Zum Inhalt springen

Missbrauch

„Die Freiräume wurden Freiräume für Missbrauch“

Ein Interview mit dem Forscher und GEW-Kollegen Heiner Keupp über sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule

Über Jahrzehnte gab es sexuellen Missbrauch an Schüler*innen der Odenwaldschule (OSO). Insgesamt 33 namentlich genannte Lehrkräfte werden beschuldigt. Die Haupttäter waren Gerold Becker (1936-2010), Schulleiter von 1972-1985, und der Musiklehrer Wolfgang Held. Bei einer Stiftung haben sich bislang 140 Betroffene gemeldet. Betroffenenverbände gehen von deutlich höheren Zahlen aus.

Den 1999 in der Frankfurter Rundschau erhobenen Beschuldigungen wurde zunächst kaum nachgegangen. Erst 2010, nach der Aufdeckung des Missbrauchs am Canisiuskolleg, begann die ernsthafte Auseinandersetzung. 

Im Juli 2010 starb Becker an einem Lungenleiden. Im selben Jahr erschien die Aufarbeitungsstudie der Juristinnen Claudia Burgsmüller und Brigitte Tillmann. 2015 musste die Odenwaldschule Konkurs anmelden.

Mehrere Dokumentationen, darunter Christoph Röhls „Geschlossene Gesellschaft“, beschäftigen sich mit dem Missbrauch an der Odenwaldschule.

Heiner Keupp ist emiritierter Professor für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Mitautor der sehr lesenswerten Studie Die Odenwaldschule als Leuchtturm der Reformpädagogik und als Ort sexualisierter Gewalt. Eine sozialpsychologische Untersuchung (Springer 2019). Er ist Mitglied der Unabhängigen Aufarbeitungskommission beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung (UBSKM) und seit 50 Jahren Mitglied der GEW.

Eine Filmempfehlung: Die Auserwählten, Deutschland 2014, Regie: Christoph Röhl (www.ardmediathek.de)

Die Odenwaldschule (OSO) hat ja eine ganz besondere Geschichte.

Anfang des 20. Jahrhunderts entstand die OSO aus pädagogischen Reformbewegungen. Auch da gab es schon Hinweise, dass Grenzen nicht gut gewahrt wurden. Die Nazis haben die OSO geschlossen. Nach 1945 kamen viele zurück, die aus einer reformpädagogischen Tradition kamen, im Widerstand waren und die als Juden emigrieren mussten.

Es sollte eine demokratische Erziehung entstehen, die den Autoritarismus und den Untertanengeist überwinden sollte, der dem Faschismus zugearbeitet hatte. Es gab viele prominente Unterstützer*innen, z.B. Hellmut Becker, den Direktor des Max-Planck-Instituts. Daneben auch die „Protestantische Mafia“, also Georg Picht, Gräfin von Dönhoff, Hartmut von Hentig. Prominente Familien schickten ihre Kinder zur OSO (z.B. Richard von Weizsäcker, Walter Jens) Es war klar: Das ist eine der tollsten Schulen, die man sich vorstellen kann.

Was war denn das besondere an der OSO? Wie zeigte sich das auf praktischer Ebene?

Die OSO liegt in einer wunderschönen Gegend, verschiedene Häuser verteilt in einem von Wald umgebenen Gelände. In diesen Häusern gab es meist zwei sogenannte „Familien“. Dort lebten die Lehrkräfte, teilweise mit ihren eigenen Familien, und man hat ihnen dann dort eine meist altersheterogene Gruppe an Kindern zugeordnet. Das war ganz anders als in anderen Internaten zu der Zeit, wie z.B. im Kloster Ettal, wo bis zu 50 Jungs in einen Raum gesteckt wurden.

Es gab bei diesen „Familien“ der OSO eine Freiwilligkeit. Man konnte sich bewerben, oder die Leiter der Familien konnten sich Kinder aussuchen. Das klingt im ersten Moment sympathisch. Aber das Hauptproblem war: Es gab überhaupt kein familienpädagogisches Konzept. Kontrollmechanismen gab es nicht. Das hat man dem freien Spiel der reformpädagogischen Illusionen überlassen. Die Lehrkräfte wurden einfach damit konfrontiert. Da waren die Lehrer nach dem Unterricht auf einmal mit den gleichen Kindern in einer familienähnlichen Struktur. Dabei ist die Regulation von Nähe und Distanz ein ganz besonderes, aber ein total vernachlässigtes Thema. 

Das ist auch die Hauptkritik. Man hätte von Anfang an genauer überlegen sollen: Wie kann man Schule und familienähnliche Struktur sinnvoll miteinander verbinden? Welche Grenzziehungen braucht man? Und wie kann man die Lehrkräfte bilden, die eine Aufgabe übernehmen, auf die sie im Studium überhaupt nicht vorbereitet wurden?

Wie entstand das Milieu, in dem der vielfache Missbrauch geschah?

Irgendwann kam ein evangelischer Theologe, der in Göttingen in Pädagogik hatte promovieren wollen  – Gerold Becker. Ab 1972 war er Schulleiter der OSO. Es hatte dort curriculare und didaktische Entwicklungen gegeben, auch einen klaren Regelkanon, mit dem Ziel, demokratische Erziehung zu entwickeln. Das war damals sehr fortschrittlich. Becker hat das als „überreguliert“ bezeichnet, als bürokratisch, zu wenig von vitaler Kraft ausgezeichnet.  

Becker kam mit dem Schwung von 1968 und instrumentalisierte ihn. Er galt als jemand mit neuen Ideen, der den alten, verklemmten Umgang mit Sexualität nicht mehr mitmacht. Das würde ich auch uneingeschränkt verteidigen – aber nur, wenn man zugleich darauf sieht, an welchen Stellen diese Öffnung Missbrauchskanäle geöffnet hat. Das kann man ja auch an Kentler sehen.

Becker jedenfalls hat viele Schüler*innen begeistert mit dem Argument, wir müssen uns kein starres Regelsystem aufzwingen, wir kriegen das diskursiv und gemeinsam hin.

Das Argument, wir wollen die Schule öffnen und Richtung einer freien Schule gestalten, hat die Zugangswege für pädophile Täter erheblich erleichtert. Ob das der Hauptgrund war, warum Becker diese Linie vertrat, ist gar nicht wichtig. Es ist Tatsache, dass diese Freiräume auch Freiräume für Missbrauch wurden. 

Was können Sie über die Art des Missbrauchs sagen?

Es geht nicht um Einzelfälle. Es gab neben einigen übergriffigen Lehrpersonen zwei Haupttäter, neben Becker den Musiklehrer Held. Der hat im Unterricht eine Schallplatte aufgelegt und er ist mit einem Jungen dann abgehauen. Er hat fast jeden Mittag einen Schüler zu sich ins Haus mitgenommen und in aller Regel ist das nicht nur ein gemeinsames Musikhören gewesen. Von Becker wird gesagt, dass er schon morgens gerne mit Schülern geduscht hat, sie eingeladen hat, mit ihnen Alkohol konsumiert hat. Er hatte einen großen Vorrat von Alkohol in seinem Büro. Manche durften sich uneingeschränkt bedienen und es war so, dass er sie im Gegenzug immer wieder missbraucht hat, teilweise hundertfach.

Da ist viel Sexualität gelaufen – angeblich einvernehmlich, mit Schülern ab 12 Jahren. Der Mythos der Einvernehmlichkeit ist ein ganz großer. Da sind dramatische Dinge gelaufen. Es gab wahnsinnig viele Übergriffe dieser Art, die nie zur Anzeige kamen.
Von den beiden Juristinnen, die die erste Studie gemacht haben, werden auch noch andere Täter benannt.

Wie konnten die Täter so lange ungehindert handeln?

Als Becker kam, gingen ein paar Kolleg*innen, die in Opposition zu seiner Linie standen. Das war aber nicht medienwirksam. Andere waren abhängig, weil sie z.B. Opfer der Berufsverbote waren. Die waren dankbar, an der OSO zu arbeiten, weil sie so viele Ausgrenzungsprozesse im staatlichen System erlebt hatten. Das hat natürlich Loyalität gegenüber Becker geschaffen. Wenn sie Beobachtungen nach außen getragen hätten, hätten sie ihren Job verloren.

Manche Lehrkräfte sagen, bei dem Musiklehrer hatten sie ein komisches Gefühl. Aber sie sind dem nicht weitergegangen. Wenn sie zu Becker gegangen sind, hat der beschwichtigt, weil er ja selber in dem Glashaus mittendrin saß. Und er war einfach eine herausragende Figur der Reformpädagogik. Die Medien haben die narzisstische Selbstverliebtheit um diese Szene ja auch mitgetragen. Die ZEIT-Herausgeberin ist Hinweisen nicht nachgegangen. Andere haben ihm einen Persilschein ausgestellt, selbst, nachdem viele Vorwürfe schon öffentlich waren.

Wenn Täterfiguren in den Medien vorgestellt werden, entsteht das Bild, das sind Sadisten. Das gibt es auch, natürlich. Aber das sind auch oft Leute, die andere für sich begeistern können, Verständnis zeigen, einen Zugang finden, z.B. wenn Kinder und Jugendliche sich einsam und verlassen fühlen. Und wer will da einen beliebten Lehrer an die Wand nageln?  

Es hat auch klares Versagen des Staates gegeben. Es gab viele Kinder und Jugendliche, die waren über das Jugendamt da. Dieses musste oft die Berichte anmahnen. Die hat Becker dann mit einer großartigen Verschleierungssprache hingekriegt, so dass nicht die Institution mit einem kritischen Blick beleuchtet wurde, sondern dass man auf die Pathologie der Kinder, die Schwierigkeiten ihrer Herkünfte zurückführte. Was in den Akten steht, haben Betroffene als unsägliche Degradierung ihrer Persönlichkeit bezeichnet. Das Jugendamt hat immer mehr Kinder dorthin geschickt.

Was bedeutet das für die Reformpädagogik?

Die OSO war nicht mehr zu retten. Die Schule in dieser Form musste beerdigt werden. Das haben auch die Leute der Betroffeneninitiative Glasbrechen gefordert.

Die Abwicklung der OSO hat viele, die ohnehin skeptisch waren, bestärkt. Ich bin nicht der Meinung, dass die Reformpädagogik sich mit der OSO selber das Grab geschaufelt hat. Es muss genauer analysiert werden: Woran ist diese Schule gescheitert? Hat sie das Potenzial der Reformpädagogik mit in die Grube verfrachtet? Der wirklich große Flurschaden besteht darin, wenn alle reformpädagogischen Initiativen in Verdacht geraten. Wir brauchen weiterhin gute reformpädagogische Versuche aller möglichen Art.

Welche Änderungen brauchen wir an Schulen?

Die Untersuchungskommission hat ja jetzt eine Kampagne gestartet, mit Schulen als Schutzort, wo Schutzkonzepte entwickelt werden. 

Da macht Bremen auch mit. Jede Schule muss ein Schutzkonzept entwickeln.

Das ist ein wichtiger Schritt. Und dann geht es auch darum, Schulen als Tatort in den Blick zunehmen, diese zu analysieren, wie wir das mit der OSO gemacht haben. In der Aufarbeitungskommission sammeln wir gerade dazu Geschichten. Wer sexualisierte Gewalt in der Schule erlebt hat, kann sich melden und seine Erfahrung dokumentieren. Auch Zeitzeug*innen können das.

Dabei soll ja auch die Rolle der GEW erforscht werden.

Die GEW ist in der Zeit ganz groß geworden, als auch Becker Schulleiter an der OSO wurde. Wie alle anderen Organisationen aus der Zeit, hat die GEW noch Aufarbeitung vor sich. Sie hat jetzt damit angefangen. Frau Tepe hat schon mit Mitgliedern der Aufarbeitungskommission beim UBSKM gesprochen. Sie ist sehr bereit, sich diesem Thema zu widmen. Zwei Wissenschaftlerinnen, Professorin Edith Glaser und Friederike Thole, die auch beide GEW-Mitglieder sind, beschäftigen sich damit. Da steht noch historische Rekonstruktion und Reflexionsarbeit an: Was haben wir getan – nicht nur um unsere revolutionären Wünsche zu erfüllen, sondern auch dabei nicht zu vernachlässigen, dass es um Kinder geht, die nicht alle unbedingt auf einen guten Weg gebracht werden.