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Schwerpunkt

Geist und Psyche wurden vernachlässigt

Der Begriff Systemrelevanz in Coronazeiten – und danach?

Der Begriff „Systemrelevanz“ wurde in den vergangenen Jahren nur selten in der Öffentlichkeit diskutiert, nicht einmal die Bundestagsdrucksache zur Risikoanalyse der Bevölkerung aus dem Jahre 2012 zum Thema „Pandemie durch Virus Modi-SARS“, mit der nach den Schweine- und Vogelgrippen der vergangenen Jahre eine Art „Drehbuch“ für den Umgang mit einer neuen Pandemie entworfen wurde, enthält den Begriff der „Systemrelevanz“ oder gibt der Politik oder der Öffentlichkeit Hinweise, was damit gemeint ist (Drucksache 17/12051

: dserver.bundestag.de/btd/17/120/1712051.pdf).


Also muss man bei der Diskussion auf allgemeine Interpretationen zurückgreifen, die zunächst einmal nicht im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stehen. Danach unterscheidet man die Systemrelevanz in der Wirtschaft (Industriebereiche, denen eine Schlüsselrolle für die Stabilität eines Wirtschaftssystems zukommt), die Systemrelevanz für das staatliche Gemeinwesen und die Gesellschaft (Sicherstellung der Versorgung der Bürger, auch wenn Gefahren für bestimmte Gruppen von Menschen oder für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger bestehen) und die Systemrelevanz von Staaten, wenn z.B. ein Zahlungsunfähigkeit eines einzelnen Mitgliedsstaates in einer Staatenunion wie z.B. der EU droht. Letztlich es darum, systemrelevante Einflussgrößen zu identifizieren und damit einer Situation vorzubeugen, die ein System in seiner Stabilität gefährdet.

Systemrelevanz „auf Zuruf“

In den ersten Wochen im März und April 2020 gab es allerdings zum Thema Systemrelevanz eine bespiellose Hinwendung der Politik zu Beratern aus dem Bereich der Virologie, die Medien reagierten (und reagieren derzeit teilweise noch immer) mit einer Diskursverengung, die nur den wissenschaftlichen Ratschlägen dieser Beraterinnen und Berater folgte. Der Schulterschluss zwischen Virologen, Politikern, Medien und auch Bürgerinnen und Bürgern war unübersehbar, vielleicht in diesem Anfangsstadium nachvollziehbar, die Systemrelevanz wurde praktisch „auf Zuruf“ definiert: Dass das gesamte medizinische Versorgungspersonal dazu gehörte, kann nicht erstaunen, dass auch Polizei, Feuerwehr und Angestellte in Supermärkten dazugehörten und Angestellte in öffentlichen Einrichtungen und im öffentlichen Nah- und Fernverkehr ebenso wenig. Erstaunen konnte am ehesten, welche Berufsgruppen im Zusammenhang mit einer Systemrelevanz nicht genannt wurden: Da ging es im weitesten Sinne um Schauspieler:innen oder Sänger:innen aus dem Bereich Kultur, es ging um Lehrer:innen und Professor:innen in Hochschulen und Universitäten aus dem Bereich Bildung  sowie um Präventionsexperten, die sich um adäquate Maßnahmen zur Eindämmung der „Hotspots“ der Infektionen wie Altenheime und Krankenhäuser oder um gezielte Strategien für ältere, gesunde und rüstige Menschen vorschlagen konnten, um z.B. bestimmte Zeitfenster für deren Einkäufe oder Mittagstische zu vereinbaren, und schließlich um Angehörige psychosozialer Hilfeeinrichtungen, die sich insbesondere um die Menschen kümmern sollten, die unter beengten Bedingungen die Corona-Zeit ihren Alltag verbringen mussten. Dies war umso bedauerlicher, als weder in Theatern noch in Konzertsälen, weder in Kindergärten noch in Schulen, weder in Kinos noch in Buchhandlungen, weder in Restaurants noch auf Spiel- oder Sportplätzen konkrete Hinweise auf eine allgemeine Gefährdung zur Ansteckung mit dem Corona-Virus vorlagen, wenn die AHA-Regeln ausreichend berücksichtigt wurden: Abstand halten, Hygiene beachten (z.B. konsequentes Händewaschen) und im Alltag Maske tragen.

Negative gesellschaftliche Folgen

Insbesondere der Lockdown ab Ende März bis Mitte Juni 2020 war eine Folge dieser eher einseitigen und Beratungen mit einem verengten Blick der in der Sozialpolitik wenig erfahrenen Expertengremien, ergänzt um Bilder aus Italien und Spanien von einer großen Anzahl von Toten, überfüllten Krankenhausstationen und langen Schlangen vor Arztpraxen – ein Szenario, das bei vielen Menschen Panik und Angst erzeugte und sie nur allzu bereit waren, die politischen Entscheidungen über Eingrenzungen im Alltag anzunehmen. Vielfach übersehen wurde nämlich, dass der Lockdown in dieser frühen Phase der Pandemie neben den wirtschaftlichen Folgen (Kurzarbeit, Kündigungen) vor allem Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche (Ausbildungs- und Betreuungsinstitutionen wurden geschlossen, die schon bestehende Ungleichheit zwischen arm und reich wurde zuungunsten der ärmeren Familien weiter verschärft) sowie auf Frauen hatte: Die körperliche Gewalt nahm durch die erzwungenen Aufenthalte in z.T. beengten Wohnungen zu, adäquate Interventionen durch psychosoziale Beratungsteams waren nicht vorgesehen – Frauenhäuser, Gewaltambulanzen für Kinder und Frauen sowie die Frauennotrufzentralen waren überlastet, selbst die personelle Betreuung von Menschen mit körperlichen und geistiger Behinderung wurde untersagt Das Virus stand im Mittelpunkt aller Aktivitäten und Entscheidungen, unterstützt durch Virologen, die sicher bezüglich der Infektion eine wichtige, wenn auch insgesamt eingeschränkte Rolle spielen sollten. Beratende mit Kompetenzen für gesellschaftliche Empfehlungen kamen jedoch öffentlich kaum zu Wort. Die Systemrelevanz bei den psychischen und körperlichen Leiden, die viele Menschen in dieser Zeit zu ertragen hatte, war einfach kein Thema.

„Generation Corona“

Dies sollte sich rächen, wie wir heute durch einige wenige, aber relevante Studien wissen. Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland sind in psychotherapeutischer Behandlung, die Zahlen für die erstmalige Therapie im Jahre 2020 und deren mögliche Verlängerung stieg z.B. bei der BARMER um sechs Prozent auf mehr als 44.000 gegenüber dem Vorjahr an. Mädchen und junge Frauen insbesondere in der Pubertät leiden unter Essstörungen, Jungen und junge Männer berichten über suizidale Gedanken, viele leiden und Depressionen und Ängsten. Die Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit ADHS steigt deutlich an, Ärztinnen und Ärzte berichten über einen Anstieg von 30 Prozent im Zeitraum 15. März 2020 bis 19. Februar 2021 gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr. Insbesondere die Zeit der Pubertät, in der die Ablösung von den Eltern und die Kommunikation mit gleichaltrigen von besonderer und prägender Wichtigkeit ist, um sich in unserer Welt zu erproben, eigene Wege zu finden und erste Erfahrungen mit der Sexualität zu erleben, wurde und wird in Corona-Zeiten durch die Schließung von Begegnungs- und Kommunikationsräumen wie Schulen, Clubs oder Konzerthäusern gestört und oft genug verhindert – die Jugendlichen werden mit Homeschooling oder anderen eher isolierten Aktivitäten beschäftigt. Gerade auch das Homeschooling zeigt die Unterschiede der sozialen Schicht, aus der die Jugendliche kommen: Zwar verfügen zumeist unterschiedslos alle über ein Handy, manche über ein Tablet, aber die auch „notwendige Ausrüstung“ für ein Homeschooling wie ein Drucker und ein PC mit Monitor sind meist nur bei den Kindern und Jugendlichen in sozial besser gestellten Familien in einem eigenen Arbeitszimmer verfügbar. Die Ungleichheit der Bildungs- und Berufschancen von Kindern und Jugendlichen wird dadurch noch weiter verschärft – es wächst eine „Generation Corona“ heran, die sozial schwächer gestellten Kinder und Jugendlichen werden noch weiter „abgehängt“.

Begriff muss ergänzt werden

Die Systemrelevanz muss daher dringend ergänzt werden um diejenigen Berufe, die sich um Bildung, Kommunikation und psychische Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kümmern. Dies wäre eine wichtige Lehre aus der Pandemie für die Zukunft: Systemrelevante Berufe kommen nicht nur aus dem Bereich der alltäglichen Versorgungs- und Schutzaktivitäten, sondern auch aus den Bereichen Bildung, Kultur und der Versorgung von Psyche und Geist. Dieser Aspekt von Systemrelevanz ist in den letzten Monaten sträflich vernachlässigt worden, es ist höchste Zeit, auch Lehrer:innen, Künstler:innen und psychologisch orientierte Professionen als systemrelevant in solchen Pandemiezeiten einzubinden – schließlich geht es nicht nur um die körperliche Versorgung, sondern auch um die psychische und geistige Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Und dieser Aspekt wurde zu lange übersehen – vor allem zum Schaden von Kindern und Jugendlichen.