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Europas nationalistischer Kern

Anmerkungen zur neuen Strategie der SPD

All diejenigen, die sich über das Aufkommen nationalistischer Strömungen in Europa wundern, übersehen, dass das europäische Projekt nationalen und imperialen Kalkulationen überhaupt erst entsprungen ist.

„Das Vordringen nationalistischer Emotionen, welches wir derzeit erleben, ist nicht der Beginn, sondern das Ergebnis von 30 Jahren falscher Narrative. Am Anfang stehen rein nationale Erzählungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und das auch ganz besonders in unserem Land. Dabei lautet die Wahrheit, dass unser Land der große Profiteur, ja der Nettogewinner der Europäischen Union ist.“

Ein interessanter Satz, den Sigmar Gabriel im März 2017 auf einer Podiumsdiskussion mit dem damaligen Kandidaten und heutigen Präsidenten Emmanuel Macron fallen ließ. Eigentlich kommt er einem Eingeständnis gleich, doch daraus macht Gabriel selbst keinen Hehl. Denn an anderer Stelle im Gespräch räumt er ein, auch seine eigene Partei habe in der Vergangenheit kräftig an derlei nationalen Mythen mitgestrickt: Beispielhaft am Argument des Nettozahlers; da wurden 12 Mrd. deutsche EU-Beiträge aus dem Hut gezogen, denen kein entsprechender Rückfluss an EU-Leistungen gegenüberstand – und schon war Europa als vermeintliches „Verlustgeschäft“ enttarnt. Stellt man die Zahl in einen Kontext, was jene Wahlpropaganda absichtsvoll vermied, so betrug der deutsche Rüstungsetat im Jahr 2015 etwa 32 Mrd., der Bundeshaushalt insgesamt ca. 300 Mrd. Euro.

Dennoch, wenn Gabriel sich jetzt in die Pose des Neuerers wirft, der mit nationalistischen Narrativen bricht, so widerlegt sich das durch seine eigenen Ausführungen selbst. Für Europa soll nunmehr sprechen, dass Deutschland „der große Profiteur“ ist, sich also erfolgreich an den anderen Nationen bereichert hat. Am Ende wird also nur eine nationale „Erzählung“ durch eine andere ersetzt. In beiden steht die Zustimmung zu Europa unter dem Vorbehalt eines Nutzens für die Nation. Doch wer ist jenes „Wir“, das profitiert haben soll? Sind es die deutschen Banken und exportorientierten Industrieunternehmen, denen sich der Binnenmarkt als Expansionsraum erschlossen hat? Sind es jene Menschen, die dank der Agenda 2010 pauperisiert wurden, im Dienste stabiler Staatsfinanzen? So viele Fragen.

Europa als imperiales Projekt

Was die nationalistische Verblendung der Öffentlichkeit betrifft, so muss auch die politische Bildung in Deutschland sich einer gewissen Selbstkritik unterziehen. Da gibt es rührende Berichte in Geschichtsbüchern, wonach seit Karl dem Großen eine europäische „Idee“ durch die Geschichte geisterte, die leider erst 1200 Jahre später, nach dem Zweiten Weltkrieg von kriegsmüden „Völkern“ verstanden worden sei. Indessen stand die angeblich aufgekeimte Friedenssehnsucht nicht im Widerspruch dazu, Kriege zu führen oder zu unterstützen, wenn sie außerhalb des Bündnisgebietes statt fanden: In Algerien, Vietnam, den Falklands oder überall dort, wohin erfolgreich europäische Waffen verkauft wurden.

Schon die Gründung Europas stand in imperialem Kontext. Dem Aufstieg der neuen Supermächte entsprach ein signifikanter Machtverlust der vormaligen europäischen Großmächte. Deren Zusammenschluss entsprang also der Einsicht, dass sie - insbesondere Frankreich und Deutschland - mit je eigenen Ambitionen auf internationale Mitsprache keine Chance mehr angesichts des uneinholbaren ökonomischen und rüstungspolitischen Vorsprungs der USA bzw. UdSSR hatten. Um in der bipolaren Weltordnung Einfluss zu wahren, mussten die hegemonialen Kriegszüge der europäischen Mächte – wie sie seit dem 19. Jahrhundert einschlägig gewesen waren – suspendiert werden. Gerüstet wurde trotzdem kräftig, eben gegen den Osten. Der Rüstungsbeitrag zu jener Politik, die in ihrer Endphase unter Reagan als 'Totrüsten' der Sowjetunion betitelt wurde, war ja ein Ticket für weitere Teilhabe an Weltmacht. Soviel zur Frage des europäischen Pazifismus.

Europa als Projekt ökonomischer Konkurrenz

Einen Binnenmarkt zu errichten, ist per se noch kein friedensförderndes Ziel. Ökonomisch führende und industriell produktiven Mächte haben ein Interesse an Freihandel, sofern und solange wie dieser auswärtiges Geschäft für die eigenen Kapitale erschließt. In diesem Sinne legten die USA mit der Einführung des Dollar als Leitwährung und der Gründung der Weltbank in Bretton Woods 1944 den Grundstein für eine globale Freihandelsordnung, im Vertrauen auf ihre überlegene Konkurrenzfähigkeit. Schwächere Branchen wurden in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr durch Zölle geschützt, sondern geopfert, wenn die Gesamtbilanz im Außenhandel positiv ausfiel. Auf europäischer Ebene reproduzierte der Binnenmarkt dieses Verhältnis, hier war es Deutschland, das – in Gabriels Worten – zum Profiteur aufstieg. Der Weltkrieg hatte seine industrielle Produktivität weniger beschädigt, als es zu erwarten war, der Marshallplan und die Arbeitsbereitschaft einer ausgebombten Generation Lohnabhängiger taten das Ihre. Und für die kleineren europäischen Nationen bedeutete der Anschluss an Europa oftmals überhaupt erst die Initialisierung industrieller Prozesse und den Zugang zu Kapital, auch wenn dieses aus dem Ausland kam. Aufbauend auf die starken Währungen der Führungsnationen wurde eine europäische Verschuldungsfähigkeit geschaffen, an der sich – zunächst – alle bedienen konnten, auch schwächere Nationen wie Griechenland oder Portugal. Das war aufgrund der erhofften wachstumsfördernden Wirkung auch bei den reichen Mitgliedsländern erwünscht. Kurzzeitig schien fast etwas aufzukommen, was im Jargon des Durchblickers „Win-Win-Situation“ genannt wird.

Die Krise in Europa

Jede Spekulationswelle zeitigt Verluste, die solange niemanden interessieren, wie das Geschäft insgesamt gut läuft, d.h. weiterhin Kapital angezogen wird. Das änderte sich mit der Krise des Euro ab 2008. Es waren nicht portugiesische Bauern oder griechische Seeleute, die zum Kollaps des Bankwesens geführt haben; das haben die Banken durch Entwicklung neuer Spekulationsformen ganz allein geschafft; im Dienste der Vermehrung von Kapitalmassen, die sich industriell zunehmend schlechter verwerten ließen. Der Rest ist Geschichte: In große Aufkäufen retteten die Nationalbanken das Kreditsystem, durch Ausweitung ihrer Euro-Ausgabe. Daraufhin geriet die Stabilität des Euro ins Visier der Finanzmärkte, die sich an den schwächsten Gliedern in der Kette festbissen und dem Staatskredit von Ländern wie Griechenland das Etikett „wertlos“ anhefteten.

Die seitdem von Deutschland durchgesetzte Austeritätspolitik schiebt die Verantwortung für die fällige Entwertung den Verliererländern zu und lässt deren Bevölkerung bluten. Mit einem europäischen Finanzminister und deutschen Präsidenten der EZB soll das Prinzip des Kaputtkürzens bei den Verlierern als bindende Finanzordnung institutionalisiert werden.

Die Wende?

Was uns wieder zu Gabriel führt. Der hat anscheinend erkannt, dass ein solches Vorgehen Europa politisch spaltet. Ein Stück weit sollen Deutschland und Frankreich die Mithaftung für die Auswirkungen der Krise übernehmen und durch gesamteuropäische Investitionen Wachstum in den Krisenländern anstoßen, Jugendarbeitslosigkeit senken u.ä., um der Unzufriedenheit mit der EU entgegen zu wirken. In diesen Kontext gehört auch Gabriels neuer Wahlkampfschlager von seiner Männerfreundschaft mit Macron sowie seiner selbstkritisch vorgetragenen Bereitschaft zur Senkung deutscher Handelsüberschüsse. So, bei Strafe seines Untergangs, kommt Europa möglicherweise doch noch zu einer Art von Länderfinanzausgleich und gemeinsamer Daseinsvorsorge. Wenngleich nur als alternative Methode zu Schäubles „schwäbischer Hausfrau“, gerichtet auf dasselbe Ziel: Die deutsch-französische Suprematie zu sichern.