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Friedenspolitik

Friedensliebe und Militanz

Historische Anmerkungen zur Geschichte des Pazifismus

Grafik: freepik.com

Aus aktuellem Anlass

Die ‚Zeitenwende‘ im Gefolge des russischen Angriffskrieges verleitet viele zu, je nachdem, friedensbewegter oder bellizistischer Betriebsamkeit. Seit die russische Kriegsmaschine rollt und ihr Vorrücken im Liveticker verfolgt werden kann, scheint das Gesetz des Handelns zu regieren. Hilfsaktionen können, unbestreitbar, die Auswirkungen des Überfalls abmildern. Aber manche wissen darüber hinaus sofort schon, was zu tun ist: Die einen halten unverdrossen ihre Anti-NATO-Plakate in die Höhe, andere verteilen Ukraine-Flaggen auf Parties und fluten die digitalen Medien mit Ikonenbildern des ukrainischen Präsidenten.

Anstatt sich in neue Gewissheiten zu flüchten, wären erst einmal die alten zu überdenken. Ausgerechnet die westlichen Geheimdienste, sonst in der Friedensbewegung als Inbegriff der Desinformation verschrieen, hatten recht behalten: Das vermeintliche Manöver war der Anfang der Invasion. Selbst eine Verteidigerin russischer Sicherheitsinteressen wie Sarah Wagenknecht wurde einen Moment lang kleinlaut, nur um dann wieder auf Letztschuld des Westens zu plädieren. Vielleicht wäre es im Angesicht neuer Flüchtlingszüge und brennender Atomkraftwerke ratsam, eine Atempause einzulegen. Hektisch aufgesetzte Appelle beeindrucken die russische und andere Regierungen ohnehin kaum.

Zuallererst stellte sich ja auch die Frage, wozu überhaupt aufgerufen werden soll: Aus einem ukrainischen Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung, gesteht man es zu, sind auch Waffenlieferungen zu begründen. Anderen gebietet Pazifismus, den Eingekesselten aus der bequemen Ferne bedingungslose Kapitulation ans Herz zu legen. Oder sie raten der Bevölkerung eines ganzen Landes großherzig zur Flucht. Nibelungentreue gegenüber dem neuen Helden von Kiev findet sich am anderen Ende des Spektrums. Früher oft propagierte kritische Solidarität könnte womöglich auch nach dem Umgang mit jenen ‚ausgeschalteten russischen Saboteuren‘ fragen, die durch die Nebensätze von Klitschkos Frontberichten aus Kiev geistern.

Erster historischer Exkurs: Gandhi

In einem Aufsatz aus dem Jahr 1938 beklagt der indische Vorkämpfer der Gewaltlosigkeit eine angebliche Unfähigkeit jüdischer Deutscher, sich durch Aktionen zivilen Ungehorsams des Nazismus zu erwehren. Nicht in Auswanderung hätten sie ihr Heil zu suchen, sondern in Deutschland sollten sie bleiben und selbst ein Blutbad hinnehmen als göttlich verordnetes Schicksal. Den jüdischen Philosophen Martín Buber, eigentlich ein Bewunderer Gandhis, kostet es einigen inneren Widerstand, den Zynismus einer solchen Haltung im Jahr der Pogromnacht öffentlich zu kritisieren. Zur Verteidigung des ‚Mahatma‘ wurde eingewandt, er habe die politische Lage in Deutschland falsch eingeschätzt. Doch das geht am eigentlichen Problem vorbei: Für Gandhi wog das Prinzip der Gewaltlosigkeit letztlich höher als ein triviales einzelnes Menschenleben. Unterwerfung unter unmenschliche Verhältnisse, im Extremfall der Tod, war kein zu hoher Preis für entsprechende Prinzipientreue. Seine Propaganda pazifistischen Märtyrertums verkehrte sich in Lebensverachtung, die übrigens auch durch den hinduistischen Glauben an die Wiedergeburt inspiriert war.

Zweiter historischer Exkurs: Einstein

Im amerikanischen Exil beschäftigte etwa zur selben Zeit den Physiker die Frage nach der militärischen Nuklearforschung. Im Ersten Weltkrieg hatte er zu jenem aufrechten Grüppchen von Gelehrten gehört, das ein Manifest gegen die kaiserliche Propaganda unterzeichnete, woraufhin ihm eine Welle akademischer nationalistischer Hetze entgegen schlug. Der Linksliberale setzte sich zeitlebens für eine Ächtung des Krieges ein, doch gegen die Gefahr einer reichsdeutschen Atombombe schien ihm die Fähigkeit zur Abschreckung als ultima ratio unumgänglich. In einem bekannt gewordenen Brief warf er seine Reputation in die Waagschale und forderte Präsident Roosevelt zur Freigabe atomarer Forschung auf. Später sah er die Intervention als Fehler an. Aber was wäre gewesen, hätten die Deutschen auf eine nukleare Option zurückgreifen können? Und zumindest im Hinblick auf konventionelle Kriegführung sah Einstein, dass die NS-Diktatur nur durch militärische Gewalt zu besiegen war, nachdem die deutsche Bevölkerung ihr aus Angst oder Verblendung die Treue hielt. Gelegentlich zitieren Broschüren der Friedensbewegung Gandhis Ausspruch, es gebe keinen Weg zum Frieden, Friede sei der Weg. Doch war das reale Verhältnis zur Frage der Gewalt unter pazifistisch Gesinnten notwendigerweise ambivalenter.

Bürgerlicher Pazifismus

Mit dem politischen Aufstieg des Bürgertums in der Neuzeit verband sich, wie ideologisch aufgeladen auch immer, die Idee einer inneren Befriedung und Zivilisierung der Gesellschaft. Aufklärungstypisch wurde der Bildung die Veredelung der Menschheit anvertraut. Doch glaubte man auch stärkere gesellschaftliche Mächte im Rücken zu haben. Die Verkehrsform aufgeklärter Citoyens war der Vertrag, für dessen Erfüllung das staatliche Gewaltmonopol als Garant gerade stand. Sein Eingreifen würde aber lediglich in letzter Instanz nötig, da die sich ausbreitenden Marktverhältnisse, wie es etwa Adam Smith lehrte, zum wechselseitigen Nutzen wirken. Im Kontrast dazu stand die außenpolitische Räson, nach der sich jede Nation als höchster Souverän von ihrem 'sacro egoismo' leiten ließ und gemäß freier Kalkulation zum Mittel des Krieges greifen konnte. Für Friedenskämpferinnen wie Bertha von Suttner war das ein schwer auszuhaltender Widerspruch: Auch im zwischenstaatlichen Verkehr sollte der Geist vertraglich abgesicherter Zusammenarbeit das Recht des Stärkeren ersetzen. War dies im Inneren, so musste es auch im Äußeren möglich sein. Ein Recht zur militärischen Selbstverteidigung freilich wollten auch die prominenten Figuren des bürgerlichen Pazifismus nicht ganz in den Wind schießen. Und Modelle eines weltumspannenden Staatenbundes konnten ebenso wenig auf eine letzte Erzwingungsmacht verzichten, falls ein Mitgliedsstaat vom Pfad der Völkerfreundschaft abwich.

Sozialistischer Pazifismus

Mit der von Marx gegründeten Internationale trat am Ende des 19. Jahrhunderts ein Pazifismus ganz entgegengesetzter Art auf den Plan. Bürgerliche Versprechungen auf eine Befriedung durch Handel sah man im doppelten Sinne als Ideologie an: Das Paradies der Vertragsfreiheit im Inneren entpuppe sich als Fassade für unversöhnliche Klassenverhältnisse. Und im Außenverhältnis verkörperte der Krieg um Hegemonie und kolonialen Zugriff die Konsequenz eines aus kapitalistischen Nationalstaaten bestehenden Weltmarkts. Mit der Weltrevolution, so lehrte es Marx, fielen die Gegensätze im Inneren der Staaten und zwischen ihnen; erst die vergesellschaftete Ökonomie ermöglichte den Weltfrieden. Einstweilen proklamierte die Internationale den Generalstreik in allen kriegsbereiten Nationen, und wenn die zum größten Teil aus Lohnabhängigen bestehenden Armeen zum Bajonett griffen, dann nur, um es gegen die eigenen Offiziere zu richten. Würde ein großer imperialistischer Krieg ausbrechen, so wäre der Übergang zum Weltbürgerkrieg nicht fern. Und dieser musste im Zweifelsfall mit jener militärischen Gewalt geführt werden, die für eine letzte Schlacht nun einmal geboten war.

Revolutionäre Militanz?

Auch die pazifistische Linke stand der Gewaltfrage also durchaus differenziert gegenüber; eine Totalabsage im Sinne Gandhis vertraten nur die wenigsten. Schon die Sozialdemokratie hatte zum Ende des 19. Jahrhunderts den spätfeudalen Söldnertruppen das Volksheer entgegengesetzt, bei dem die proletarische Klassenzugehörigkeit des Fußvolks als natürliche Barriere gegen die Anordnung imperialistischer 'Militäroperationen' wirken sollte. Unterschätzt hatte man, wie effektiv nationalistische Indoktrination ein mögliches Klassenbewusstsein überschreiben konnte. Im Ersten Weltkrieg radikalisierte sich linke Agitation mit der Forderung nach Soldatenräten sowie der Einsetzung eines neuen Offizierskorps von revolutionärer Gesinnung. Dem nationalistisch und religiös überhöhten Kadavergehorsam wurde der Kampf angesagt.

Die Formierung der Roten Armee im Bürgerkrieg 1918 war dafür der historische Prototyp. Aus der Perspektive linker Revolutionsromantik wuchsen ihr allerdings mythische Züge an. Mit einem lange überfälligen Fußtritt wurden kriegslüsterne Popen und nationalistische Hetzer aus der Truppe verabschiedet, die Stunde der sozialistische Politkommissare schlug. In der schmutzigen Realität griff der militärische Organisator, Trotzki, nachdem die demokratische Wahl von Offizieren eher zum Chaos geführt hatte, auf das bewährte Führungspersonal der zaristischen Armee zurück, darunter auch den legendären General Brusilow, weil zum Sieg dann doch das Kriegshandwerk gehörte.

Als die Russische Revolution durch den Stalinismus an Glanz verlor, konnte man sich immerhin noch auf die Milizen des Spanischen Bürgerkrieges berufen, allen voran die anarchistische CNT mit ihren Ansätzen einer emanzipatorischen Militärkultur – falls das nicht ein Widerspruch in sich ist - , zu denen die gleichberechtigte Beteiligung von Kämpferinnen gehörte. Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger schwärmten in den Sechzigern vom 'kurzen Sommer der Anarchie'. Und mit der kubanischen Revolution 1959 gab es neuen Stoff für Projektionen. Wer hatte schon Che Guevaras Kriegstagebuch so genau gelesen, dass er auch Stellen wie jene kannte, in der die bärtige Lichtgestalt sich der Armbanduhr eines ,Verräters‘, mit dem er vorher kurzen Prozess gemacht hatte, als Beute bemächtigt.

Disparate Traditionen

Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik vereinigte jedenfalls disparate Traditionen in sich. Mit dem Kalten Krieg rückte die Gefahr atomarer Vernichtung in den Mittelpunkt. In der an beide Blöcke gerichteten Warnung vor der Unkontrollierbarkeit der Technologie lebte ein Stück weit die bürgerliche Hoffnung auf Eindämmung der Kriege durch Vernunft und Verträge auf beiden Seiten nach. Die Bewegung gegen den Atomtod der Fünfziger Jahre wiederum wurde nicht unwesentlich durch KPD-Mitglieder geprägt, deren Pazifismus in den Dienst stalinistischer Politik getreten war: Während man Militarismus und Kriegshetze nur im Westen am Werk sah, dienten Militäreinsätze der Sowjetunion stets dem Frieden, ob es sich 1956 um sowjetische Panzer in Ungarn oder später in Prag handelte. Was ursprünglich Agitation für den Generalstreik in allen kriegsbereiten Ländern gewesen war, hatte die pervertierte Form einer Parteilichkeit für den Ostblock angenommen. Aus dieser Strömung rekrutierten sich auch viele derjenigen, die später, nach der Wende, russische Großmachtpolitik mit der Wahrung legitimer Sicherheitsinteressen verwechselten. Sie konnten sich psychologisch nicht von dem Gedanken trennen, dass Putin dann doch irgendwie ein, wenngleich verzerrter, Wiedergänger sowjetischer Friedensmacht sein musste.

Historische Differenzen

In Frankreich und Italien steht der Partisanenkampf für eine Verbindung von Antifaschismus und nationaler Befreiung. Kleine Länder im Einzugsbereich von hegemonialen Konflikten haben sich, wie glorifiziert auch immer, ein Bewusstsein für den Notfall bewaffneter Verteidigung bewahrt. In deutschen Ohren klingt es irritierend, wenn die Vorsitzende der finnischen Linksjugend, Pinja Vuorinen, zugleich Offizierin der Reserve ist und vehement gegen den russischen Einmarsch protestiert. Oder wenn Vertreterinnen der polnischen Linkspartei Razem wie Zofia Malisz und Magda Milenkovska amerikanischen und russischen Imperialismus gleichermaßen kritisieren und eine europäische Verteidigungsmacht als Gegengewicht favorisieren.

Deutsche Besonderheiten

Die Bundeswehr entstand als Kind von Adenauers Restauration: Mit der faschistischen Ahnenreihe, der Wehrmacht des Vernichtungskrieges, wurde kaum gebrochen. Im Kalten Krieg war die Truppe Teil einer verhärteten Blockkonfrontation. Das führte dazu, dass nach 1968 für Generationen junger Männer mit ansatzweise kritischer Gesinnung die Verweigerung eine absolute Selbstverständlichkeit darstellte. Manche glaubten, Friedenspädagogik und Konfliktlösung würden militärische Gewalt ganz überflüssig machen. Diese notorische Abwendung von allem Militärischen wurde durch die Herausbildung rechter Strukturen in der Armee nach Abschaffung der Wehrpflicht noch bestärkt. Jetzt, angesichts der vermeintlichen Rückkehr des Krieges nach Europa – er war ja nie weg – neigen viele zu deutscher Rigorosität und Überkompensation: Selbsternannte Feldmarschälle wüssten schon, wie sie 'den Russen' im Felde Paroli bieten würden. Andere fordern von der Ukraine Deeskalation durch Selbstaufgabe und glauben, autoritäre Großmachtprojekte wären allein durch Verhandlungsbereitschaft zu stoppen – als ob nicht in der Welt der Nationalstaaten die eigene Verhandlungsmacht in letzter Instanz auch auf der Fähigkeit zur Abschreckung beruht. 