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Es geht um ein mittelfristiges Konzept

Interview mit Marc Millies (Bremer Flüchtlingsrat)

BLZ: Seit dem Sommer steigen die Flüchtlingszahlen sehr stark an. Was sind die Ursachen?

Marc Millies: Es gibt sicher viele Faktoren, die zusammenkommen. Zum einen ist ja durch das UNO-Flüchtlingskommissariat öffentlich bekannt geworden, dass in den Anrainerländern Syriens die Versorgung der Flüchtlingslager schwach wurde bzw. ganz ausgefallen ist, weil die sieben Milliarden, die die Weltgemeinschaft zahlen müsste, offen sind. Das bedeutet, dass die Menschen dort nicht mehr ernährt werden können und aus Existenzgründen die Lager verlassen haben. Zum anderen finden die Auseinandersetzungen in Syrien jetzt in einer neuen Dimension statt. Außerdem steigt zum Herbst ohnehin die Zahl der Flüchtlinge, weil die Routen zum Jahresende schlechter passierbar werden.

Gleichzeitig ist festzustellen, dass sich die Zusammensetzung der Menschen verändert hat. Im Sommer waren die Zahlen aus dem West-Balkan sehr hoch, im Moment kommen aus diesen sechs Staaten nur noch etwa 10%.

BLZ: Wie beurteilen die Flüchtlingsräte die Politik der Bundesregierung?

Marc Millies: Wir haben die schwerwiegendste Veränderung des Asylrechts der letzten 20 Jahre. Hinzu kommt, dass es schon im letzten Herbst Entscheidungen zum Thema "Sichere Herkunftsländer" gab. In diesem Sommer wurden Veränderungen in Bezug auf die Inhaftierung von Flüchtenden vorgenommen - bei Ablehnung und als Prävention gegen das sog. Untertauchen. Jetzt wurde die Liste der "Sicheren Herkunftsländer" ausgeweitet. Und die Bestimmungen für die Unterbringung wurden generell per Gesetz verschlechtert. Es sind jetzt sechs Monate in den Erstaufnahmeeinrichtungen zulässig - und das sind bei uns in Bremen ja hauptsächlich Zelte. Und es ist möglich, dort nur Sachleistungen zur Verfügung zu stellen: Das sog. Taschengeld, bei dem es sich um das kulturelle Existenzminimum handelt, muss danach nicht mehr ausgezahlt werden. Glücklicherweise sagen die ersten Stimmen aus Bremen, man werde sich daran nicht halten, weil das ein Rückschritt wäre und die Bürokratisierung steigen würde. Wir hoffen, dass das stimmt. Alles andere wäre tatsächlich unakzeptabel und nicht nachvollziehbar. Das schlimmste ist aber das „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“, das vorsieht, dass Menschen aus den „Sicheren Herkunftsländern“ schneller abgeschoben werden und in "Clustern", d.h. in Sonderlagern untergebracht werden können - Bayern hat es vorgemacht.

BLZ: Was spricht aus Sicht der Flüchtlingsräte gegen diese Definition  der Westbalkan-Länder als "Sichere Herkunftsländer"?

 

Marc Millies: Zum einen ist es schon verdächtig, wenn man eine Gruppe von Ländern mit einem deutschen Gesetz für "sicher" erklärt. Die Situation der Menschen dort wurde nicht im Detail angesehen. Wir sind in verschiedenen dieser Länder als Recherche - Gruppe unterwegs gewesen, zuletzt in Mazedonien, und haben vor Ort mit Menschenrechtsorganisationen gesprochen. Sie belegen organisierte Diskriminierung von Angehörigen von Minderheiten. Die Hauptgruppe waren in diesem Falle Roma. Am Beispiel des Kosovo wird die Kritik besonders deutlich: Dort sind KFOR-Soldaten - darunter Hunderte von deutschen - anwesend, die für Sicherheit sorgen sollen. Diese Militärpräsenz widerspricht der Definition eines "Sicheren Herkunftslandes". In einem Gutachten des Rechtsprofessors Norman Paech wird das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz als verfassungswidrig eingeschätzt. Wir kennen viele Einzelfälle aus diesen Ländern, die nicht zu berücksichtigen fahrlässig wäre.

BLZ: Bremen ist als Großstadt einer der Haupt-Anlaufpunkte von Flüchtlingen, gerade auch von unbegleiteten Minderjährigen. Wie sind die politisch Verantwortlichen bisher damit umgegangen und welche Forderungen hat der Flüchtlingsrat?

Marc Millies: Maßgeblich sind für uns menschenwürdige Unterbringung und der Zugang zu einer Integrationsstruktur - sprich der Zugang zu Teilhabe. Wir haben uns in den Jahren 2011 bis 2013 erfolgreich dafür eingesetzt, dass das Recht auf eine private Wohnung nach drei Monaten ermöglicht wird. Im vergangenen Jahr und bis Mitte dieses Jahres konnten jeweils 1000 Menschen in Privatwohnungen ziehen. Zu bemängeln ist, dass auf der Basis dieser Erfolge keine Entscheidungen getroffen wurden, die in Zukunft ein Leben nach dem Zelt ermöglichen. Sprich: Es geht um den Wohnungsbau. Und dieses Thema betrifft nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch Studierende, Rentner und alle Menschen, die nicht viel Geld zur Verfügung haben. Dieser Schritt bleibt aus und das hat zur Folge, dass wir jeden Monat diskutieren, welches Zelt und welche Turnhalle angemessen ist oder nicht. Wir halten diese Unterbringung nicht für menschenwürdig, insbesondere nicht für Kinder und Jugendliche. Dafür gibt es klare Regelungen für die Unterbringung, und es gibt verschiedene Konventionen, u.a. die Kinderrechtskonvention, die die besondere Schutzbedürftigkeit dieser Gruppe festschreiben. Es ist unverständlich, dass die Landesjugendbehörde die gegenwärtigen Zustände toleriert. Es sind Betreuungsschlüssel vorgegeben, es ist der Zugang zur Schule vorgegeben, und all dies ist nicht gewährleistet. Dieser Zustand ist für uns nicht akzeptabel.

BLZ: Was müsste passieren?

Marc Millies: Wir hören immer wieder, dass es zum einen zu wenige Träger gibt, zum anderen zu wenige Einrichtungen, die sich herrichten ließen, und dass es zu wenig Fachkräfte gibt. Aber statt dieses immer zu wiederholen, müssten Qualifizierungsmaßnahmen stattfinden, müssten die Rahmenbedingungen für die Träger verbessert werden, sodass eine adäquate Betreuung möglich wird. Und es muss Neubauten geben. Es geht um ein mittelfristiges Konzept, nicht auf sechs Monate, sondern auf sechs Jahre.

BLZ: Was ist von einer Zentralisierung der Vorkurse für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu halten, wie dies in der Bildungsdeputation als Überlegung angekündigt wurde?

Marc Millies: Aus bürokratischer Sicht erscheint eine Zentralisierung vermeintlich einfacher und effektiver. Aber hier handelt es sich um Menschen in außergewöhnlichen individuellen Situationen, und dem kann man nur Rechnung tragen, wenn man Zeit und Raum dafür hat. Das kann man in zentralen Einrichtungen nicht. Das geht nur in kleinen Gruppen.

BLZ: Wie verläuft die Verteilung der Flüchtlinge auf die verschiedenen Stadtteile?

Marc Millies: In manchen Stadtteile wird kritisiert, dass dort vermeintlich zu viele Flüchtlinge ankommen und sie zu große Integrationsaufgaben zu bewältigen hätten. Dazu grundsätzlich: Die Stadtteile sind sehr unterschiedlich und bieten unterschiedliche Vor- und Nachteile. Ein Stadtteil mit guter Infrastruktur ist immer auch attraktiver, andere Stadtteile haben eine gewisse BewohnerInnen- und auch Mitpreis- Struktur, die Personengruppen leicht ausgrenzt. Wichtig ist, darauf zu schauen, dass es auch da zu keiner Zentralisierung kommt und dass die neuen BremerInnen die Möglichkeit haben, in der Nachbarschaft anzukommen, dass sie Teilhabe-Möglichkeiten haben. Das ist in einigen Stadtteilen leichter möglich als in anderen. Das heißt aber nicht, dass diese Möglichkeiten in diesen Stadtteilen nicht geschaffen werden könnten. Wir merken an dem vielen Zuspruch und dem Interesse, an den Fragen vieler Menschen, wie sie helfen können, dass es schon eine Kreis gibt, der sich interessiert. Der Kontakt kann über das Ortsamt gehen, über die Kirchengemeinde, über den Sportverein oder über die Schule. Räume für Begegnungen zu schaffen ist nicht nur ein Flüchtlingsthema, sondern betrifft alle im Stadtteil.

BLZ: Wir rechnen bei bis zu 4000 Kindern und Jugendlichen in den Schulen mit ca. 10 Mio. zusätzlichen Kosten für die 250 Vorkurse und mindestens 25 Mio. Mehrbedarf für die Integration in den regulären Unterricht.

Marc Millies: Wir fordern, dass der Bund stärker an der Finanzierung beteiligt wird. Wir halten eine Praxis für perfide, die stärkere Bundesförderung quasi als "Belohnung" für die Zustimmung der Länder zu einer stärkeren Abschottungspolitik einsetzt. Jetzt sind schon Afghanistan und die Türkei in der Diskussion über die Ausweitung der "Sicheren Herkunftsländer". Das wäre eine fatale Entwicklung. Der Bund muss seine Aufgaben bei der Integration erfüllen. Insbesondere auch in der Wohnungsbaupolitik.

BLZ: Was wären die langfristigen gesetzlichen Alternativen? Wie steht der Flüchtlingsrat  zu der Forderung nach einem Einwanderungsgesetz?

Marc Millies: Wir sind auf jeden Fall dafür, dass es legale Zugangswege geben muss. Dazu könnte ein Einwanderungsgesetz ein Baustein sein, nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum Asylrecht. Botschaften und Konsulate müssen neue Aufgaben übernehmen. Der demographische Wandel hält an und Deutschland muss im Zeitalter der Globalisierung junge Menschen aufnehmen und integrieren. Davon können alle generationsübergreifend profitieren.

BLZ: Vielen Dank für, das Interview.

Die Fragen stellte Jürgen Burger