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Schwerpunkt

„Die Öffentlichkeit soll beruhigt werden“

Achim Kaschub, Vorsitzender der Schulleitervereinigung, spricht über den Bildungskollaps, rote Linien und eine nötige ressortübergreifende Verantwortung

Achim Kaschub, Vorsitzender der Schulleitervereinigung | Foto: Inge Kleemann

Das Schwerpunktthema in dieser Ausgabe ist „Widerstand“. Was sind die roten Linien der Schulleitervereinigung? Und sind diese schon überschritten?

Wir haben eine psychische und eine enorme Arbeitsbelastung in den Schulen. Das darf so nicht weitergehen. Da hat man jahrelang nicht draufgeschaut. Die Kapazitäten sind so erschöpft, dass wir kaum neue Schüler:innen aufnehmen können. Und die Zahlen steigen weiter an. Die Ressorts Soziales, Bildung, Gesundheit, Finanzen müssten zusammenarbeiten, damit man Kindern und Jugendlichen ganzheitlich helfen kann. Das alles passiert in Bremen gar nicht. Da sind eigentlich alle roten Linien überschritten. Wir sind hier wirklich kurz vor dem Kollaps. Das sagen nicht nur wir, sondern auch die anderen Bildungsinstitutionen, die sich seit November zusammengefunden haben. Uns wird auch nicht widersprochen, weil es sich um einen festgestellten Befund handelt. Wenn man so weitermacht, wie es jetzt ist, dann wird dieses System zusammenbrechen. 

Sie sind Schulleiter und auch Sänger in einer Band. Wo ist es leichter, den richtigen Ton zu treffen – am Mikrofon oder im Umgang mit dem Senat und der Bildungsbehörde?

Der Ton der Schulleitungsvereinigung ist noch relativ kooperativ. Da treffen wir absolut den richtigen Ton. Ich frage mich, warum es nicht deutlich mehr Widerstand im Bildungsbereich gibt. Da sind wir nur die Speerspitze. Man kann sich politisch glücklich schätzen, dass die Bildungspartner:innen einen Ton anschlagen, der immer noch eine Zusammenarbeit zulässt.

Sie leiten die Oberschule an der Hermannsburg. Wo verläuft für Sie persönlich die rote Linie, bei der Sie sagen, so kann ich den Job nicht weitermachen? 

Wow, das ist eine schwierige Frage. Einerseits macht mir der Job viel Spaß. Ich habe tolle Lehrkräfte, ich mag die Schüler:innen. Sie kommen nicht aus den einfachsten Elternhäusern, sind aber hoch sympathisch. Wenn man bei uns über den Schulhof geht, dann wird jeder denken, was ist denn das für ein freundlicher Umgang miteinander. Andererseits sehe ich die Belastung der Kolleg:innen in ihren Gesichtern, ich sehe den hohen Krankheitsstand. Das treibt mich am meisten um. Ich muss Bedingungen schaffen, dass die Menschen auch noch in zehn Jahren hier arbeiten, ohne völlig fertig zu sein. Meine Grenze wäre meine persönliche Belastung. Wenn ich gesundheitlich in Schwierigkeiten kommen würde, wäre meine Grenze überschritten. Dann würde ich etwas anderes machen.

Die Schulleitervereinigung und auch Sie persönlich benutzen häufig Superlative wie zum Beispiel Bildungskollaps, Belastungslimit, so geht nicht mehr weiter, um die Situation in den Schulen zu beschreiben. Sind solche Formulierungen notwendig, um Entscheidungen voranzutreiben?

Schulleitungen sind sehr bemüht, etwas zu gestalten. Was wir aber seit Längerem machen, ist etwas anzumahnen und zu sagen, so geht es nicht mehr weiter. Wenn man sich die Situation in den Schulen genau anguckt, ist dieser Superlativ keine Befürchtung mehr, sondern ein tatsächlicher Befund. So ist es in den Schulen! Ich habe den Eindruck, dass nicht alle genau wissen, wie es in den Schulen läuft. Man geht davon aus, dass dort soziale Menschen arbeiten, die das schon wuppen werden, weil sie eine soziale Verantwortung tragen. Aber die Last an dieser Verantwortung ist so groß geworden, dass wir jetzt Superlative benutzen müssen. Geht es so weiter wie bisher, wird es nicht genug Schulplätze für Grundschulkinder und in der Sekundartstufe I geben. Dann könnten wir eine Grundaufgabe eines Staates nicht mehr erfüllen. Da weiß ich nicht, welcher Begriff richtiger wäre, als der Begriff Kollaps. 

Halten Sie Senat und Bildungsbehörde für gesprächsbereit und lösungsorientiert?

Ich gebe ein Beispiel: 

Wir hatten am 26. März zur Veranstaltung „Schule unter sozialer Benachteiligung“ 120 Delegierte aus allen Deputationen eingeladen. Gekommen sind zwei. Das bedeutet, es gibt bei den Verantwortlichen aus der Politik kein Bewusstsein oder es wird sich gescheut, sich im Bildungsbereich nachhaltig zu engagieren. 

Es geht um eine gemeinsame Verantwortung aller Ressorts. Eine Bildungssenatorin muss das innerhalb ihrer Regierung anmahnen. Das sehe ich persönlich nicht.

Neben dem Mahnen, was tut die Schulleitervereinigung konkret, um die Situation zu verbessern? Wo sehen Sie Licht am Ende des Tunnels, wo gibt es Chancen auf Verbesserungen?

Die ehrenamtliche Schulleitervereinigung organisiert Veranstaltungen zum Thema „Wie können wir Schulen besser leiten“ oder „Wie können Schulen selbstständiger gestaltet werden“. Wir sind deutschlandweit organisiert. Wir debattieren auch über das Thema Arbeitszeiterfassung. Da sind die Kollegen in Hessen in Zusammenarbeit mit der GEW deutlich aktiver. Da holen wir uns Expertise. Eigentlich ist es nicht unsere vorrangige Aufgabe, zu mahnen und zu sagen „So geht es nicht weiter“. Aber in dieser schwierigen Gesamtsituation besteht das Problem, dass wir unsere Schulen gar nicht mehr leiten können und dass unsere Mitarbeitenden, die tolle Arbeit leisten, verbrannt werden. Da fühlt man sich dann verantwortlich. 

Sie konstatieren gute Ansätze wie zum Beispiel die 300-Millionen-Euro-Schulbaugesellschaft oder die Einstellung von mehr Referendar:innen. Aber dann kommt von Ihnen das große Aber.

Wir haben einen Finanzbedarf von allein 2,4 bis 2,7 Milliarden Euro für Sanierung und Bau von Schulgebäuden. Dann legt man ein Sondervermögen von 300 Millionen auf. Man sieht sofort die große Lücke. Ich habe das Gefühl, dass da ein Aktionismus an den Tag gelegt wird. Es gibt da eine ganze Menge von Schnellschüssen, die per se nicht durchdacht sind. Hier soll Öffentlichkeit beruhigt werden. Auch bei den Referendar:innen wird nicht nachhaltig gedacht. Es wird mehr ausgebildet, ja. Aber diejenigen, die sie ausbilden sollen, also die Fachleiter:innen und die Mentor:innen an den Schulen, deren Kapazitäten steigen nicht entsprechend. Die Ausbildungsqualität leidet total. Die Beispiele zeigen: Vieles bleibt Stückwerk. Uns fehlt eine Bestandsaufnahme. Die letzte Bestandsaufnahme war vor etwa 15 Jahren, als man gesagt hat, wir wollen nur noch zwei Schulformen haben. 

Der Bildungshaushalt ist auf mehr als eine Milliarde Euro gestiegen. Sie sagen, das reicht nicht aus. Gibt es eine Summe, die Sie als ausreichend empfinden würden?

Da fehlt mir die Expertise, aber man kann doch ausrechnen, was 105 Prozent an Lehrerstunden im Plan-Soll kosten. Das ist unsere Forderung, um Unterrichtsausfall zu vermeiden. Der Zentrale Elternbeirat fordert 110 Prozent. Das könnte man auch ausrechnen. Genauso könnte man ausrechnen, was auskömmlich für eine Schule ist. Und dann weiß man, wie groß ein Bildungshaushalt sein muss. Das ist dann eine Summe, die nicht mehr verhandelbar sein darf. Man weiß auch, um wie viel der Bildungshaushalt steigen muss, wenn man das Ausgabenniveau anderer Stadtstaaten erreichen will. Keiner fragt uns, die GEW, andere Bildungsinstitutionen oder die Eltern, was braucht es denn innerhalb von Schule, damit die Finanzmittel adäquat und effektiv eingesetzt werden können. Alle Fachleute sollten sich ressortübergreifend zusammensetzen, und die Bildungssenatorin müsste dann priorisieren. Ein zielgerichtetes Tun fehlt allenthalben. Ein Finanzsenator will natürlich wissen, wofür braucht ihr das denn. Da braucht man gut Argumente. Zum Beispiel mehr Lehrkräfte, mehr Kooperationszeiten, mehr Sonderpädagogik, alternative Unterrichtsformen. All das kann man mit Inhalt füllen. 

Hamburg gibt rund 20 Prozent mehr pro Schüler:in aus. In Hamburg hat die Bildung im Haushalt einen 14-Prozent-Anteil, in Bremen sind es nur zehn Prozent. Werden hier die falschen Prioritäten gesetzt?

Ja, definitiv. Warum können die das, warum ist das bei uns nicht so? Es kann doch nicht sein, dass, wenn man in Bremen aufwächst, es erst mal schwerer ist als in anderen Bundesländern. Gerade für die nicht so privilegierten Kinder ist das problematisch. Und in Bremen und Bremerhaven haben wir eine Menge davon, mehr als anderswo.

Sie bezeichnen die Armutskrise in Bremen als grundlegendes Problem und die Bildungskrise als ein Symptom daraus. 

Andauernd versuchen wir, in Schule eine Krankheit wie zum Beispiel die Grippe zu heilen, aber wir beschäftigen uns nur mit dem Symptom wie zum Beispiel Schnupfen. Aber dann habe ich trotzdem noch Kopf-, Ohren- oder Gliederschmerzen. 

Wenn Jugendliche, die in Armut groß geworden sind, die Schule in Bremen verlassen, haben wir eigentlich nur ein Symptom der Krankheit Armut behandelt. Es braucht aber auch andere Dinge. Es muss Wohnungen geben, die groß genug sind, es muss Angebote für Eltern geben, es muss eine ausreichende Teilhabe in der Gesellschaft geben. 

Sie halten wie wir in der GEW eine Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung für Lehrkräfte für notwendig, um den Beruf wieder (etwas) attraktiver zu machen oder um die prekäre Gesundheitssituation vieler Kolleg:innen zu verbessern. Warum?

Wenn man den schönen Beruf der Lehrerschaft gesund überstehen will, dann kann man das nicht mit diesem Deputat weitermachen. Man muss auf die Mitarbeitenden schauen, dass sie auch noch in zehn oder zwanzig Jahren leistungsfähig sind. Sonst wird es nachher noch teurer. Wir sehen anhand der Masse an Langzeiterkrankten in den Schulen, die gerade nach Corona deutlich zugenommen hat, dass dies auch eine wirtschaftliche Frage ist. Wir brauchen die Zeit für den Austausch in den multiprofessionellen Teams, für Gespräche mit den Sozialpädagog:innen oder mit den außerschulischen Partnern, um eben effektiv zu unterrichten oder erziehen zu können. Ok, eine kürzere Unterrichtsverpflichtung kostet erst mal mehr Geld, andererseits halten wir die Mitarbeitenden gesünder. Eine Kürzung hat wahrscheinlich keine große Auswirkung auf die Arbeitszeit, aber auf die Arbeitszufriedenheit, weil man dann weiß, ich kann das schaffen. Also Reduzierung, weil Kooperation unumgänglich ist.

Aber ein kürzeres Deputat ist derzeit unrealistisch, oder?

Wenn es eine ressortübergreifende Verantwortung gäbe, würde diese Frage in ein anderes Forum getragen. Innerhalb des Senats könnte man sich deutlich stärker mit der Notwendigkeit der Umsetzung beschäftigen. Personalausgaben sind zwar konsumtiv, sie können aber trotzdem eine Investition darstellen. Und diese kann letztendlich aus der Notwendigkeit heraus kreditfinanziert sein. Mit dieser Investition verhindern wir weitere Kosten in der Zukunft. Wenn die Sozialausgaben so groß sind, muss man alles dafür tun, um diese zu senken. Dass das nicht in fünf Jahren umzusetzen ist, ist klar, aber vielleicht in 15 Jahren. Eine Stundenreduzierung ist deshalb auch wirtschaftlich sinnhaft und nicht unrealistisch. Es ist die Frage, wo es diskutiert wird. Wenn es im Bereich der Interessenvertretungen bleibt, wird sich nichts verändern lassen.