illiberale Demokratie

 

Die Regierung von Viktor Orbán, der 1998 mit 36 Jahren zum ersten Mal Ministerpräsident wurde, regiert nach dem dehnbaren Begriff der illiberalen Demokratie. Darunter versteht man eine besondere Art repräsentativ-demokratischer Verfasstheit, in der die Regierenden zwar vom Volk gewählt werden, aber bestimmte politische Freiheiten einschränken können. Das Ziel ist natürlich nicht die Einschränkung der Einschränkung halber, sondern das Etablieren politischer, ideologischer und kultureller Vorstellungen. Der Volksmund in Ungarn interpretiert das Wort „liberal“ lediglich als Zugehörigkeit zu sexuellen Minderheiten und die Europäische Union wird, auch dank Orbáns Propaganda, mit der Sowjetunion gleichgestellt.

 

Tatsächlich ist die ungarische Gesellschaft im Durchschnitt national-konservativ geprägt, was mit vielen Faktoren zusammenhängt. Zum nationalen Trauma wurde das Abtreten von zwei Dritteln des Gebiets im Königreich Ungarn innerhalb der k. u. k.- Monarchie zugunsten der Nachbarländer nach dem Ersten Weltkrieg. Dazu kommt die Nicht-Auseinandersetzung mit der Rolle Ungarns im Zweiten Weltkrieg, weil man sich im sozialistischen Ungarn (wie übrigens auch in der DDR) als geistigen Erben der antifaschistischen Kräfte, vor allem der Kommunisten, betrachtete und glaubte, damit auf der „richtigen“ Seite der Geschichte gewesen zu sein. Wenn man die ungarischen politischen Verhältnisse auf Deutschland übertragen würde, befände sich die stärkste politische Kraft hierzulande zwischen der rechten CDU und der AfD und die größte Oppositionspartei zwischen der AfD und der NPD.

 

Einer der bleibenden Eindrücke, die ich aus meinem achtjährigen Leben in Ungarn mitgenommen habe, ist etwas, was ich nirgendwo sonst erleben durfte: Es wird oft in Männerrunden über die Kinder und deren schulischen und persönlichen Werdegänge gesprochen. Da die ungarische Kultur eine verbale ist, spricht das für die Rolle der Familie in der Gesellschaft und infolgedessen in der Politik. Diese Tradition wird aber anhaltend ideologisch instrumentalisiert, was aus der Aussage der Vizepräsidentin der Regierungspartei Fidesz und Familienministerin zu entnehmen ist.

 

Frau Novák meint, dass die ungarische Nation aus Männern und Frauen bestehe und alle anderen „märchenhaften Wesen“ seien, und diejenigen, die damit ein Problem hätten, könnten gerne das Land verlassen. Zu den Punkten, die die illiberale Demokratie charakterisieren, gehören der allgegenwärtige Antiziganismus und die Flüchtlingsabwehr mit allen Mitteln, was allerdings die westlichen Demokratien nicht angemessen alarmiert.

 

Trotz ständiger Sanktions- und neulich vom niederländischen Ministerpräsidenten geäußerten EU-Ausschlussdrohungen, fühlt sich die Orbán-Regierung dadurch beruhigt, dass einige osteuropäische Regierungen, aber auch ein Teil der deutschen politischen Klasse sie auf Hände tragen. Deutschland pflegt historisch freundschaftliche Beziehungen zu Ungarn, was in der ungarischen Grenzöffnung für die DDR-Bürger 1989 ihren mächtigen Ausdruck fand. Außerdem kann man rhetorisch die ungarischen Minderheiten- und Ausländerpolitik kritisieren und gleichzeitig davon profitieren, dass Ungarn eine Art modernen Limes, den 175-kilometerlangen Zaun zu Serbien, gegen Flüchtlinge errichtet hat.

 

 

Schulen in Ungarn

 

Ohne das Schulsystem in Ungarn umfassend darzustellen, kann man seine Besonderheiten akzentuieren. Es ist im Großen und Ganzen mit den Schulsystemen in den anderen europäischen Ländern vergleichbar, wobei die zehnjährige Schulpflicht nach dem obligatorischen und gesetzlich verankerten Besuch eines Kindergartens als erste Stufe des Bildungssystems beginnt. Aufschlussreich ist der Aufbau der Abiturprüfung, der in drei Pflichtfächern (Mathematik, Ungarisch und Geschichte) und zwei Wahlfächern (Fremdsprachen, Chemie, Physik, Geographie, Biologie u.a.) erfolgt. Die Teilnahme am Unterricht ist bis zum 16. Lebensjahr Pflicht. Neben der kostenlosen Pflichtschulbildung gibt es auch kostenpflichtige Privatschulen.

 

 

Nach der Hochschule

 

Die Hochschulabsolvent: innen, die ein staatlich finanziertes Studium absolviert haben, müssen nach ihrem Abschluss in Ungarn arbeiten - und zwar mindestens doppelt so lange, wie sie in Ungarn studiert haben. Die von der Fidesz-Regierung eingeführte Regelung bindet somit gut ausgebildete Fachkräfte an ihr Heimatland. Wer dennoch ins Ausland geht, muss die Kosten seines Studiums zurückzahlen, was den Start in ein Arbeitsleben im Ausland mit Tausenden Euro Schulden verbindet. Angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit, die durch die Corona-Pandemie verstärkt wurde, redet man daher von einer „verlorenen Generation“. Nicht verwunderlich, dass in manchen Abschlussklassen, vor allem in Budapest, ein beträchtlicher Teil der Schüler: innen Zusagen von ausländischen Universitäten bekommt. Ein besonders beliebtes Ziel ist historisch bedingt die österreichische Hauptstadt Wien, für die englischsprechenden Schüler: innen sind es die Niederlande, Dänemark oder Großbritannien vor dem Brexit. Man redet von Tausenden junger Ungar: innen, die nach dem Abitur das Land gen Westeuropa verlassen. Unzufriedene Lehrkräfte haben, unterstützt von Eltern und Zivilverbänden, lange aber erfolglos versucht, durch Streiks und Demonstrationen die geistige Autonomie des Bildungswesens aufrechtzuerhalten.

 

 

Anregende Institutionen

 

Seit Anfang 1990er existiert in der südungarischen Stadt Pécs das Gandhi-Gymnasium (ungarisch Gandhi Közalapítványi Gimnáziumés Kollégium), primär für die Kinder aus den Sinti und Roma Familien. Die malerische Stadt Pécs, einst die zweitschönste Stadt des Osmanischen Reiches und unter den dort ansässigen Donauschwaben unter dem deutschen Namen Fünfkirchen bekannt, ist heutzutage eine der wissenschaftlichen und kulturellen Zentren des Landes. (…) Das Gandhi-Gymnasium in Pécs ist die europaweit einzige Schule für Roma und entstand zu einer Zeit als ihre Situation sich rasant verschlechterte. Nach der Wende in Osteuropa war die Arbeitslosigkeit unter den Roma, vormals in der sozialistischen Industrie beschäftigt, hoch, und die Stimmung gegenüber dieser Minderheit drohte zu kippen. Die Kinder im Gymnasium leben im angeschlossenen Internat. Die Kosten für  Schulbücher, Frühstück, Mittags- und Abendessen sowie die Fahrscheine für die Heimfahrt werden vom Staat übernommen. Die jetzige Regierung, die diese Regelung von den früheren übernommen hat, versucht es als Beweis für gelungene Romapolitik in ein positives Licht zu rücken. (…)

 

 

Die private Central-European University (Zentraleuropäische Universität, ungarisch: Közep-Európai Egyetem), mit Englisch als Bildungssprache, wurde 1991 vom amerikanischen Philanthropen jüdisch-ungarischer Herkunft George Soros gegründet und ist mit den Abschlüssen an der University of the State of New York angebunden. Nach einer langen Kampagne der Orbán-Regierung, die mit den Ideen der Offenen Gesellschaft haderte und sogar antisemitische Züge annahm, begann die Uni 2019 mit der Übersiedlung nach Wien. Allerdings behält die Universität vorübergehend den Standort Budapest für Forschungs- und Lehrtätigkeiten. Als ehemaliger Student dieser Universität bin ich nur ratlos, wie weit die rechte Ideologie der eigenen Wissenschaft und Kultur schaden kann. (…) Unzählige kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen, international bekannte Professor: innen und die engen Kontakte mit der ungarischen wissenschaftlichen Kreisen – das alles wurde aufgegeben, um daraus politisches Kapital zu schlagen und die Macht der Nationalideologie zu betonen. 