Zum Inhalt springen

Debatte

Die Gefahren des selektiven Schulsystems

Welche Perspektiven braucht die Grundschule?

Das Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) will mit seinen Empfehlungen die basalen Kompetenzen benachteiligter Kinder stärken und der Entwicklung zunehmender sozialer Ungleichheit im Kompetenzerwerb von benachteiligten und privilegierten Kindern entgegentreten. Sind die Vorschläge aber hilfreich? Die SWK, von der Kultusministerkonferenz (KMK) eingerichtet, hat dazu ihr Gutachten mit Empfehlungen an die Bildungspolitik öffentlich gemacht.

Der Anteil der Viertklässler:innen, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik laut IQB- Bildungstrend verfehlen, hat seit 2016 signifikant zugenommen und die Leistungsschere im Kompetenzerwerb von benachteiligten und privilegierten Kindern ist noch weiter aufgegangen. Das Gutachten fordert zur Umsetzung der Diagnose- und Förderkonzeption die „Bereitstellung von wissenschaftlich fundierten, qualitätsgesicherten diagnostischen Instrumenten und darauf bezogenen Förderinstrumenten“. Mit der neuen Ausgestaltung schulischer Lehr- und Lernprozesse vollzieht die SWK einen fragwürdigen Paradigmenwechsel auf Kosten der (Grundschul-)Pädagogik und zu Gunsten einer einseitigen Priorisierung von Methoden der quantitativen empirischen Forschung zur Leistungsmessung und -bewertung.

„Nein“ zu Abweichler in Kleingruppen

Um die frühzeitige Identifikation von Förderbedarf und die gezielte Unterstützung zur Sicherung basaler Kompetenzen für möglichst alle Kinder zu ermöglichen, empfiehlt das Gutachten gestufte Diagnose- und Fördermodelle und verweist in dem Zusammenhang auch auf das Modell „Response-to-Intervention“ (RTI).

Das Konzept vollzieht sich in der Grundschule auf drei Stufen. Auf Stufe 1 werden frühzeitig alle Kinder einer Klasse auf ihren Lernstand überprüft. Auf Stufe 2 werden Kinder, die von der angenommenen Norm abweichen, evidenzbasiert in Kleingruppen gefördert und die Wirkung dieser „Interventionen“ wird regelmäßig mit standardisierter Lernverlaufsdiagnostik überprüft. Respondiert das Kind nicht auf die Interventionen, hat es einen sonderpädagogischen Förderbedarf und erfährt auf Stufe 3 eine intensivierte sonderpädagogische Einzelförderung.

„Ja“ zu eingebetteter Förderung

Die Konzeption wird aus der Perspektive der Grundschul- und Inklusionspädagogik vehement abgelehnt. Nach Auffassung des Grundschulverbandes sollen anstelle standardisierter Tests als diagnostisches Instrument zur Ermittlung von Lernständen dialogische Formen durch den Einsatz von Selbsteinschätzungsbögen, Portfolios und Lerngespräche genutzt werden. Sie sind geeignet, die individuellen Kompetenzen des Kindes herauszufinden und die nächsten Schritte der Entwicklung zu fördern. Förderung muss sinnhaft für das Kind und in den Lernprozess der Klasse eingebettet sein.

Noten können beschämen

Das Gutachten der SWK verschweigt, dass das selektive Schulsystem vorhandene gesellschaftliche Ungleichheit und Armut reproduziert. Die Datenlage zeigt deutlich, dass spätere schulische Selektion die Chancengleichheit erhöht. Gleichzeitig geht spätere Selektion nicht mit einem geringeren Leistungsniveau einher. Dagegen steht immer noch das deutsche bildungspolitische Credo, dass in leistungshomogenen Gruppen bessere Lernerfolge für alle möglich sind und deshalb die Aufteilung nach Leistung möglichst früh erfolgen soll. Für die Leistungsselektion werden Notenzeugnisse mit vergleichenden Ziffernnoten ab Klasse 3 maßgeblich. Vergleichende Noten sind jedoch aus wissenschaftlicher Sicht völlig ungeeignet als Aussage über den individuellen Leistungsstand. Sie sind höchst unfair, weil sie die Hintergründe für die erbrachte Leistung nicht berücksichtigen und damit sozial benachteiligte Kinder gegenüber den privilegierten Kindern benachteiligen. Sie wirken demotivierend, beschämend und beschädigend. Sie führen zu Schulunlust und Selbstzweifel. Die SWK schweigt auch hier.