Zum Inhalt springen

Die Lebensbedingungen nach der Flucht

Nach Beginn meiner passiven Altersteilzeit begann ich mich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Aufgrund meiner Tätigkeit im Übergangswohnheim an der Eduard-Grunow-Straße und in einer in Gröpelingen lebenden Familie mit fünf Kindern habe ich folgende Eindrücke sammeln können.

Im Wohnheim

Nach ersten bangen Monaten in der Zentralen Anlaufstelle in der Steinsetzerstraße (ZAST) bekommen die Flüchtlinge ein Zimmer mit Küche und Bad (teilweise auch mit gemeinschaftlicher Nutzung) in einem Übergangswohnheim. Hier können sie sich selbst verpflegen und sich in der neuen Umgebung selbständiger orientieren. Dieses Haus ist für die Menschen ein erster Schonraum nach dramatischen Erlebnissen in der Heimat und auf der Flucht, die sie nach ihrer Ankunft nicht einfach verdrängen können. Sie finden dort Menschen mit derselben Sprache und ähnlichen Problemen, finden Raum für Kommunikation und machen die ersten Schritte in die Eigenständigkeit im Asylland Deutschland. Im Übergangswohnheim an der Eduard-Grunow-Straße gibt es eine sehr engagierte Leitung und eine aktive Gruppe von Ehrenamtlichen, die verschiedene Kompetenzen und Interessen einbringen und die Flüchtlinge mit vielen unterschiedlichen Angeboten unterstützen.
Generell ist die Situation in den Übergangsheimen Bremens in puncto Ausstattung, Lage und Betreuung sehr unterschiedlich. In einigen Häusern gibt es sehr engagierte Leitungen und Ehrenamtliche (vor allem Nachbarn, aber auch Organisationen), die Begleitung zu Arztbesuchen und Ämtern, Freizeitaktivitäten und Deutschkurse anbieten und sich auf die Wünsche der Bewohner/innen einstellen. Bleiben Kontakte außerhalb des Heims und eine intensive Betreuung aber aus, so ist der Alltag der Flüchtlinge geprägt von Trostlosigkeit und Langeweile. Für die Menschen, die in ihrer Heimat einer beruflichen Tätigkeit nachgingen (und das sind die meisten), ist dieser Zustand, ist die Vorstellung auf unabsehbare Zeit auf Arbeit mit all ihrer Vernetzung verzichten zu müssen, unerträglich. Die Menschen fühlen sich als Bittsteller/innen, eine für sie ungewohnte Situation. Eines wird hier deutlich: Der Weg zur Integration in unsere Gesellschaft ist eine Einbahnstraße. Die Flüchtlinge müssen die Wege zu Ämtern, Ärzten/innen und Dienstleistungen selbst bewältigen, was oft kaum zu leisten ist. Bei einem Besuch in einem anderen Übergangswohnheim haben mir Bewohner/innen von ihren Sorgen erzählt.
Die ersten Erfahrungen in öffentlichen Ämtern bestehen in der Konfrontation mit einer Fachsprache („Amtsdeutsch“), mit dem Ausfüllen von Formularen („Der Deutsche hat für alles ein Formular“), mit verzweigten, unübersichtlichen Fluren und mit mehr oder weniger freundlichen Sachbearbeiter/innen. Kann das Vertrauen schaffen? Die Angst vor falschen Schritten, dem falschen Wort zur falschen Zeit ist ständiger Begleiter der Menschen. Aus ihrer Heimat kennen sie die Fülle amtlicher Vorgaben in ihrem Alltag oft so nicht. Da wird eine Problemlösung häufig mit Geld gesucht.

In der Schule

Unterschiedlich lang ist die Wartezeit auf einen Deutschkurs, dessen Teilnahme das Bundesamt für Migration bewilligen muss um kostenlos daran teilnehmen zu können.
Am schwierigsten ist die Situation, wenn das Bleiberecht nicht gesichert ist. Es gibt mehrere, denen nach Dublin II die „Rückschiebung“ meist nach Italien droht, da sie nach einer menschenunwürdigen Aufnahme dort weiter nach Deutschland geflohen sind. Sie setzten ihre dramatische Flucht fort, in der Hoffnung, hier in Deutschland in Würde leben und ihre Ängste /Traumata vergessen zu können. Inzwischen lernen diese Menschen motiviert unsere Sprache und zeigen viel Bereitschaft zur Integration.
Für Familien beginnt nach dem Umzug ins Übergangswohnheim dann die Suche nach Kindergarten- und Schulplätzen ihrer Kinder. Hier gibt es wiederum sehr unterschiedliche Erfahrungen: Je nach Kapazität ist die Wartezeit kurz oder auch länger. Vor allem in den Kindergärten gibt es kaum freie Plätze. Das Warten bedeutet für die Kinder Langeweile in kleinen und spärlich eingerichteten Zimmern, sie verlieren wertvolle Zeit zum Deutschlernen und für neue Kontakte. In der Region Mitte gab es z.B. für Grundschulkinder bis September 2013 mangels Nachfrage keinen Vorkurs. Es dauerte Monate, bis er eingerichtet wurde.
Besonders schwierig ist für Eltern das Verständnis des deutschen/bremischen Schulsystems. Viele Akademikereltern, deren Kinder in ihrem Heimatland das Abitur anstrebten, müssen hier feststellen, dass die schulische Ausbildung vor allem der älteren Kinder so hier nicht zu realisieren ist, da die Kinder hier nach dem Erlernen der deutschen Sprache lange Zeit brauchen werden, bis sie die Zulassung zum Studium bekommen werden.
Verwaltungsrechtliche Vorgänge sind in ihrer Logik und ihren ritualisierten Abläufen für Fremde weder verständlich noch nachvollziehbar. Das macht sich besonders bei schulischen Übergängen und Abschlüssen bemerkbar. Ohne Übersetzung wird hier weder Einsicht noch Vertrauen in unser Bildungssystem entstehen. Entscheidungen der Schulbehörde im Amtsdeutsch können trotz ausführlicher Erläuterungen nicht nachvollzogen werden. Wie erklärt man einer syrischen Familie, dass es nach der Informationsphase über Oberschulen/Gymnasien für ihre 10-jährigen Tochter fast zwei Monate dauert, bis die Entscheidung über die zukünftige Schule mitgeteilt wird? Und wie erklärt man ihnen, dass sowohl der Rebuz-Antrag auf Härtefall an einer Gesamtschule abgelehnt wird und gleichzeitig eine Ablehnung an allen drei gewünschten Schulen erfolgt? Wie soll man erklären, dass man "strategisch" wählen soll? Die Fülle der Informationen zum Schulwechsel ist für sprachunkundige nicht durchschaubar, auch sind Beratungen durch Klassenlehrer/innen und Schule so schnell nicht nachvollziehbar.
In Erzählungen von Flüchtlingskindern an einer Oberschule erfahre ich von der schwierigen Situation im Vorkurs. Durch ständigen Zuzug von neuen Schülerinnen / Schülern ist die Unterrichtssituation sehr schwierig: die neuen brauchen die ganze Aufmerksamkeit der Lehrerin, die Fortgeschrittenen bekommen „einen Zettel nach dem anderen“. Im Vorkurs entstehen erste Kontakte. Die Zeit in ihrer sog. Stammklasse nach dem Vorkurs wird abgesessen, die Kinder fühlen sich als Gast und deshalb nicht ernst genommen. Kontakte in der Klasse und außerhalb der Schule konnten diese Flüchtlingskinder noch nicht knüpfen.
Offensichtlich wird in der Schulbehörde der schwierigen Situation in den Vorkursen zu wenig Rechnung getragen.

Orientierungsprobleme

Ein weiteres Beispiel für die Probleme dieser Menschen ist die Orientierung im deutschen Gesundheitssystem. Unsere Zweiklassenmedizin erfordert genaue Kenntnisse des Abrechnungssystems von Leistungen in Arztpraxen und Krankenhäusern. Dass die Vorlage ihrer Versicherungskarte kein Freischein für ärztliche Leistungen ist, kann zu nicht übersehbaren Konsequenzen führen. Schlimmstenfalls ist das eine Privatrechnung, die selbst bezahlt werden muss.
Der nächste Schritt nach etwa 3-12 Monaten ist die Suche einer Wohnung. Das ist die nächste große Hürde, die ohne Begleitung kaum zu meistern ist. Mangelnde Sprachkenntnisse, sehr begrenzte Angebote am Stadtrand und die Vorgaben des Jobcenters für Wohnungsgröße und Miete lassen den Erfolg zum Lottogewinn werden, vor allem für Familien. Vermieter/innen nennen vor u.a. folgende Gründe für eine Ablehnung: schlechte Erfahrungen mit dem Jobcenter, keine Ausländer, Abschottung ("das passt nicht in diese Umgebung").
Eine Integration kann nur erfolgreich verlaufen, wenn von Anfang an sowohl eine kompetente als auch/bzw. zusätzlich eine ehrenamtliche Begleitung der Flüchtlinge erfolgt. Das heißt, die Menschen brauchen viel mehr Sozialarbeiter/Sozialpädagogen/innen, mit Kenntnissen z.B. der arabischen Sprache, die sie auf den ersten Wegen begleiten, beraten und in Krisen kompetent mit den Flüchtlingen eine angemessene psychosoziale Betreuung suchen.
Die Unterstützung der Flüchtlinge durch Ehrenamtliche ist im Rahmen der Freizeitgestaltung, beim Einkaufen und Arztbesuchen sicherlich sinnvoll. Die psychosoziale Begleitung, die Beratung bei Statusfragen (Bleiberecht, Asyl..) und bei Fragen des Lebensunterhaltes muss in den Händen professioneller Kräfte liegen. Diese Form der Begleitung müsste bremen- und bundesweit Anwendung finden.
Nur so können die Flüchtlinge Vertrauen finden in einer sehr fremden Kultur, können sich annähern, berufliche Pläne realisieren und unabhängig von ihrer Zukunftsperspektive ihren Platz in unserer Gesellschaft finden.