Schulreform
Eine Oberstufe für alle?
Die Profiloberstufe der Max-Brauer-Schule in Hamburg
Unsere aktuellen Debatten über die Gemeinschaftsschule als Bremer Weg zu einer Schule für alle sind richtig und wichtig. Aber auch die Oberstufen müssen sich verändern, wenn sie unseren pädagogischen Idealen und den Bedürfnissen der Schüler:innen gerecht werden sollen. Viele Veränderungen wie die Einführung eines additiven Abiturs scheitern dabei am Willen der KMK. Gleichzeitig demonstrieren Schulen wie die Max-Brauer-Schule (MBS) in Hamburg, welche Spielräume innerhalb bestehender Regularien existieren. Ob es sich hierbei um ein Modell mit Vorbildcharakter handelt oder ob zu viele Kompromisse eingegangen werden müssen – dieser Frage bin ich kürzlich in einer Hospitationswoche nachgegangen.
Herzstück der Oberstufe sind Profile
Die MBS ist bekannt für inklusives, individualisiertes, fächerübergreifendes und interessengeleitetes Lernen, das in Lernbüros, Projektunterricht und Werkstätten seinen Ausdruck findet. Sie ist eine Stadtteilschule mit Vor- und Grundschule sowie gymnasialer Oberstufe und deckt somit die Klassenstufen 1-13 ab. Herzstück der Oberstufe sind die Profile, zwischen denen die Schüler:innen beim Eingang in diese wählen können: „Mensch in Gesellschaft“, „Sprache und Kultur“ und „Umwelt“. Jedes Profil koppelt inhaltliche Schwerpunkte mit dazugehörigen Fächerkombinationen und -niveaus, Projektphasen sowie spezifischen Praxisanteilen mit Lebensweltbezug. Die Schwerpunktsetzung verringert zwar Wahlmöglichkeiten für Prüfungen, ermöglicht aber eine Konzentration auf die verbliebenen Fächer sowie deren Verknüpfung im Projektunterricht.
Interdisziplinärer Projektunterricht
Indem die Bildungspläne der profilgebenden Fächer nebeneinandergelegt und auf Schnittstellen untersucht werden, lassen sich problemorientierte Leitfragen fächerübergreifend und multiperspektivisch aufwerfen. Schüler:innen entwickeln in Projektphasen individuelle Antworten auf diese Fragen.
Im ersten Halbjahr der Qualifikationsphase wird die Frage nach der Konstruktion von Identität im Spannungsfeld von Natur und Umwelt behandelt: „Wie bin ich geworden, was ich bin?“. Das Fach Biologie liefert hierzu Grundlagenwissen aus der Molekulargenetik und Gentechnik, Evolutionstheorie sowie zur biologischen Geschlechterdifferenzierung. Gleichzeitig wird im Fach Philosophie Anthropologie behandelt, um geisteswissenschaftliche Perspektiven auf dieselbe Leitfrage zu erörtern. Im Fach Politik, Gesellschaft, Wirtschaft (PGW) werden ergänzend gesellschaftliche Hintergründe thematisiert: Neben den Bausteinen des Sozialstaats werden der demografische Wandel, Armut und soziale Spaltung, Gender und Sexualität, Identität und Sozialisation sowie die Flüchtlingspolitik in diesem Halbjahr behandelt.
Deeper Learning durch Reportagen
Im Projektunterricht werden PGW- und Kunstunterricht kombiniert. Zuerst lernen die Schüler:innen wissenschaftliches Arbeiten, Recherche, Interviewtechnik sowie Reportage und Fotografie in Workshops von Expert:innen. Danach bearbeiten sie während einer Berlin-Reise eigenständige Themen durch Recherchen und Interviews vor Ort. Abschließend schreiben sie ihre Ergebnisse im Schreibatelier und präsentieren diese der Schule. Als Produkt wird z.B. ein Heft erstellt, das die Ergebnisse bündelt. Durch die Anlage dieses Halbjahres wird also nicht nur ermöglicht, dass ein Thema aus der Perspektive von vier verschiedenen Fächern kontrovers behandelt wird, sondern gleichzeitig wissenschaftliches und künstlerisches Arbeiten geübt und kombiniert, vielfältige Auseinandersetzungen mit der Lebenswelt angeregt und die Ergebnisse in einem Produkt vergegenständlicht, das den Schulbesuch überdauern wird – so geht deeper learning.
Schlüsselprobleme und interdisziplinäres Denken
Die Leitfragen im MinG-Profil verdeutlichen, dass epochaltypische Schlüsselprobleme Klafkis bearbeitet werden. Wird durch die Sozialreportagen im ersten Halbjahr die Frage von Interkulturalität und sozialer Ungleichheit aufgeworfen, widmet sich das zweite dem Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie am Beispiel des Klimawandels. Im dritten steht die Frage nach Wahrheit vs. „fake news“ im Fokus und im letzten werden Krieg und Frieden thematisiert.
Hierin zeigt sich der Vorteil der Profilbildung: Epochaltypische Schlüsselprobleme sind komplex, was Giesecke dazu veranlasste, die erfolgversprechende Behandlung dieser als Unterrichtsgegenstand grundsätzlich infrage zu stellen. Nichtsdestotrotz sind sie per definitionem relevant für junge Menschen. Daher drängt sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihnen auf, wie sie sich durch die Multiperspektivität fächerübergreifenden Lernens erzielen lässt. Die Struktur der MBS als Profiloberstufe stellt somit eine bestmögliche Bedingung dafür dar, epochaltypische Schlüsselprobleme gebührend zu behandeln.
Umgang mit Widersprüchen
Auch wenn die Freiheitsräume geschickt genutzt werden, der institutionelle Rahmen hinterlässt dennoch seine Spuren. Auch die MBS muss mittlerweile das Zentralabitur schreiben lassen, was periodisches Nacharbeiten erfordert, um Projekte und Abiturthemen unter einen Hut zu bekommen. Es lassen sich durch dessen starre Anforderungen auch nicht alle erworbenen Kompetenzen abprüfen – am Ende entscheiden doch wieder Klausuren und mündliche Prüfungen über schulischen Erfolg. Versuche der Modularisierung, um Schwerpunktsetzungen in der Abi-Vorbereitung zu ermöglichen, wurden ministeriell wieder kassiert. Dennoch: Mehr als an anderen Schulen gelingt es der Max-Brauer-Schule, Schüler:innen kritisches und vernetztes Denken zu vermitteln, damit diese Antworten auf die großen Fragen ihrer Lebenswelt finden können. Das sollte uns die Mühe wert sein, zumindest so lange pragmatisch mit Widersprüchen dieser Art umzugehen, bis ein vernünftiger institutioneller Rahmen erstritten ist.