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Ein Schuss nach hinten - Die Schattenseiten der Integrationsdebatte

Eine zunehmend islamfeindliche Atmosphäre hat in Deutschland die Gewaltbereitschaft von Islamhassern begünstigt. Einige verüben Brandanschläge auf Moscheen. Auch Hass- und Drohmails an säkulare und religiöse Migrantenorganisationen haben zugenommen.

Wieder haben Unbekannte im Dezember einen Brandanschlag auf eine Moschee in Berlin-Tempelhof verübt. Es ist der sechste in Berlin seit Juni letzten Jahres. Zwischen Juni und Ende November wurde die Sehitlik-Moschee in Berlin-Neukölln viermal attackiert, die Al-Nur-Moschee einmal. Laut islam.de, einem Webportal des Zentralrats der Muslime, wird sogar einmal im Monat ein Anschlag auf eine Moschee verübt, ohne dass es die breitere Öffentlichkeit wahrnimmt.
Antiislamisch motivierte Hasshandlungen sind in Deutschland mittlerweile zum Alltag geworden. Tägliche Hass- und Drohbriefe an muslimische Verbände und säkulare Migrantenorganisationen, etwa an die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) gehören dazu. Deren Vorsitzender Kenan Kolat sagt hierüber: „Auch vor Sarrazin kamen ab und zu solche Mails an.“ Nach ihm hätte deren Anzahl zugenommen. Der Ex-Bundesbankchef Thilo Sarrazin hatte Thesen über sogenannte muslimische Gene aufgestellt und eine große Debatte ausgelöst.
Der diffamierende Wortlaut der Mails sei hemmungsloser geworden. Die Schreiber wollen, so vermutet der TGD-Vorsitzende, der sich in der Integrationsdebatte häufig zu Wort gemeldet hat, ihn und seine Organisation einschüchtern. Gegen ihn hat Franz Herbert Schneider, ein Mitglied der Gruppierung Pro NRW, ausserdem auf der Facebook-Seite „Ausweisung für Kenan Kolat“ eine regelrechte Hass-Kampagne initiiert: Etwa 130 Nutzer unterschrieben dort die Aussage: „Aufgrund der anti-deutschen Haltung sollte dieser Parasit (..) bedingungslos ausgewiesen werden.“

Hassmails haben zugenommen

„Immer dann, wenn in der Öffentlichkeit verstärkt negative Klischees in Debatten über Muslime, Türken und Araber auftauchen, nehmen Hass-Mails zu“, kommentiert ein Sprecher des Zentralrats der Muslime dessen Erfahrungen. Das bestätigt auch Erol Pürlü vom Koordinationsrat der Muslime. Der Hass auf Muslime zeige sich immer unverfrorener, sagt er: Auf dem Baugelände einer Moschee in Neckarsulm hätten Körperteile von Schweinen gelegen; ein Hakenkreuz sei angebracht gewesen, so Pürlü. In einer konzertierten Aktion seien im Frühjahr letzten Jahres an viele größere Moscheegemeinden abgeschnittene Schweineohren geschickt worden, schreibt der Zentralrat auf islam.de.

Auch nach dem 11. September 2001 bekam der Zentralrat Hassbriefe, „welche die Heftigkeit der gegenwärtigen Briefe aber nicht annähernd erreichten“, sagt der Zentralrats-Sprecher. Die Schreiber seien durch die Integrationsdebatte bestens mit Argumenten gewappnet. Zudem halte die Welle schon seit Monaten an, was 2001 ebenfalls nicht der Fall gewesen sei. In der Regel würden solche Mails an die Behörden weitergeleitet. Doch die seien „angesichts der Masse der eingegangenen Mails überfordert“.

TGD-Chef Kenan Kolat forderte deshalb Ende letzten Jahres, „dass die Sicherheitsbehörden das Ausmaß islamfeindlicher Straftaten systematisch statistisch erfassen“. Die Verfassungsschutzämter differenzieren zwar zwischen ausländer- und fremdenfeindlichen Delikten auf der einen – und antisemitischen Delikten auf der anderen Seite. Eine Unterscheidung nach antimuslimischen Straftaten gibt es bislang nicht. Sie muss aber erfolgen. Auch wenn es beispielsweise der Innensenator von Berlin - Ehrhart Körting (SPD) anders sieht: Es bedarf mittlerweile eines ausreichenden Polizeischutzes von Moscheen, wie es ihn auch für Synagogen gibt.

Was ist los in diesem Land?

Eine im Dezember erschienene Studie der Universität Münster kam zu dem Schluss, dass die Deutschen islamfeindlicher sind als vier westeuropäische Vergleichsländer – Frankreich, Dänemark, Niederlande und Portugal. Vorurteile und Ängste gegenüber Muslimen hat es demnach im Verborgenen schon vor Sarrazins Thesen gegeben. Fast zeitgleich veröffentlichte der Bielefelder Sozialisationsforscher Wilhelm Heitmeyer einen Zwischenstand aus seiner Langzeiterhebung zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Er erklärte, dass sich die Islamfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft und im Spektrum links davon deutlich verstärkt habe.

Vor allem müssen auch Politiker wie Angela Merkel (CDU) und CSU-Chef Horst Seehofer einsehen, dass ihre haltlosen Aussprüche über „Integrationsverweigerer“, „Zwangsverheirater“ und Menschen „aus einem, mit unseren Werten unvereinbaren Kulturkreis“ - gemeint sind „die Muslime“ - nicht nur verletzend sind und die Gesellschaft in Migranten mit muslimischem Hintergrund und dem Rest nachhaltig spalten. Sie rufen auch Brandstifter auf den Plan.

Wenn Menschen öffentlich als „Parasiten“ – einst ein Schimpfwort für jüdische Menschen – bezeichnet werden, darf dies nicht ohne Konsequenzen bleiben. Alarmierend ist auch, wenn es „so normal wird, dass man gar nicht mehr darüber zu reden braucht, wenn muslimische Frauen mit Kopftuch auf offener Straße beschimpft und angespuckt werden“, wie Bekir Yilmaz, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde zu Berlin berichtet.
Behörden, Polizei und Gesellschaft müssen sich für antimuslimisch motivierte Einstellungen und Hassdelikte sensibilisieren lassen. Verfolgung und Bestrafung der Täter müssen einen öffentlichen Stellenwert erhalten. Das wären die richtigen Signale angesichts des Vertrauensverlustes vieler säkular und religiös eingestellter Migranten mit muslimischem Hintergrund in die deutsche Gesellschaft.