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Kernfragen der GEW Teil 5

Erwerb von Bewusstsein

Die GEW als Bildungsgewerkschaft

Schon der Name „Die Bildungsgewerkschaft“ verdeutlicht den immensen Anspruch unserer Organisation an sich selbst, denn: „Bildung eröffnet den Zugang zur Welt“ (Bildungspolitische Positionen).

Als im Jahre 1999 die Entscheidung anstand, ob die GEW eine eigenständige Gewerkschaft im DGB bleiben oder in die neue Dienstleistungsgewerkschaft ver.di aufgehen wollte, votierte der Gewerkschaftstag in Würzburg auf Selbständigkeit. Mit dem Ziel, sich als die Bildungsgewerkschaft im DGB zu profilieren, verschafften sich die zuständigen Gremien Klarheit über den eigenen Auftrag: Die GEW versteht sich seitdem als gewerkschaftliche Interessenvertretung aller (auch der ehemals) Beschäftigten im Bildungs- und Erziehungsprozess sowie in Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen. Dies bedeutete mindestens das Anstreben einer Gleichrangigkeit aller in der Satzung festgelegten Organisationsbereiche, ob nun Schule, allgemein- und berufsbildend, Hochschule und Forschung, Weiterbildung oder Jugendhilfe und Sozialarbeit. Die GEW verabschiedete sich endgültig von der Auffassung, ein Verein engagierter Lehrerinnen und Lehrer zu sein.

Der entsprechende Antrag, überschrieben naheliegender Weise mit „Die Bildungsgewerkschaft“, betonte die „enge Verzahnung der materiellen, sozialen und professionsorientierten Interessenvertretung über alle Bildungsbereiche hinweg“ und hob die „widerspruchsvolle Einheit“ von bildungs- und arbeitsplatzbezogener Interessenpolitik hervor. Dabei wird die Perspektive klar formuliert: „Das Recht auf Bildung und Ausbildung sowie Chancengleichheit für alle Menschen“ soll durchgesetzt werden (GEW 1999, Antrag 2.1, Zeile 39 ff.).

Die Begriffswahl

Der Exklusivanspruch, als die Bildungsgewerkschaft im DGB gelten zu wollen, führt, wie in jüngster Zeit geschehen, zum Widerspruch bei Schwestergewerkschaften im DGB, welcher an dieser Stelle aber nicht vertieft werden soll. Vielmehr gilt es, einige der dem Begriff „Bildung“ innewohnenden Ebenen zu betrachten, die das Agieren als Bildungsgewerkschaft leiten können. So wird das schon zitierte „Recht auf Bildung“ immer wieder postuliert. Zudem ist „Bildung“ ein ergiebiger Inhalt in den Auseinandersetzungen des politischen Alltags. Und: Was bedeutet der Begriff in seiner eigentlichen Substanz als Kategorie zur Emanzipation des Menschen für die praktische Seite gewerkschaftspolitischen Handelns? Eine präzise Antwort darauf hat ggf. erhebliche Auswirkungen auf unser Tun.

Auseinandersetzungen um das „Recht auf Bildung“

Dass der Bezug auf das „Recht auf Bildung“ im Grundsatzbeschluss von ´99 einige Brisanz beinhaltet, zeigen Auseinandersetzungen aus den ersten Jahren der GEW als Bildungsgewerkschaft. An unterstützenden Veröffentlichungen fehlte es nicht, bis hin zur richtigen Feststellung, dass das Menschenrecht auf Bildung zum sozialen und kulturellen Fundament einer lebendigen Demokratie gehöre, zu selbstbestimmter Lebensführung befähige, eine eigenständige Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen ermögliche usw. (vergl. Gustav Heinemann-Initiative u.a. 2003). Allerdings hält die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mit. Die Kritik des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Munoz, der Bundesrepublik gegenüber war eindeutig (vergl. Munoz 2006). Sie führt u.a. die durch den Föderalismus hervorgerufenen stark unterschiedlichen Bildungsausgaben in den Ländern an, stellt den Zusammenhang des sozialen Status´ mit Bildungsfortschritten her und benennt die Selektivität des Schulsystems.

Verständigung innerhalb der Bildungsgewerkschaft

Zu Beginn dieses Jahrhunderts gab die GEW in diesem Zusammenhang zwei bedeutende Papiere heraus. In einem aufwändigen Arbeits- und Abstimmungsverfahren beschloss sie 2001 ihre Schulpolitischen Positionen („Bildung braucht Zukunft“), vier Jahre später „Bildungspolitische Reformpositionen“.

In diesen Schriftstücken beruft sich die GEW auf die Tradition emanzipatorischer, demokratischer und sozialer Bewegungen, bestärkt das Bild eines verantwortungsbewussten, kreativen und politisch mündigen Menschen und zeigt Grundsätze ihres Gesellschaftsverständnisses auf, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität werden u.a. ausdrücklich genannt.

Bildung, das wurde bereits gesagt, eröffnet den Zugang zur Welt. Sie bedeutet Gestaltung des eigenen Lebens, der Umwelt und der Gesellschaft. Sie entwickelt Persönlichkeit, Identität und Orientierung und führt zu Einstellungen und Erkenntnissen. Sie besitzt emanzipatorischen Charakter, da auf ihrer Grundlage die rationale und kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität gelingt. Damit muss sie sich an alle Menschen in jeder Lebensphase richten. Soweit zur Beschlusslage.

Bildung und politischer Alltag

Wir nutzten vor einiger Zeit den Slogan: „Den Wahnsinn in die Köpfe bringen“, um auf die Missstände in den Schulen in Wort und Aktion hinzuweisen. Wir setzten Fakten und Argumente gegen das sachkenntnisfreie, dafür wortreiche und blumige Formulieren in Parlamenten und parteipolitischen Gremien zur Bildungspolitik.

Wir waren es leid. Wir haben ein Papier zur Bürgerschaftswahl 1995 wieder hervorgeholt und sind auf Absichtserklärungen der damals noch amtierenden Ampelkoalition gestoßen. Zugesagt waren eine bedarfsgerechte Lehrerversorgung mit rechtzeitigen Einstellungen, die Verbesserung der Situation in benachteiligten Stadtteilen und eine Klassenraumgarantie. Wer aktuellere Versprechen lesen möchte, möge sich die Broschüre „Zukunft Bremen 2035“ (vergl. Freie Hansestadt Bremen 2019) ansehen. Allein die darin vom Senat unterstützen Aussagen zur Bildung rechtfertigen das letzte schlechte Wahlergebnis der Partei des damaligen Bürgermeisters.

Es reicht mit der Oberflächlichkeit, wenn es um „Bildung“ geht. In einer Stellungnahme zu den Schulpolitischen Positionen lobt Klafki die Qualität dieser Ausführungen und kritisiert gleichzeitig die Dominanz „engstirniger Slogans“ im öffentlichen Diskurs (vergl. Klafki 2001, S. V). Auch wenn sich diese Einschätzung über die Jahre gehalten hat, entbindet sie uns nicht davon, an unserer Sicht festzuhalten, die den eigenen Grundsätzen verpflichtetet ist, und den Diskurs verstärkt aufzunehmen. Wie gelingt uns nun jedoch die notwendige „Tiefe“?

Wandel der gesellschaftlichen Anforderungen

Wenn wir unsere gültigen Beschlüsse von 2001 / 2005 weiterhin als Grundlage unserer Überlegungen heranziehen, so sind Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte aufzuzeigen, welche auf Bildung Einfluss nehmen oder genommen haben. „Epochale Schlüsselprobleme“ gibt es nun tatsächlich. Aber genau so wenig wie es sinnvoll ist, alle Schlüsselprobleme der Menschheit in den Unterricht einzubinden, genauso muss eine Bildungsgewerkschaft entscheiden, an welchen Inhalten sie ansetzt, statt sich in der Vielfalt der Problemlagen zu verzetteln.

Eine Auswahl der Problemstellungen deutet die Komplexität an: So ist weiterhin von einer Revolution im Bereich der Informations- und Kommunikationsmedien die Rede und in ihrer Ausgestaltung strebt die Gesellschaft der Bundesrepublik immer weiter auseinander, arm und reich, Demokratie und Rechtsradikalismus, Integration und Abschottung sind einige der Gegensätze. Ebenso dringt die Ökonomie vehementer in die Lebensbereiche der Menschen ein, die Privatisierungstendenzen im Gesundheitswesen treffen die Bevölkerung ebenso wie ökologische Risiken, Kriegsgefahren oder veränderte Formen der Erwerbsarbeit.

Dies gehört in den Diskurs: Was bedeuten diese Sachverhalte für die Bestimmung der Inhalte einer Bildungsgewerkschaft? Begründete Entscheidungen sind zu treffen. Wichtige Stichworte könnten Schuldenbremse und Entstaatlichung der Bildung sein.

Fehlentwicklungen nach PISA

In der Reflexion der vergangenen Jahre fallen allerdings auch Weichenstellungen auf, denen die GEW mit ihren Überzeugungen entschieden entgegentreten muss. Zwei Aspekte: Zum ersten wird der Doppelcharakter von Bildung, Vorbereitung auf das berufliche Leben zu sein und zur Emanzipation selbständiger Persönlichkeiten beizutragen, zunehmend unterlaufen. Gruschka (2015) spricht dahingehend von einer „Veränderung des Bildungswesens nach Maßgabe einer ökonomisch motivierten Rationalisierung und Funktionalität“ (Seite 7). Zum zweiten befördert die nach den ersten PISA-Ergebnissen mit Macht realisierte Kompetenzorientierung ein Verständnis von Bildung als „lebenslängliche Anpassung ... an die wechselnden Erfordernisse der kapitalistischen Wirtschaft“ (Bernhard 2018, S. 141). Dies gelingt, indem die behandelten Sachverhalte beliebig werden, der Bildungswert eines Gegenstandes für die nachfolgende Generation nicht bestimmt und die Inhalte somit nicht demokratisch legitimiert sind.

Diskurs über Bildung im gewerkschaftlichen Zusammenhang

Wie gesagt, der Anspruch an uns selber ist enorm. Wie nutzen wir nun die Substanz des Begriffes hinsichtlich des gewerkschaftlichen Handelns?

  • Bildung bedeutet den Erwerb von Bewusstsein. Dazu bedarf es Möglichkeiten, in denen Erkenntnis gewonnen werden kann. Vom Tarifkampf bis zum bildungspolitischen Manifest schafft die GEW wiederholt erkenntnishaltige Situationen. Wie gelingen Verallgemeinerung und Transfer?
  • Eine allgemeine Bildung zielt auf die Herausbildung von „Grundvoraussetzungen zur mündigen und selbstbestimmten Teilhabe an der Organisierung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen“ (ebenda, S. 139). Wo werden in der GEW Mündigkeit und Selbstbestimmung erprobt? Wie gelingen die kleinen Revolutionen bei sich selbst? Und wo (und wie) hintertreibt der Arbeitgeber die Heranbildung kritisch-widerständiger Menschen?
  • Der Bereich der Bildung ist umkämpft. Wie erreichen wir eine systematische Verständigung über Ziele und eine sichere Anwendung der Mittel und Verfahren der Auseinandersetzung?
  • Alle Menschen unterliegen spezifischen Sozialisationsbedingungen. Mit einiger Durchsetzungsfähigkeit wirken in der Gesellschaft vorherrschende Interessen auf diese Bedingungen ein. Wo werden in unserer Gewerkschaft diese Mechanismen reflektiert? Bedenken wir dabei den Generationenwechsel in unserer Organisation und die höchst unterschiedlichen Kampferfahrungen unserer Mitglieder?

Das Ermitteln der Substanz, wieviel Widerständigkeit unser Bildungsverständnis zu entfalten vermag, eint die pädagogische Tätigkeit im Sinne einer Erziehung der nachwachsenden Generation und das eigene gewerkschaftlich-politische Handeln. Widerstand zielt dabei nicht auf Empörung, sondern auf strukturelle Benachteiligung. Auch wenn wir wissen, dass Bildung eine permanente Anstrengung bedeutet, um „die Selbstverfügung über die eigenen Lebens- und Sozialisationserfahrungen zu gewinnen“ (ebenda, S. 142), so bestünde die Alternative darin, dass Mündigkeit und Widerstand aufgegeben werden. Dies kann keine Position einer Bildungsgewerkschaft im eigentlichen Wortsinne sein.

Literatur:

Bernhard (2018): Bildung, in: Bernhard u.a.: Handbuch Kritische Pädagogik, Weinheim, Basel
Freie Hansestadt Bremen – Der Senat (2019): Zukunft Bremen 2035. Ideen für morgen, Bremen
GEW (1999): Die Bildungsgewerkschaft, Antrag 2.1 des Bundesgewerkschaftstages in Würzburg
GEW (2001): Bildung braucht Zukunft. Schulpolitische Positionen der GEW, Frankfurt
GEW (2005): Bildungspolitische Reformpositionen, Antrag 3.1 des Bundesgewerkschaftstages in Erfurt
Gruschka (2015): Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen, Opladen, Berlin, Toronto
Gustav Heinemann-Initiative u.a. (2003): Das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Bildung (Manifest), in: Zeitschrift: Vorgänge, Heft 3​​​​​​​
Klafki (2001): Zu den schulpolitischen Positionen der GEW. Stellungnahme zum Änderungsantrag der GEW Sachsen-Anhalt
Munoz (2006): Bundespressekonferenz mit dem UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Berlin