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Schwerpunkt

Ein Augenzeuge berichtet, Teil I

Interview mit Ulli Simon: Sozialist, Friedenskämpfer, Musiker und Lehrer an der Gesamtschule West

Foto: privat

11. September 1973 – Militärputsch in Chile
Wie war für dich und allgemein die Situation nach der Wahl 1973?

Unsere Familie lebte in Valparaiso, dem Haupthafen Chiles. Nach Allendes Wahl kam eine schöne Zeit, voller Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen für die Bevölkerung. Die Kultur blühte: Musik, Kunst, Literatur, Bildhauerei, es gab viel Bewegung. Gäste von überall, zum Beispiel Peter, Paul & Marie, Angela Davis, Kosmonauten aus der UdSSR. Ich war im Asta der Uni und machte Musik und studierte Sport. Es gab viel zu tun. Häuser wurden bemalt. Zeit des Aufbruchs. Allende und die Unidad Popular verloren nichts von der Popularität, im Gegenteil, die Zustimmung wuchs weiter. Nicht so wie die Rechten es interpretierten, dass Chaos herrschte und dagegen etwas getan werden musste.

Was änderte sich?

Es wurde klar, dass Gelder nach Chile flossen, aus den USA, aber auch aus Europa, um diese positive Entwicklung zu verhindern. Mein Vater war LKW-Fahrer und transportierte Gasflaschen. Es gab Attentate und Sabotageakte, und viele Fahrer trauten sich nicht mehr zu fahren, es war auch noch nicht klar, wer dafür verantwortlich war. LKW wurden beschossen. Unternehmer bekamen Geld, damit nicht gefahren wurde, die Fahrer wurden bezahlt. Das bedeutete aber, dass Waren fehlten, Bäcker nicht mit Mehl beliefert wurden. Die Bevölkerung hatte natürlich ein Problem. Die Fahrer haben nicht gestreikt, sie hatten quasi Zwangsurlaub. Aber einige sind trotzdem weitergefahren wie mein Vater, er wurde dann als Streikbrecher bezeichnet.

Wer waren die Parteien der Unidad?

Sozialisten, so wie ich, KP, linke Christen, Mapu (CDU), Außerparlamentarische MIR (Bewegung Linker Revolutionäre). Es gab auch viele, die sich gegen diese Sabotagen und Attentate verteidigen wollten. Es wurde diskutiert. Es gab in ganz Chile Anschläge, auch bei der Bahn oder bei Stromleitungen. Heute ist klar, dass Gelder in die Armee, Polizei, Justiz gingen, um Stimmung gegen Allende zu machen.

Wie war das in eurer Familie in dieser Situation?

Wir waren sehr engagiert und haben das zuhause diskutiert, mein Vater war Gewerkschaftsführer im Gaslager. Wir haben uns organisiert, um aufzupassen bei bestimmten Gebäuden, wir haben Lebensmittellieferungen versucht zu bewachen. Die Lager wollten wir schützen. Ein Gasometer wurde auch beschossen, da haben wir nachts aufgepasst. Organisiert wurde das von Gewerkschaften oder Parteien. Auch in der Uni war ich oft, wir wollten das tun. Die Angst war nicht so präsent, irgendwie haben wir nicht erwartet, dass es so schlimm kommt.

Ihr habt gehofft?

Das ging vielen so. Wir hatten auf Verhandlungen gehofft und auf Rückgang der Sabotage-Aktionen. Denn Allende hatte ja eine Volksabstimmung vorgehabt, um darüber abstimmen zu lassen, ob der Weg weitergegangen werden sollte oder nicht. Dazu ist es nicht gekommen. Allende hat ja sogar Pinochet als Armeeführer bestätigt. Es gab auch Teile der Marine, die Allende unterstützt haben. Es gab aber kaum Informationen. Die ersten Seeleute saßen schon im Knast, da haben wir Musik gemacht und dann versucht, Informationen von denen zu bekommen. Sie waren die ersten politischen Gefangenen. Und die baten uns um Kontaktaufnahme zu ihren Familien.

Wie habt ihr vom Putsch erfahren?

Aus dem Radio. Ich habe auch die berühmte Rede von Allende gehört. Der Palast wurde beschossen. Der Putsch wurde in Valparaiso begonnen. Das Amphitheater wurde beschossen, das Vereinshaus des Fußballvereins, das Lehrerinstitut für Sport, das Biologieinstitut. Angst sollte sich verbreiten. Hubschrauber, Flugzeuge machten Lärm. Es war Ausgangssperre. Wir gingen trotzdem heimlich raus. Wir wollten die Regierung verteidigen und haben uns organisiert. Wie wollen wir uns verhalten? Wollen wir kämpfen oder etwas sprengen? Ich selbst wollte keine bewaffneten Konflikte, ich bin Pazifist. Und es war richtig von Allende zu sagen, bleibt zuhause, die andere Seite hat die Waffen und die Macht. Sonst hätte es noch mehr Tote gegeben und ein Massaker. Er hätte auch anders reden können. Gegen die Armee wollten wir nicht kämpfen.

Seid ihr von Verhaftungen und Folter betroffen gewesen?

In der Firma meines Vaters waren Soldaten, er sollte seinen Laster abgeben. Er wurde misshandelt, musste an der Wand stehen. Er war bekannt als Gewerkschafter, unsere Familie wohl auch. Er kam verstört nach Hause. Er hatte auch Angst um mich. Man war relativ isoliert, die Kreise wurden kleiner. Sie haben auch unser Haus gestürmt, und ich hatte den Gewehrkolben auf der Brust. Wir mussten uns aufstellen. Es gab eine Hausdurchsuchung nach Waffen. Sie wollten uns Angst einjagen. Sie ließen uns zuhause und haben meinen Vater mitgenommen. Er war in verschiedenen Folterzentren, am Schluss auf einem Konzentrationslagerschiff, es gab drei im Hafen. Wir hatten dadurch auch finanzielle Probleme zuhause. Es kamen aber manchmal Freunde, die etwas zu essen vorbeibrachten. Companeros, auch aus der Partei. Die suchte man später dann steckbrieflich. Mich auch per Aushang und Foto an der Uni. Ein Freund berichtete von meinem Vater, dem es sehr schlecht ging auf dem Schiff Lebu. Ich habe dann versucht, Leute zu finden, die ihm helfen konnten. Mein Vater war ja ein bekannter Mann. Dann fiel mir der Seemannspastor Posselt ein. Der rief den Bischof an, der hieß Helmut Frenz. Er hat wohl mit Willy Brandt telefoniert, und dann gab es wohl die Anweisung, die deutsche Botschaft in Chile für Flüchtlinge zu öffnen. Deutschland war sehr spät damit. Drei Tage später kam der Bischof nach Valparaiso und hat den Konsul Hartlieb kontaktiert. Den hatte ich vorher schon besucht, und er tat immer, als kannte er meinen Vater nicht. Die Drei gingen auf das Schiff, und er kam frei.

(Teil II: Die Flucht nach Deutschland und Bremen, im nächsten Bildungsmagazin.) 

Buchtipp:
Gut nachzulesen in aller Ausführlichkeit im Buch von Ulli Simon, Septembertage, ISBN 3-926529-90-3, schon 1998 erschienen, mit Musik-CD.