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Neoliberalismus

Ein Zombie kehrt zurück

Die Wiederkehr des Sozialdarwinismus

Sarrazins Wunschtraum: Die Bevölkerung als Schafherde mit mathematischer Hochbegabung

Unterschiede in Macht, Reichtum, Einfluss kommen aus den Genen und sind insofern naturgegeben. Die Schlaueren müssen über die Dümmeren herrschen. Differenzen in der Intelligenz begründen auch die Statusunterschiede zwischen ethnischen Gruppen:
Dies die elementaren Infamien sozialdarwinistischer Ideologie.
Sie werden mittlerweile nicht mehr durch Vermessung von Schädeln „bewiesen“ - der gute Ruf dieser Methode hat unter dem deutschen Faschismus doch etwas gelitten. Stattdessen macht sie ihre Weisheiten unter Missbrauch genetischer Forschung plausibel.

In letzter Zeit ist die Wiederbelebung solcher Ideen im Kontext eines neoliberalen Standortnationalismus zu beobachten. Er stützt sich auf die vorgebliche genetische Beschränktheit der Intelligenz bei Individuen und Gruppen. Im angelsächsischen Raum war er nie ganz tot, ist kürzlich etwa durch den Psychologen Robert Plomin ins Gespräch gebracht worden. In Deutschland hat zuletzt Sarrazin versucht, ihn zu etablieren. Der Bremer Volkswirt Heinsohn wandelt auf seinen Spuren.

Die „Verdinglichung“ der Intelligenz

In den Achtzigern schien es so, als würde die Naturalisierung sozialer Verhältnisse zurückgedrängt. Werke wie – exemplarisch -  „Not in our Genes“ von Lewontin und Rose wiesen in historischer Perspektive auf, dass der erste Intelligenztest von Alfred Binet zunächst lediglich als diagnostisches Instrument gedacht war, durchaus mit dem Ziel, gemessene Minderintelligenz von Förderungswürdigen wieder dem Altersdurchschnitt anzunähern. Erst später wurde sein Ergebnis, der berühmte „Quotient“, dazu benutzt, die Idee eines angeborenen und unveränderlichen Quantums Intelligenz zu propagieren. Schließlich sind Zahlen von vermeintlich unumstößlicher Objektivität und eignen sich dazu, Testpersonen in eine Rangreihenfolge zu bringen. Die dahinter stehende ideologische Gewissheit ließ sich auch durch experimentelle Misserfolge oder andere Widersprüche nicht beirren. Generationen von Intelligenztests beanspruchten zwar, eine Fähigkeit zu manifestieren, die sich jeglicher Erlernbarkeit entzieht, erwiesen sich jedoch stets wieder, zumindest in erheblichem Ausmaß, als erlernbar sowie abhängig von kulturellen Voraussetzungen.

Verhaltensgenetik als Astrologie

Auch an der anderen Front kam man nicht weiter. Das eine erlösende Gen wurde niemals gefunden, weil es nicht existiert. Forscher wie Plomin berufen sich heutzutage darauf, an der Herausbildung von Intelligenz seien tausende Gene beteiligt; eine andere Ausdrucksweise für: Nichts Genaues weiß man nicht. Auf dem Fuße folgt unweigerlich die Beteuerung, in fünf Jahren werden man den Zusammenhang von Genen und Intelligenz ganz genau durchleuchtet haben und dann würde sich zeigen, wie recht man jetzt schon hat. Beliebt ist auch die Formel: „50% Gene, 50% Umwelt“, so als ob menschliche Fähigkeiten mathematisch einteilbar seien wie die Inhaltsstoffe von Milchkaffee und Erbsensuppe.

Hinzu kommen Messergebnisse, die nicht ins ideologische Bild passen: Der durchschnittliche Intelligenzquotient ganzer Bevölkerungen in den USA und Europa stieg im Zeitverlauf nach 1945 an. Sofern man nicht von einer kollektiven Gen-Mutation ausgeht – vielleicht verursacht durch Aliens – werden wohl die Reformen im Schulwesen, das Sinken der Kinderzahl pro Familie, mit größerer Aufmerksamkeit für das einzelne Kind, und ähnliche gesellschaftliche Veränderungen wirksam gewesen sein. In der Forschung wurde dafür die Bezeichnung „Flynn-Effekt“ geprägt. Der angeblich so fixe, genetisch festgelegte IQ erweist sich gesellschaftlich als erstaunlich flexibel. Anstatt die Annahme genetischer Determination aufzugeben oder stark zu relativieren, flüchtete man sich in die Verteidigungshaltung, prädisponiert sei Intelligenz sehr wohl, nur in welchem Maß sie sich auspräge, hänge von sozialen Faktoren ab. Die Denkfigur gleicht dem Einsatz von Tierkreiszeichen und Aszendent in der Astrologie: Ist der im Horoskop versprochene Reichtum nicht eingetroffen, muss es wohl an diesem oder jenen Aszendenten gelegen haben, der dazwischen funkte. Doch ex post haben die Sterne – und die Gene – immer recht.

Die deutsche Fraktion

Thilo Sarrazin behauptete, die statistisch unterschiedlichen Aufstiegschancen ethnisch verschiedener Einwanderergruppen seien durch Differenzen in deren Intelligenz zu erklären. Das Argument basiert auf der klassischen Verkehrung von Ursache und Wirkung: Natürlich ist die gemessene Intelligenz, beispielsweise einer ländlich lebenden, von vormodernen Verhältnissen  geprägten Gruppe im Durchschnitt (!) niedriger als die einer urban lebenden, von modernen Verhältnissen geprägten. In den unterschiedlichen Messergebnissen reflektiert sich höherer oder niedrigerer Zugang zu Bildung, Gesundheit u.ä. Sarrazin dreht das um und suggeriert, es läge an einer ethnisch portionierten Intelligenz, dass z.B. Japan ökonomisch aufgestiegen sei, andere Länder hingegen nicht. Gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnisse werden ausgeblendet. Sarrazin verwendet diese sozialdarwinistischen Szenarien, um dem deutschen Standort in der Konkurrenz eine Auslese der tüchtigsten, das heißt „intelligentesten“ Migrantengruppen zu empfehlen. Zur Belohnung wurde er nicht aus der SPD ausgeschlossen.

Generalplan Weltmarkt

In dasselbe Horn stößt der ehemalige Professor der Uni Bremen, Gunnar Heinsohn, in einem Artikel für die FAZ bzw. die Website „Achse des Guten“. Der künftige Erfolg am Weltmarkt hänge für Deutschland am Zugriff auf mathematisch-technisch gebildete Arbeitskräfte. Selbst wenn das stimmte, könnte es Anlass für verwunderte Reflexionen sein: Warum ist mathematisches Wissen keine für alle Teile der Welt verwendbare Ressource, sondern Waffe im Konkurrenzkampf? Doch Heinsohn nimmt das als gottgegeben; seine Sorge gilt eher der Frage, wie sich Deutschland eine solches Heer von Techno-Nerds heranzüchten kann. Im volkseigenen Genpool, fürchtet er, sei nichts zu holen, zumal der „überaltere“. Mit der Intelligenz in Deutschland gehe es wieder bergab, Heinsohn hat sogar genau herausgefunden, seit welchem Jahr:  „Überdies erreichte man schon 1995 das Maximum dessen, was durch Erziehung erreichbar ist. Der Flynn-Effekt – IQ-Zunahme durch bessere Ernährung, Schulgeldfreiheit und mehr Zuwendung durch weniger Kinder – weicht seitdem in etlichen westlichen Ländern einer Abnahme des IQ.“ Nun fällt der Wert angeblich wieder, nur: Warum sollen damit die „Grenzen der Erziehung“ erreicht sein? Heinsohns Prämisse lautet offenbar, das Bildungswesen fördere alle Fähigkeiten optimal, folglich müsse es – präzise seit 1995 -  die Natur sein, die sich wieder zu Wort melde. Die Folgerung ist in sich unlogisch: Wenn das Steigen der gemessenen Intelligenz gesellschaftlich bedingt ist, kann das Fallen es ebenso sein. Im Übrigen würden die Zahlen dann auch nicht steigen, sondern stagnieren. Kontrafaktisch die Vorstellung, das deutsche Bildungswesen sei derartig brillant, Misserfolge wären nur durch genetische Schranken im Nachwuchs erklärbar.

Glückliches Ostasien

Heinsohns Bewunderung gilt den ostasiatischen Ländern. Er schwelgt in ihren Leistungsziffern: Siege in Mathe-Olympiaden, Industrieroboter, Zahl der Patente pro Jahr.

Zu ihnen müsste man „Headhunter“ schicken, so Heinsohn, um ihnen ihre überlegene menschliche Ressource abzujagen. Er versteigt sich sogar zu folgendem Lob: „Die Nuklear- und Raketentechnologie im „Steinzeitkommunismus“ Nordkoreas indiziert vergleichbares Potenzial, was vom Bruderland Kuba niemand behauptet.“ In seiner Begeisterung wirft Heinsohn alles in den einen Topf der Völkerpsychologie. Kuba musste nicht etwa auf  Atomraketen verzichten, weil die Sowjetunion dies mit den USA nach der Kubakrise vereinbart hat, sondern wegen der schlechten Mathe-Kompetenzen seiner dauernd Salsa tanzenden Bevölkerung. Nordkorea wiederum verfügt nicht deshalb über Atomwaffen, weil sein Staatsapparat es geschafft hat, durch Spionage und illegale Handelstransaktionen die Technologie zu ergattern, sondern aufgrund des zahlenverliebten Nachwuchses, der ja selbst seine Formationstänze noch nach strenger mathematischer Choreografie vollzieht.

Neoliberaler vs. völkischer Sozialdarwinismus

Konzepte eines völkischen Sozialdarwinismus phantasieren von der Reinhaltung des eigenen „Volkskörpers“ und verbreiten Ängste vor der drohenden „Umvolkung“, man denke an AfD-Höcke. Sie neigen daher zu pauschaler Fremdenfeindlichkeit. Die hier besprochenen Ansätze teilen mit ihnen die Vorstellung einer genetischen Determination der Fähigkeiten bei ethnischen Gruppen und Einzelnen. Gesellschaftliche Macht- werden in Naturverhältnisse verwandelt. Abweichend ist die Haltung der neoliberalen Fraktion zur Einwanderung: Sie sieht den „Volkskörper“ als Waffe im Kampf um den Weltmarkt, der durch fremdes brauchbares Genmaterial, in Form von angeworbenen Fachkräften,  aufgerüstet werden muss. Wieder einmal dürfen wir zwischen Pest und Cholera wählen. Oder dankend ablehnen.