Er arbeitet hauptamtlich bei Pro Asyl und berät Menschen in einer Sache, die er selbst erlebt hat: Der Flucht nach Deutschland. Tuncer kam nach dem Militärputsch von 1980 aus der Türkei. Geboren am Schwarzen Meer, lebte er lange in Istanbul. Mittlerweile hat er in Oldenburg Sozialwissenschaften studiert. Der Verein unterstützt offen die Nein-Kampagne zum Referendum über das Präsidialsystem.
Blz: Beschreibe bitte die Arbeit des Vereins.
Der Verein hat offiziell 30 bis 40 Mitglieder, erreicht aber über familiäre Kontakte bis zu 400 Menschen, wobei wir darauf achten, dass eine Balance zwischen den verschiedenen Familien herrscht. Wir bieten Raum für offenen Austausch und Bildungsarbeit, machen Filmabende und Ausflüge. Wir geben beispielsweise Schwimmkurse, weil wir wollen, dass unsere Mitglieder, vor allem die Jugendlichen, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Wir ermuntern Eltern, ihre Kinder auf Klassenfahrten zu schicken.
Blz: Nun mischt ihr euch auch in die Diskussion um das Referendum in der Türkei ein.
Ja. Erdoğan will die Türkei im Sinne eines ethnischen und islamischen Nationalismus umgestalten. Sein Motto: Ein Volk, eine Fahne, eine Sprache. Dabei leben in der Türkei 27 Volksgruppen, die ethnisch oder religiös differenzierbar sind. Als größte Gruppe die Kurden mit 15 Millionen Menschen. Dazu kommen Lasen, Armenier, Tscherkessen u.a.. Eigenständigkeit bekommen die Gruppen nicht, es sei denn, sie unterwerfen sich Erdoğans religiöser und nationalistischer Ideologie. Auch Türken leiden darunter, wenn sie für Bürgerrechte eintreten, wie die Gezi-Park Bewegung. Unsere Kritik daran haben wir im Verein diskutiert und dazu ein Flugblatt geschrieben. Das gibt es auch in Kurzfassung auf Deutsch, eine professionelle Übersetzung konnten wir uns leider nicht leisten. Wir richten auch einen Fahrdienst ein, damit unsere Mitglieder nach Hannover zur Stimmabgabe fahren können. Große Transporter haben wir nicht - wir kratzen unsere kleinen Autos zusammen...
Blz: Gehört nicht Mut dazu, offen für das Nein zu werben?
Tatsächlich gibt es großen Druck, etwa von Seiten der Moscheeverbände. Sowohl Ditib als auch Millî Görüş agieren als verlängerter Arm der Regierung, selbst wenn sie untereinander Differenzen haben. Natürlich nicht offen, hinter vorgehaltener Hand. Vieles, was sie auf Deutsch nicht sagen, sagen sie auf Türkisch. Aber wir möchten deutlich machen: Nicht alle Türkeistämmigen lassen sich instrumentalisieren. Schlimm genug, dass der deutsche Staat den Verbänden das Feld überlässt.
Blz: Wie schätzt du die Arbeit der Moscheeverbände ein?
Ich möchte vorausschicken, dass ich nicht die einzelnen Gläubigen kritisiere, die in die Moschee gehen, um zu beten. Meine Kritik richtet sich an die Funktionäre.
Ditib und ähnliche Verbände geben sich religiös, sind in Wahrheit jedoch Organisationen eines politischen Islam. In den letzten Jahren haben sie sich mit Nachhilfe und Sozialarbeit eine seriös wirkende Fassade aufgebaut. Damit versuchen sie letztendlich die Gläubigen für ihren konservativen und politisierten Islam zu gewinnen. Alles was außerhalb ihres sunnitischen Verständnisses liegt, wird abgelehnt, das bekommen z.B. die Aleviten zu spüren. Jugendliche, die lieber ihr Deutsch oder Türkisch verbessern sollten, werden verleitet, den Koran auf Arabisch auswendig zu lernen...
Auch die Geschichte von Ditib zeigt dies: Obwohl die Ideologie der Turko-Islam-Synthese lange von den kemalistischen Eliten bekämpft wurde, kam sie nach dem Militärputsch 1980 zum Zuge. Religionsunterricht wurde wieder eingeführt, als Waffe gegen linke Ideen. In dieser Zeit kamen Erdoğan und Gülen ins Spiel. Auch Ditib wurde in diesem Kontext gegründet. Wenn ich jetzt von den Bespitzelungen höre, muss ich lachen; schon in den Achtzigern verrieten türkische Spitzel die Namen von Oppositionellen. Das merkten wir, wenn unsere Freunde bei der Einreise an der türkischen Grenze verhaftet wurden.