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Stichwort Israel

Eine Okkupation, die sich nicht wegdiskutieren lässt

Antwort auf die Kritik von Werner Begoihn (ungekürzte Fassung)

Mosche Dayan, israelischer Verteidigungsminister, nach der Eroberung Ost-Jerusalems im Jahr 1967

Vorbemerkung

Erfreulich ist es, lieber Kollege Begoihn, wenn über Streitkultur nicht nur geredet, sondern diese auch praktiziert wird. Gleichwohl drängt sich mir der Eindruck auf, dass es hier weniger um die Frage gründlicher Recherche geht, als vielmehr um eine militärische Okkupation, die deiner Auffassung nach nicht so genannt werden darf. Die Streitfrage auf ein Rechercheproblem zu reduzieren, ist mir gegenüber einerseits nicht sehr nett, andererseits zu nett. Nicht sehr nett: Weil ich ja an meinen Text eine Liste von Publikationen angehängt hatte – du erwähnst keine davon. Selbst berufst du dich auf eine einzige Quelle, Wikipedia. Zu nett: Weil du implizierst, bei Kenntnisnahme der vorgeschlagenen Fakten müsse sich alles in Einigkeit auflösen. Etwas ernster ist unser Dissens schon, denn mir ist die Haltung der Arabischen Liga zu Israel und auch die Resolution 242 durchaus bekannt – ich beurteile sie nur anders als du. Ein einfacher „Faktencheck“ hilft hier nicht weiter; die Einordnung der Fakten will diskutiert sein.

Dein Unmut entzündet sich an meiner Kritik der israelischen Besatzungspolitik. Falls der Eindruck entstanden ist, ich verharmlose die Haltung der arabischen Staaten, so nutze ich die Gelegenheit zur Klarstellung: Ich stimme dir darin zu, dass diese im Allgemeinen eine destruktive Rolle gespielt haben, indem sie versuchten, den Konflikt für nationale Ziele zu instrumentalisieren – die vielbeschworene Solidarität mit den palästinensischen „Brüdern“ war selten mehr als diplomatische Heuchelei. Anderslautendes hatte ich in meinem Text zwar auch nicht behauptet – falls doch, habe ich mich jetzt erklärt. Doch zu folgern, Israel hätte die besetzten Gebiete bei veränderter arabischer Haltung schon längst zurückgegeben, halte ich für einen Fehlschluss.

Die Palästinenser gibt es nicht?

Der Kern deiner Ausführungen liegt in der Bezugnahme auf das Völkerrecht und UN-Rsolutionen. Da es einen  Staat Palästina niemals gegeben hat, die palästinensische Bevölkerung entweder unter osmanischer, jordanischer oder ägyptischer Herrschaft stand, kann sie genauso gut unter israelischer sein. Diese völkerrechtliche Interpretation ist mir natürlich bekannt, sie entspricht der offiziellen diplomatischen Sicht Israels. Politologe Jörg Rensmann vertritt sie beispielsweise in einem Aufsatz einer Broschüre der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Nun habe ich grundsätzliche Zweifel, ob ich mir meine Sicht der Realität vom Geschacher der Großmächte im Weltsicherheitsrat vorschreiben lassen will. Und doch werde ich mich zunächst einmal – zum Zweck der Wahrheitsfindung - auf deine Begeisterung für die  völkerrechtliche Bindewirkung von UN-Resolutionen einlassen.

Es stimmt, einen palästinensischen Staat gab es nie; aber einen israelischen auch nicht. Soll mit dem Teilungsplan ein jüdisches Selbstbestimmungsrecht in die Welt getreten sein, so auch eines der in Palästina lebenden Araber – beides ist im Plan statuiert. Wer sich auf ihn beruft, kann sich nicht nur die Bestimmungen heraussuchen, die ihm passen und alle anderen ignorieren. Ich weiß nicht, was Du unter Selbstbestimmung verstehst, ein Leben unter militärischer Besatzung fällt für mich jedenfalls nicht darunter.

Auf meinen Hinweis, der Mossad habe nach dem Sechstagekrieg eine Einführung palästinensischer Selbstverwaltung empfohlen, reagierst Du mit Spott. Von deinem Standpunkt folgerichtig: Was es nicht gibt, das kann sich auch nicht selbst verwalten. Ein wenig eigene Recherche (!) hätte dich freilich auf die Quelle bringen können. Es war der hochrangige Mossad-Offizier David Kimche, der damit beauftragt gewesen war, nach dem Sechstagekrieg die Stimmung unter der palästinensischen Bevölkerung zu erforschen. Die Ergebnisse fasste er in einer Denkschrift mit dem Titel „Vorschlag für eine Lösung des Palästinenserproblems“ vom 14. Juni 1967 zusammen. Die Historikerin Idith Zertal geht in ihrer Arbeit über die Siedlerbewegung auf den Text ein; Kimche hat ihr persönlich versichert, dass er an das Kabinett übermittelt worden war. Der Plan empfahl, „ein(en) unabhängigen palästinensischen Staat“ zu errichten, unter Kontrolle der israelischen Armee und durch Verhandlungen mit der „palästinensischen Führung“ (Zertal, S. 30). Eine frühe Form der Selbstverwaltung also, unterhalb staatlicher Souveränität.

Du hingegen schreibst: „Ich halte dieses Gerücht für nicht sehr plausibel, weil auch unklar ist, wer es (das Land, WP) denn hätte zurückerhalten sollen – die Ägypter und Jordanier, die ja auch (!) nur Okkupanten waren...?“. Diese Mossad-Offiziere haben sich nicht in völkerrechtlichen Spitzfindigkeiten ergangen. Ihnen war klar, was du nicht wahrhaben willst: In den besetzten Gebieten leben Menschen aus Fleisch und Blut, auch wenn sie vielleicht keinen formalen völkerrechtlichen Titel besitzen. Damit beantwortet sich deine Rätselfrage, wem man das Land zurück hätte geben können: Wie wäre es mit den Leuten, die darauf leben? Brecht lässt in den Flüchtlingsgesprächen eine Figur sagen, der Pass sei der edelste Teil des Menschen. Das scheint auch Deine Devise zu sein. Allerdings hat Brecht es ironisch gemeint...

Scheiterte die Rückgabe des Landes ausschließlich an den arabischen Staaten?

Die UN-Resolution 242, verabschiedet nach dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg, bildet einen zentralen Punkt deiner Argumentation. Und zwar in folgendem Argumentationsgang: 1. Die Resolution fordert Israel zwar zum Abzug, die arabischen Staaten aber auch zu Verhandlungen auf – Land gegen diplomatische Anerkennung. 2. Israel war bereit, über die Rückgabe zu verhandeln, die Gegenseite verweigerte sich – daher dein Hinweis auf das dreifache Nein von Khartoum. Auf ihrem dortigen Treffen nämlich hatte die Arabische Liga ihre Ablehnung von Verhandlungen drastisch klar gemacht. Konklusion: Die Verantwortung für die Besatzung liegt bei den arabischen Mächten. Ich werde nicht darauf herumreiten, dass deine Berufung auf Resolution 242 im Widerspruch zur obigen Behauptung steht, das palästinensische Gebiet sei gewissermaßen völkerrechtlich herrenlos. Der UN-Sicherheitsrat fordert Israel ja sehr wohl zum Abzug auf – warum sollte er das tun, wenn ohnehin nur ein „Okkupant“ den anderen beklaut hätte und das ursprüngliche Rechtssubjekt, namens Osmanisches Reich, untergegangen ist?

Was du komplett ausblendest, ist das Interesse der israelischen Rechten, der Nationalreligiösen und auch von Teilen der Arbeitspartei, den Sieg zu nutzen, um die Idee Groß-Israels zu verfolgen. Eine euphorische Stimmung hatte im Juni 1967 die israelische Gesellschaft erfasst. Bei der Besetzung Jerusalems verkündete Mosche Dayan, laut dem Historiker Ahron Bregman: „Wir sind zu unseren heiligsten Stätten zurückgekehrt, wir sind zurückgekehrt, um sie nie mehr zu verlassen.“ (Bregman, S. 120, Übersetzung WP). Der Oberrabbiner der Armee, Shlomo Goren, schlug IDF-General Narkiss damals vor, die Moschee auf dem Tempelberg einfach in die Luft zu sprengen, was dieser natürlich ablehnte (Bregman, S. 120). Solche Details illustrieren immerhin die nationalreligiöse Gedankenwelt. Und in dieser Zeit kamen eben auch schon Siedlungspläne auf. Dazu Idith Zertal: „Nicht einmal zehn Tage waren verstrichen seit dem Arabischen Gipfel, als Minister Yigal Allon in seiner Funktion als Koordinator von Siedlungsbelangen in den besetzten Gebieten darum bat, die Errichtung von Siedlungen in der Jordansenke und im Etzion-Block auf die Tagesordnung zu setzen.“ (Zertal, S. 33) Mittlerweile ist die Zahl der Siedelnden auf 500 000 angestiegen. Ihre völlige Rückholung war auch während des „Friedensprozesses“ nicht in Aussicht gestellt. Die besetzten Gebiete tragen verwaltungstechnisch hebräische Bezeichnungen biblischer Provenienz, es wird weiter gebaut. Der Umzug in die Siedlungen ist staatlich subventioniert, die Energieversorgung gesichert. In Hebron ist die Innenstadt für die jüdischen Siedler reserviert. Es gibt eigene Straßen, die einheimische Palästinenser nicht benutzen dürfen. Klingt das alles für dich so, als warte Israel seit Jahrzehnten nur darauf, die besetzten Gebiete zurück zu geben?

Harmlose religiöse Schwärmer?

Meine Ausführungen zur Siedlerbewegung in dem strittigen Artikel würdigst du keines Satzes. Deine eigene Aussage dazu lautet, es sei dir plausibel, wenn religiöse Menschen in der Nähe ihrer Heiligtümer leben wollten. Na gut – das ginge eventuell auch, ohne andere in der Nähe wohnende Gruppen als Fremdkörper anzusehen und die eigenen Staatsgrenzen auszuweiten. Du verfehlst das Spezifikum nationalreligiöser Gesinnung: Der Staat Israel hat den Auftrag, die Wiederkehr des Messias zu beschleunigen und das gesamte Palästina wieder dem Judentum zurückzugeben. Oder umgekehrt: Die heiligen Stätten sind Symbole der nationalen Einheit. Nationaler und religiöser Fanatismus gehen eine eigentümliche Symbiose ein. Ironischerweise hat sich dieser Messianismus, folgt man Carlo Strenger, erst mit dem Sechstagekrieg herauskristallisiert, wurzelt nicht etwa in jüdischer Mystik, speist sich vielmehr aus europäischen Quellen einer romantisch-irrationalen Volksgeist-Idee. Strenger resümiert: „Den messianischen Eiferern gelang es geschickt, die Angst der Israelis, die Grenzen Israels könnten zu unsicher sein, für sich zu nutzen und zum Motor der ungehemmten Siedlungspolitik im Westjordanland zu machen...“ (Strenger, S. 66). Die Besiedelung militärisch besetzten Landes durch Bürger und Bürgerinnen der Besatzungsmacht stellt einen schweren Verstoß gegen die UN-Konvention dar. Erwähnt wird dies u.a. – für Freunde des Völkerrechts wie dich – in Resolution 446 des UN-Sicherheitsrates von 1979 oder Resolution 2334 von 2016.

„Überfall statt Staatsgründungskrieg“

Den inkriminierten Begriff verwenden israelische Autoren wie etwa Carlo Strenger:  'Unabhängigkeits- und Staatsgründungskrieg“ (Strenger, S. 91). Der Historiker Benny Morris erwähnt mehrere in Israel gängige Bezeichnungen, darunter 'War of Establishment (milhemet  hakomemiut)', was ich mit Gründungskrieg übersetzen würde. Deine Entgegensetzung der Begriffe suggeriert, dass diese sich logisch ausschließen: Wenn es ein Überfall war, könne es kein Staatsgründungskrieg gewesen sein – logisch ist das jedoch nicht.

Jenseits sprachlicher Konventionen hat der Begriff durchaus substantielle Bedeutung. Denn mit der Abstimmung über den UN-Teilungsplan in der Generalversammlung war Israel noch keineswegs gegründet. Zu vollständiger völkerrechtlicher Legitimität hätte die Umsetzung des Plans durch den Sicherheitsrat gehört. Den darin versammelten Großmächten waren jedoch Zweifel gekommen. Bei Umsetzung der entsprechenden Regeln waren Konflikte vorprogrammiert: So hätte der jüdische Staat 55% des Gebiets umfasst, während der jüdische Bevölkerungsanteil nur etwa ein Drittel betrug. Sofort nach der Abstimmung brachen in Palästina bürgerkriegsartige Spannungen aus. Der Sicherheitsrat versuchte, einen Vermittlungsprozess in Gang zu setzen, eventuell wären Regelungen noch einmal verändert worden. Die Ausrufung der Unabhängigkeit durch Ben Gurion war denn auch ein einseitiger Akt, vollzogen, ohne dass man auf den Abschluss des UN-Prozesses gewartet hätte, der dir doch so am Herzen liegt. Sie wurde auch deshalb so schnell nach dem Abzug der Briten lanciert, um unerwünschten Vermittlungsversuchen durch die UN zuvor zu kommen. Der später als Vermittler geschickte Graf Bernadotte starb im September 1948 im Kugelhagel der rechtszionistischen Lechi-Gruppe. Ben-Gurion distanzierte sich, die Attentäter wurden später amnestiert.

Ein 'überraschender' Überfall?

Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung im Mai 1948 hatte die zionistische Haganah (bzw. neugegründete Armee) den Kampf gegen die palästinensischen Freischärler bereits fast gewonnen, was sich an einer ersten Fluchtwelle ablesen lässt. Die Ereignisse werden übrigens von Morris akribisch behandelt. „The Birth of the Palestine Refugee Problem“ ist ein Standardwerk zu diesem Thema.

Die Bezeichnung 'Überfall' trifft insoweit, als die unmittelbaren Kampfhandlungen von den arabischen Armeen ausgingen, ist jedoch in anderer Hinsicht irreführend: Überraschend kam die Intervention einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung wahrlich nicht. Führer der arabischen Staaten hatten wiederholt martialische Drohungen für den Fall einer jüdischen Staatsgründung losgelassen. Wie Morris schreibt, „wusste die Haganah, die wirkliche Herausforderung waren nicht die Palästinenser sondern die Armeen der umliegenden Staaten“ (Morris, Palestine, S. 784, Übersetzung WP). Doch nach zwei Monaten der Defensive bekamen die israelischen Streitkräfte im Juli 1984 die Oberhand.

Eroberungen

Der Sieg schloss Eroberungen ein: Gebiete, die nach dem Teilungsplan arabisch hätten werden sollen, gehörten nun zu Eretz Israel. Jerusalem stand nicht unter internationaler Verwaltung, sondern wurde unter Jordanien und Israel geteilt. Übrigens erwähnst du nur die jordanische Annexion des Ost-Teils von Jerusalem 1948, gehst indes nicht darauf ein, dass Israel 1967 genau das Gleiche getan hat. Zynisch ist es für dich anscheinend nur, wenn ein arabischer Staat gegen den Geist des Teilungsplans verstößt. Auch Jaffa wurde keine arabische Exklave – die es laut UN hätte werden sollen - ,sondern von Israel erobert. Vor allem aber: Durch die Flucht von 700 000 Menschen palästinensischer Herkunft erwarb Israel eine klare jüdische Bevölkerungsmehrheit, während es nach dem Willen des Teilungsplans noch ca. 500 000 hätte beherbergen müssen. Festgeschrieben als neuer Status Quo durch das Gesetz, welches die Rückkehr der Geflüchteten für immer verbot und ihren Besitz an den jüdischen Staat transferierte. Etliche menschenleere Dörfer wurden abgerissen; auf ihnen wurden jüdische Siedlungen mit neuen hebräischen Namen errichtet.

Nicht im Teilungsplan lag die wahre Staatsgründung, auch nicht in der Unabhängigkeitserklärung. Der Staat Israel in seiner heutigen Gestalt wurde in diesem Krieg gegründet. Und als seine zweite Geburt bezeichnet Historiker Tom Segev den Sechstagekrieg 1967 – womit wir wieder beim Thema wären. Die damals eroberten Gebiete einschließlich der darauf lebenden Menschen begründen – egal, welcher völkerrechtliche Status ihnen durch politische Händel aufoktroyiert wird – die unfriedliche Gegenwart. Diese Okkupation lässt sich nicht wegdiskutieren.

Mit kollegialen Grüßen,
Werner Pfau

Quellen:

  • Bregman, Ahron: A History of Israel. Hampshire/New York, 2003.
  • Morris, Benny: The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited. Cambridge, Second Edition 2004. Zitiert nach der e-Book Ausgabe.
  • Strenger, Carlo: Israel. Einführung in ein schwieriges Land. 5. Auflage. Berlin, 2015.
  • Zertal, Idith/Eldar, Akiva: Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967. München, 2007.